Efeu - Die Kulturrundschau

Damit die Sieger zu siegen aufhören

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28.06.2023. Die Filmkritiker sind beeindruckt, wie elegant Establiz Urresola Solagurens Film "20.000 Bienen" das Thema Transsexualität verhandelt. Kein Mensch wie du und ich: Der Komponist Carl Nielsen wird völlig zu Recht ohne aktuellen Anlass in Dänemark gefeiert, freut sich die FAZ. Hyperallergic betrachtet Kunst von Strafgefangenen. Die SZ guckt Kriegspropagandafilme und tanzt nach vorn mit Brett Deans Oper "Hamlet".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.06.2023 finden Sie hier

Film

Sieht geduldig hin: "20.000 Arten von Bienen" von Estibalz Urresola Solaguren

Die Filmkritik ist hingerissen von Estibaliz Urresola Solagurens spanisch-baskischem "20.000 Arten von Bienen", in dem ein achtjähriger Junge seine Trans-Identität entdeckt. Die junge Sofía Otero bekam für diese Darstellung im Februar den Silbernen Bären der Berlinale als beste Schauspielerin. In dem Film "geht es gleich auf mehreren Ebenen um Verwandlungen und Offenbarungen diesseits und jenseits von Grenzen, und es geht ums Geraderücken des Verdrehten und Falschen", schreibt Cosima Lutz in der Welt. "Elegant öffnet der Film das Thema Transsexualität damit hin zu universellen Erfahrungen" und das "ohne die fragile Leichtigkeit eines Kindheitssommers mit Bedeutungen zu überfrachten. Alles strömt in großer Selbstverständlichkeit ineinander." Auch Marian Wilhelm freut sich im Standard über diese gelassene Selbsverständlichkeit, mit der der Film sein Thema anpackt. Der Silberne Bär für Otero müsste eigentlich ein Regiepreis sein, findet Andreas Kilb in der FAZ: "Wer genau hinschaut, sieht das Wunder an Geduld und Aufmerksamkeit, das in den Bildern steckt, die kleinen Momente von Wahrheit, die sich zu einem großen Mosaik ergänzen. Estibaliz Urresola Solaguren hat das geduldige Hinsehen als Dokumentarfilmerin gelernt. In ihrem Spielfilmdebüt stellt sie es in den Dienst der Fiktion." Im Perlentaucher hatte Thierry Chervel den Film bei seiner Berlinale-Aufführung besprochen.

Susan Vahabzadeh schaut für die SZ die im Netz kursierenden Kriegs-Propagandafilme, hinter denen vermutlich Jewgenij Prigoschin und dessen Wagner-Gruppe stecken, darunter etwa "The Best in Hell". Der Film "sieht, mit seinen Explosionen und rasanten Kamerafahrten, aus wie eine professionelle Großproduktion aus Hollywood - ein moderner Kriegsfilm im Stil des Irakkriegsdramas 'The Outpost', bloß mit mehr Satellitenbildern und weniger Handlung. Was hier ganz bestimmt nicht im Mittelpunkt steht: die Menschen, die man sieht. Frühere Produktionen aus der Reihe muten eher an wie Actionfilme aus den Achtzigern. ... Meistens geht es so: Panzer mäht Baum um, Granate zerstört Hauswand, Verletzter mit halb explodiertem Gesicht torkelt aus Gebüsch, dazu Dialoge vom Feinsten: '7896!' - 'Korrigiere: 7895!' -'Feuer!'"

Außerdem: Susanne Gottlieb porträtiert im Standard die Schauspielerin Phoebe Waller-Bridge, die im neuen (in taz und Standard besprochenen) "Indiana Jones"-Abenteuer an der Seite von Harrison Ford zu sehen ist (mehr zum neuen Indy-Film bereits hier). Vom Pumuckl gibt es neue Folgen, meldet Max Sprick in der NZZ, wobei die charakteristische Stimme von Hans Clarin mittels K.I. über die Stimme des Kabarettisten Maximilian Schafroth gelegt wird. Maria Wiesner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schauspieler Julian Sands. Besprochen werden Lars Kraumes romantische Komödie "Die Unschärferelation der Liebe" (Standard).
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Literatur

