Efeu - Die Kulturrundschau

Rot, Gelb und Blau

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23.09.2023. Die NZZ erkennt im Kimono das Kleidungsstück für fluide Identitäten. Der Tagesspiegel erinnert sich mit Hou Hsiao-Hsiens "Millennium Mambo" an die artifizielle, betörende Schönheit des Kinos der nuller Jahre. In der FAZ feiert der Schriftsteller Matthias Jügler die Geburtsstunde einer neuen Generation von Autoren mit Ost-Sozialisierung. Und der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker hält fest: Nicht Bertolt Brecht hat die Theorie des epischen Dramas erfunden, sondern Alfons Paquet. Bei Simon Rattle swingt sogar Haydn, freut sich die SZ über Rattles fulminantes Auftaktkonzert als neuer Chef des BR-Symphonieorchesters.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2023 finden Sie hier

Design

Die Halbjahreskollektion für eine wohlhabende Frau konnte bis zu einer halben Million Franken kosten. Übermantel für eine Frau (uchikake), vermutlich Kyoto, 1860-1880 © Victoria and Albert Museum, London


Wer sich für die Geschichte des Kimonos interessiert: auf nach Zürich, ins Museum Rietberg. NZZ-Kritiker Philipp Meier steht staunend vor fantastischen, leuchtend bunt bestickten Gewändern und lernt, dass die Ornamentik streng reglementiert war - je nachdem, welchem Stand man angehörte. Heute ist der Kimono eigentlich so modern wie nie, denkt sich der Kritiker: "Denn wenn es ein Kleidungsstück gibt, das im Grunde kein Geschlecht kennt, dann ist es der japanische Kimono. Für Männer wie für Frauen exakt gleich geschnitten, ist er aus einfachen Stoffbahnen zusammengenäht - so breit, oder besser: so schmal, wie es der Webstuhl vorsieht. An der Taille wird der Stoff von einem breiten Gürtel - dem 'obi' - zusammengehalten. Ein denkbar simples Gewand, geradlinig und flach wie ein Brett. Der Akzent liegt auf der Oberfläche des Tuchs. Farbe und Muster lassen den Körper irrelevant werden. Nichts betont da einen männlichen Torso. Geschweige denn weibliche Kurven: Taille, Busen verschwinden darunter. Ein Kimono unterbindet körperliche Merkmale in dem Maße, wie diese im Okzident insbesondere im Fall weiblicher Kostüme mithilfe von einschnürenden Korsetts hervorgehoben wurden. Der Kimono ist heute prädestiniert, zum Kleid fluider Identitäten zu werden."

Ebenfalls in der NZZ porträtiert Silke Wichert die Modedesignerin Phoebe Philo, die, nachdem sie die Marke Céline zu Ruhm und Ehren katapultiert hatte, bei den Septemberschauen ihr eigenes Modelabel (unter dem Dach von LVMH allerdings) vorstellen soll. Die Erwartungen sind riesig, denn was Philo bei Céline schuf, "war nicht weniger als eine Offenbarung", erklärt Wichert, "minimalistische Entwürfe, aber mit messerscharfen Schnitten und - das liebten die Frauen so an ihren Designs - kleinen, aber immer smarten Details." Selbst die Handtaschen waren "architektonisch anspruchsvolle Behältnisse - für Frauen, die ihr eigenes Geld verdienten und deshalb tatsächlich mal Unterlagen, Notizbücher oder dergleichen verstauen mussten. Philo war eine von ihnen. Eine schlaue, berufstätige Frau mit Kindern, die Wert auf gute, anziehende Kleidung legte, aber nichts mit nach Aufmerksamkeit heischender Mode anfangen konnte. Wenn in diesen Tagen ständig von Quiet Luxury die Rede ist - darauf hat Céline beziehungsweise Phoebe Philo quasi das Copyright."
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Film

Orientierungslos, aber betörend schön: "Millennium Mambo" von Hou Hsiao-Hsien

Hou Hsiao-Hsiens "Millennium Mambo" aus dem Jahr 2001 kommt wieder in die deutschen Kinos und bietet somit eine interessante Wiederbegegnung mit dem asiatischen Arthausfilm der Jahrtausendwende, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Der Film schöpft auch daraus, wie "die Twentysomethings sich ziemlich verloren fühlten in der neuen Zeit", schließlich "ignoriert der taiwanesische Meisterregisseur elegant alle zeitlichen Zusammenhänge, seine Geschichte gleitet fast wie im Halbschlaf durch die Jahre. ...  Eine diffuse Orientierungslosigkeit hat nicht nur seine verschachtelte Erzählung, sondern auch seine Figuren befallen." Doch "rückblickend spricht aus den Bildern weniger ein 'Millenniumsgefühl' als vielmehr eine Idee davon, was man sich um die Jahrtausendwende unter state of the art Erzählkino vorstellte. Die affizierte Leere und emotionale Verwahrlosung, grundiert von Motiven des Genrekinos, besitzen eine betörende Schönheit: von den durchfeierten Nächten in Taipeh, unterlegt mit einer beständig pluckernden Musik-Collage, bis ins winterliche Japan, wo Vicky im Schnee einen Abdruck ihres Gesichts hinterlässt."

