Efeu - Die Kulturrundschau

In einen finsteren Kanal hinein

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05.07.2022. Der Standard kann auf der Gmunden Photo nachverfolgen, wie die russische Aggression seit 2014 das zivile Leben der Ukraine zerstört. Die taz meldet, dass Kirill Serebrennikows Gogol-Center jetzt  wieder Gogol-Theater heißt und auf Linie gebracht wurde. Die SZ rechnet vor, was eine Mindestgage für Solobeschäftigte für die Theater bedeutet. Die NZZ besucht das neue Oscar-Museum in Los Angeles. Außerdem huldigt die taz den Ikonen der Tropicália, Gilberto Gil und Gal Costa.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Maksym Mazur. Gmunden Photo

Bewegt schaut Stefan Weiss im Standard auf der Gmunden Photo auf die Arbeiten vor allem von jenen FotografInnen, die die russische Aggression in der Ukraine seit 2014 dokumentieren: "Es sind eindringliche Bilder von Schützengräben, von zerstörter ziviler Infrastruktur, von verzweifelten Menschen auf der Flucht, im Bunker oder Krankenhaus. Videoinstallationen in Form einfacher Handyvideos dokumentieren zudem den zwischenmenschlichen Konflikt auf der Mikroebene: Lynchjustiz auf den Straßen oder eine Gruppe junger Russen in Riga, die zu Silvester die Hymne der Sowjetunion in Endlosschleife hören. Die Fotografien aus Österreich kommunizieren auf symbolischer Ebene mit dem Thema: Auf einem Bild von Hans Schabus etwa ist ein Segler zu sehen, der mit seinem Boot in einen finsteren Kanal hinein ins Ungewisse steuert. Auch das ist ein Sinnbild zur Situation."

Der Weibo-Account des chinesischen Künstlers Aaijao wurde gelöscht, nachdem er Xi Jinping einen "selbstsüchtigen König" genannt hatte. "Es war eine Art Mord. Ermordet von Weibo, aber eben auch von der chinesischen Regierung", sagt er im Welt-Gespräch mit Mirna Funk: "Hätte ich in Shanghai gelebt, hätte mich außerdem die Polizei angerufen. Das ist da ganz normal. Jeder ist erreichbar. So wurde die gesamte Gesellschaft während der Pandemie organisiert. War man zur falschen Uhrzeit draußen oder zu viele Kilometer vom Wohnhaus entfernt, bekam man sofort ein Anruf oder eine Nachricht aufs eigene Handy. Abgesehen davon verlieren viele ihre Weibo-Konten."

Außerdem: In der FR bewundert Ingeborg Ruthe den frisch restaurierten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar. Schlicht "virtuos" findet Stefan Trinks in der FAZ den von dem Leipziger Maler Michael Triegel vollendeten neuen Naumburger Domhochaltar. Ebenfalls in der FAZ schreibt Patrick Bahners zum Tod des im Alter von 94 Jahren verstorbenen Museumsdirektors Gerhard Bott.

Besprochen wird die Ausstellung "Stühle: Dieckmann! Der vergessene Bauhäusler Erich Dieckmann" im Berliner Kunstgewerbemuseum (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Die Mindestgage für Solobeschäftigte an deutschen Theatern soll bis Anfang nächsten Jahres auf 2715 Euro steigen, meldet Michael Stallknecht in der SZ - bei den Theaterleitungen stößt das allerdings auf wenig Gegenliebe, vor allem nach zwei Jahren Corona, wie Stallknecht in Gesprächen erfährt: Jens Neundorff von Enzberg, Intendant am Staatstheater Meiningen und am Landestheater Eisenach befürchtet etwa: "Sollten die Subventionen nicht ebenfalls deutlich erhöht werden, hätten die Theaterleitungen nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen. Sie müssen entweder ihre in den vergangenen Jahrzehnten schon geschrumpften Ensembles weiter verkleinern und weniger Vorstellungen anbieten. Oder ihre Ensemblemitglieder regelmäßig nach wenigen Jahren wieder entlassen, um Anfänger zur billigeren neuen Mindestgage einzustellen. 'Man wird möglicherweise vakante Stellen nicht nachbesetzen', sagt auch Claudia Schmitz vom Deutschen Bühnenverein, 'und stattdessen versuchen, mit Gästen zu arbeiten'. Sprich mit Freischaffenden, die pro Engagement bezahlt werden und für die die Mindesthonorare nach der neuen Vereinbarung auch leicht steigen sollen."

Außerdem: Kirill Serebrennikovs Moskauer Theater "Gogol-Center" soll auf behördliche Anordnung wieder "Gogol-Theater" heißen, und mit Anton Jakowlew hat das Haus jetzt einen kremltreuen Intendanten, meldet Katja Kollmann in der taz: "Kirill Serebrennikov kommentiert das auf seinem Telegram-Kanal: 'Man schließt ein lebendiges Theater. Ein Theater, das für die Menschen da ist. Man schließt das Theater, weil es sich seine Aufrichtigkeit bewahrt hat. Das ist Mord. Ordinärer Mord.'" Im Standard-Gespräch mit Margarete Affenzeller erklärt Ex-Burgtheaterchefin Karin Bergmann, wie sie die Salzkammergut Festwochen neu ausrichtet. Weitere Nachrufe auf den britischen Theaterregisseurs Peter Brook im Guardian und in der nachtkritik.