Perlentaucherin Marie Luise Knott ist sehr beeindruckt von der bei uns praktisch noch unbekannten koreanischen Dichterin Kim Hyesoon, die beim Internationalen Poesiefestival in Berlin aufgetreten ist und tief aus den Eindrücken unter der koreanischen Yushin-Diktatur in den Siebzigern schöpft. "Es geht in ihrer Dichtung nicht um kunstvolles Verseschmieden, nicht um die dichterische Auseinandersetzung mit eigener Erfahrung. Ihre Dichtung existiert aus dem Wissen heraus, dass den Ohnmächtigen die Sprache versiegt. Und so stellt sie in ihrer Poesie der versiegenden und versiegten Sprache einen Raum bereit. Sie stellt ihren Körper zur Verfügung, hört zu, hört hin, hört, was ohne sie nicht zu hören wäre. Mit ihren Versen bewohnt und begeistert sie gewissermaßen die Räume der Besiegten. Damit die Sieger zu siegen aufhören. 'Motherless mother tongue' lautete der Titel ihrer Berliner Rede, 'die mutterlose Muttersprache'. Kim Hyesoon folgt keinem Kanon, weder einem traditionell koreanischen noch einem westlichen; und sie kontert nichts. Folgt ganz der eigenen Spur. Freiheitlich, weiblich und ökologisch." Auch Beate Tröger vom Freitag war von Kim Hyesoon sehr beeindruckt - unser Resümee.

Weitere Artikel: Gerrit Bartels stimmt im Tagesspiegel auf den Bachmann-Lesewettbewerb in Klagenfurt ein. Der Standard erkundigt sich bei früheren Bachmann-Teilnehmern nach deren Erfahrungen. Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Clemens Meyers "Über Christa Wolf" (Tell), Ali Smiths "Gefährten" (FR), Leonardo Paduras "Wie Staub im Wind" (NZZ), Erin Flanagans "Dunkelzeit" (FR), José-Louis Bocquets, Jean-Luc Fromentals und Antoine Aubins Comicthriller "Acht Stunden in Berlin" aus der "Blake & Mortimer"-Reihe (Tsp), Andra Schwarz' Gedichtband "Tulpa" (FAZ) und Joachim Sartorius' "Die Versuchung von Syrakus" (SZ).
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Kunst

Jesse Krimes, "Marion" (2021), antiker Quilt, gebrauchte Kleidung, die von inhaftierten Personen gesammelt wurde, verschiedene Textilien. Foto: Sebastian Bach (Ausschnitt).

Hyperallergic-Kritiker Seph Rodney kommt sehr nachdenklich aus der Ausstellung "No Justice without Love" der Ford Foundation in New York. Hier zeigt die Stiftung "Artists for Justice" Werke, die die Situation von Strafgefangenen thematisiert. Die Ausstellung verlangt ihren Besuchern mehr ab als andere, findet Rodney: "Eines der provokantesten Werke ist für mich 'The Writing on the Wall', das die gesamte Rückwand bedeckt und aus Essays, Gedichten, Briefen, Geschichten, Diagrammen und Notizen besteht, die von Menschen in Gefängnissen auf der ganzen Welt geschrieben wurden. Das Werk, eine Zusammenarbeit zwischen Dr. Baz Dreisinger, dem Künstler Hank Willis Thomas und mehreren Design- und Produktionspartnern, wurde vor Jahren in der High Line installiert und nahm dort die Form einer Gefängniszelle an, die von innen und außen mit dem Text bedeckt war. Hier hat sie sich in einen Text verwandelt, der sich fast ins Unendliche fortsetzt und etwas über die Reichweite der Inhaftierung aussagt. Daneben befindet sich eine Call-and-Response-Wand, die von der Kuratorin initiiert wurde, um zu zeigen, wie sie die Organisation dieser Ausstellung in Gang gesetzt hat. Diese Wand, zu der auch ein digitales Online-Repository gehört, begann damit, dass Desrosiers Künstler und Inhaftierte ansprach und sie aufforderte, ihre Geschichten zu erzählen und andere mitzubringen."