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Dmitri Schostakowitschs Oper "Die Nase" an der Dresdner Semperoper (SZ), das Münchner Theaterfestival "Radikal jung" (FR), das Rossini-Gastspiel "Il turco in Italia" der Opéra de Monte-Carlo an der Wiener Staatsoper mit Cecilia Bartoli in der Hauptrolle (Standard), "The Bitter Fields" von Les Dramaturx bei Osten-Festival am Theater Magdeburg (nachtkritik), eine "Macbeth"-Inszenierung des ukrainischen Regisseurs Andriy Zholdak am Theater Freiburg (FAZ) und das Festival Montpellier Danse (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

In der taz empfiehlt Ole Schulz die Konzertreihe im Berliner Haus der Kulturen mit den Größen der brasilianischen Tropicália, Gilberto Gil und Gal Costa, die mit ihrer Musik Geschichte schrieben: "Die jungen Ikonoklasten stammten überwiegend aus Salvador de Bahia und fusionierten die reiche afrobrasilianische und indigene Folklore Brasiliens furchtlos mit verzerrten E-Gitarren und wabernden Farfisa-Orgeln. Dieser Einfluss aus den imperialistischen USA gefiel übrigens einem Teil der brasilianischen Linken überhaupt nicht, worüber sich vor allem Caetano Veloso heftige Auseinandersetzungen lieferte. Gal Costa hat mit ihrer umwerfenden, transparenten Stimme viele der lyrischen Songs aus der Feder Caetanos bekannt gemacht. Auch die Sängerin mit der mächtigen dunklen Lockenmähne kommt aus Salvador de Bahia." Hier Gal Costas "Mamãe, coragem":



Weiteres: Im Tagesspiegel hat der Musiker Yuriy Gurzhy die Nase voll vom Fusion-Festival, das der Ukraine zu Verhandlungen statt Kriegführung rät. Auf ZeitOnline würdigt Henrik Oerding das "Wohltemperierte Klavier", dass Johann Sebastian Bach vor dreihundert Jahren komponierte. Besprochen werden Konzerte von Björk und Nick Cave beim Montreux Jazzfestival (NZZ), Album "Bella Utopia" der Hamburger Musikerin Frau Kraushaar (taz), die darin die kapitalistische Verfasstheit des Einzelnen erkundet. das Elektrofolk-Album "Blood Moon" von Ry X (FR), die Berliner Jazzwoche (Tsp), das Internationale Festival für Geistliche Musik in Nürnberg (FAZ).
Archiv: Musik

Film

Für die NZZ besucht Marion Löhndorf das neue Filmmuseum in Los Angeles, das sich mit einem Prestigebau von Renzo Piano in die Museumsmeile der Stadt einreiht und dabei möglichst politisch korrekt erscheinen möchte: "Die eigene Vergangenheit wird gefeiert, aber nicht kritiklos. Zwei Räume präsentieren die Oscars: In einem davon werden die spektakulärsten Momente der Zeremonien in Videoclips gezeigt. Darunter die Academy-Award-Verweigerung von Marlon Brando, der 1973 an seiner statt eine apachische Schauspielerin in traditioneller Stammeskleidung aufs Podium schickte. In einem spektakulären Auftritt übermittelte sie dem Publikum Brandos Protestbotschaft gegen den Umgang mit der indigenen Bevölkerung durch die amerikanische Filmindustrie."

Besprochen werden die Filmbetriebsklamotte "Der beste Film aller Zeiten" mit Penélope Cruz und Antonio Banderas (den Philipp Stadelmeier in der SZ als gewichtslos, pappig und falsch" abtut) und das Programm des Filmfest München (Filmdienst).
Archiv: Film

Literatur

In der SZ betont Lothar Müller, dass Martin Walser mit Bedacht seinen Vorlass ans Literaturarchiv Marbach gegeben haben muss: "Was daraus folgt, hat er nicht in der Hand." In der FAZ schreibt dazu Hubert Spiegel. Im Interview mit Africa is a Country spricht Lizzy Attree über den von ihr mitbegründeten Kiswahili Prize, der einer Marginalisierung der afrikanischen Sprachen entgegenwirken und dem Aufbau eines "entkolonialisierten" Verlagswesen helfenmöchte.

Besprochen werden Mirna Funks Plädoyer "Who Cares! Von der Freiheit, Frau zu sein" (SZ), Nicole Krauss' Erzählungen "Ein Mann sein" (NZZ) und Katharina Hackers Roman "Die Gäste" (BlZ).
Archiv: Literatur