Weiteres: Jens Uthoff berichtet in der taz über zwei Ausstellungen afghanischer und iranischer Künstlerinnen im Offenen Atelier in Hamburg und Online (Hope in darkness). Welt-Kritiker Jan Grossarth hat sich im Archiv des Historischen Museum Frankfurt umgeschaut, in dem über 300 Objekte lagern, die von der Corona-Pandemie zeugen. Andreas Platthaus streift für die FAZ durch die Große Galerie des Louvre und bewundert sechzig berühmte Gemälde, die aus dem neapolitanischen Museo de Capodimonte entliehen wurden. Besprochen wird die Ausstellung "Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann" in der Alten Nationalgalerie Berlin (monopol).
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Bühne

Szene aus Brett Deans "Hamlet" in München. Foto: W. Hösl


Nicht gerade einen Abend mit neuester neuer Musik erlebte SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck bei der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele mit Brett Deans "Hamlet", aber doch immerhin gut unterhaltendes professionelles Musiktheater: Dean "schreibt einen vielstimmig gewobenen Minimalismus, gern rhythmisch treibend, oft furios. Dazwischen streut er fein gearbeitete Ensembles ein, sein Vokalstil ist unangestrengt nüchtern. Diese Musik ist lebendig, sie kann harsch und wild auffahrend sein und sich im Brodeln und Kratzen verlieren. Immer strahlt sie, immer tanzt sie nach vorn, immer lockt sie den Hörer, die Vorbilder Igor Strawinsky und Benjamin Britten sind virtuos weiterentwickelt. Deans Musik leuchtet beständig Matthew Jocelyns sich nah an William Shakespeares Drama haltende Libretto aus, gibt Stimmung, Tempo und Färbung der einzelnen Szenen unverwechselbar vor und stellt sich den Sängern nie in den Weg. Giuseppe Verdi hätte das ganz genauso gemacht." In der nmz ist Wolf-Dieter Peter dieser Hamlet "zu monochrom" und vor allem: zu lang.

Weiteres: In der SZ ist Till Briegleb etwas enttäuscht von den ersten vier Tagen des Festivals "Theaterformen" in Hannover. Die Veranstaltung legt hohen Wert auf Barrierefreiheit und stellt die persönlichen Erfahrungen von Menschen in den Mittelpunkt, die Ausgrenzung erleben, so Briegleb. Die allzu simplen und belehrenden Botschaften lassen das aber zum "Missionstheater" werden, der künstlerische Anspruch kommt hier zu kurz, bedauert der Kritiker. In einem weiteren Artikel berichtet Briegleb über die neue Vorsitzende des Hamburger Ohnsorg-Theaters Sandra Keck, die nach Modernisierungsversuchen der vorherigen Intendanz zum "konservativem Unterhaltungstheater" auf Plattdeutsch zurückgekehrt ist. Besprochen wird Stas Zhyrkovs Inszenierung von "Tell. Eine ukrainische Geschichte" im Rahmen der Mannheimer Schillertage (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

In der FAZ freut sich Jan Brachmann über den Enthusiasmus, mit dem die Dänen derzeit ganz anlasslos den Komponisten Carl Nielsen feiern: Konzerte, neue Aufnahmen, eine neue Monografie und das Nielsen-Museum in Odense wurde auch neu gestaltes. Es "verfolgt ein mutiges Konzept, das quer zum Zeitgeist steht. Es will keine Zugänge zum Werk schaffen, indem es uns den Komponisten biografisch-anekdotisch verniedlicht und zu einem 'Menschen wie du und ich' macht. Es geht umgekehrt vor und erschließt den Menschen durch die Erfahrung des Werks. Das Hören steht am Anfang und im Zentrum. Im ersten Raum fügen sich Bilder und Geräusche zu Soundscapes. Man hört Menschen, Plätze, Uhren, Tiere auf Fünen und in Kopenhagen und gelangt dabei zur ersten Symphonie, von der es in einer Kritik hieß, das sei 'ein Junge, der mit Dynamit spielt', weil sie in g-Moll steht, aber kühn mit einem C-Dur-Akkord anfängt."

Außerdem: Für Frankfurter Allgemeine Quarterly porträtiert Thomas Lindemann fünf junge Musikerinnen an der Schwelle zum Durchbruch. Frederik Hanssen lobt im Tagesspiegel die Vorzüge eines Orchester-Abos. Tina Huber staunt im Tages-Anzeiger darüber, dass Kylie Minogue mit ihrem Sommerhit "Padam Padam" nicht nur ein beachtliches Comeback geglückt ist, sondern dass auch insbesondere die Generation TikTok den Song feiert.



Besprochen werden ein Konzert von Anne-Sophie Mutter in Wien (Standard)  und das neue Album von Queens of the Stone Age (Tsp).
Archiv: Musik