Besprochen werden Jørgen Leths und Andreas Koefoeds Dokumentarfilm "Music for Black Pigeons" über den Jazzmuzsiker Jakob Bro (taz, mehr dazu bereits hier), Jan Stocklassas auf Sky gezeigter Dokumentarfilm "Der Mann, der mit dem Feuer spielte" über Stieg Larssons Recherchen zum Mord an Olof Palme (FAZ) und die neue Staffel der Serie "Sex Education" (Tsp, ZeitOnline, NZZ).
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Kunst

Tobias-Rehberger, "Through the back side of my eyes" im GL Strand. Foto: David Stjernholm


Nicole Büsing und Heiko Klaas haben für den Tagesspiegel im GL Strand in Kopenhagen eine Ausstellung von Tobias Rehbergers eigenen Sammlungen besucht. Dazu gehören Kunst, Möbel, Kochbücher, Teekannen oder naturgetreue Pilzmodelle. Über allem steht dabei für die beiden Kritiker die Frage: "Wie kommen künstlerische Ideen überhaupt zustande? Über seine ganze Karriere hinweg hat sich Tobias Rehberger dabei nie als genialischer Einzelkünstler definiert. Bekannt ist er für seine Kollaborationen mit anderen Kunstproduzenten. So zeigt ihn eine Fotografie, die er hier als Wandtapete aufgezogen hat, im Kreise seiner Künstlerfreunde Not Vital, Richard Long und Rirkrit Tiravanija in der Sahara sitzend, während sie über gemeinsame Projekte sinnieren. Davor sind, in Rot, Gelb und Blau, drei große Skulpturen platziert, die aus eins zu eins - Abformungen von Termitenhügeln hervorgegangen sind. Die Frage der Formfindung hat er in diesem Fall komplett den Staaten bildenden Insekten überlassen. Er selbst fungierte, wie so oft, nur als Katalysator oder Einschleuser in die Wahrnehmungsmechanismen des Kunstbetriebs."

In der FAZ ist Stefan Trinks hin und weg von Thao Nguyen Phans erster großer Einzelschau in Mailands Hangar Bicocca: Endlich lernt er mehr über Vietnam, meint er, während er beobachtet, wie Phan ganz ohne zu moralisieren die Geschichte der über den Mekong miteinander verbundenen Völker in "Vietnam, Myanmar, Laos, Thailand und Kambodscha in atemnehmend formstarke Bilder ummünzt und mit aktuellen Fragen von Umweltzerstörung, Migration und Fortschrittsglauben versus Neunutzung alter Kulturtechniken gegenschneidet".

Weitere Artikel: Ingeborg Ruthe schreibt in der Berliner Zeitung den Nachruf auf den Fotografen Erwin Olaf. Henning Kober besucht für die FAZ den Sohn des Fotografen Will McBride im Gutshaus von Bristow.

Besprochen werden die Retrospektive von Füsun Onur im Kölner Museum Ludwig (Tsp), die Ausstellung "Luc Tuymans - Edith Clever" in der Berliner Akademie der Künste (Tsp) und die Schau "General Idea" im Berliner Martin Gropius Bau (taz).
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Literatur

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Die marokkanische Autorin Meryem Alaoui erzählt in ihrem Debütroman "Pferdemund tut Wahrheit kund" mit messerscharf in die Tiefe stoßender Reflexion und gepfeffertem Mutterwitz von der Hure Dschmiaa, die sich von niemandem einwickeln lässt, schon gar nicht von einer angehenden Regisseurin mit zu großen Zähnen. Unbedingt lesenswert, findet Angela Schader in ihrem Vorwort im Perlentaucher: "Von der Gesprächspartnerin avanciert Dschmiaa zur Hauptdarstellerin in Chadlias Film, begegnet uns dann zwei Jahre später im Flugzeug wieder: Sie ist unterwegs zu einem Festival in Los Angeles, um gemeinsam mit der Regisseurin einen Preis entgegenzunehmen. Beim Eintritt in diese neue Welt gibt Alaoui ihrer Protagonistin ordentlich Wind in die Segel. Amerikas Fassade von Glanz und Reichtum mag Dschmiaa zunächst blenden, aber mit heiligem Erschauern ist nix; und nachdem sie in die Usanz der Esslokale eingeweiht ist, Kaffee oder Cola nach Belieben nachzuschenken, kommen ihr die Einheimischen im Vergleich mit den eigenen Landsleuten geistig eher minderbemittelt vor. 'Selbst wenn sie als Gruppe kommen, bestellen sich alle einzeln etwas. Statt nur ein Getränk zu nehmen und es sich zu teilen. (…) Wir haben zwar kein Geld, dafür Köpfchen. Sie haben alles, was sie brauchen, und wissen nichts damit anzufangen.'"

Der Schriftsteller Matthias Jügler zieht in der FAZ Bilanz, was die literarische Auseinandersetzung mit der DDR in den letzten Jahren betrifft: Hier tat sich zuletzt einiges, insbesondere das Jahr 2018 dürfte wohl als "die Geburtsstunde einer neuen Generation von Autoren mit Ost-Sozialisierung in die deutsche Literaturgeschichte eingehen". Dabei handelt es sich um "diejenigen, die sich ihrer ostdeutschen Identität stellen, auch wenn sie die DDR meist nur als Kleinkind oder aus Erzählungen ihrer Eltern mitbekommen haben." Und deren "Auseinandersetzung mit der DDR und deren Folgen kann dazu beitragen, den Prozess der Vereinigung endlich entscheidend voranzubringen. Jenen zuzuhören, deren Geschichten bisher auf taube Ohren gestoßen sind, kann ein wichtiger Schritt dazu sein."

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In Berlin hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew aus seinem neuen Roman "Der Große Gopnik" gelesen, berichtet Julia Hubernagel in der taz. Darin erzählt der nach Russlands Angriff auf die Ukraine nach Deutschland geflohene Autor von Putins Aufstieg in Form einer "Ganovengeschichte. Immer wieder sei er gefragt worden, was Putin für ein Mensch sei, erzählt" er. "Ihm sei schließlich klar geworden, dass sich das Wesen des russischen Präsidenten aus seiner ärmlichen Herkunft erklären lasse. Ein Gopnik, so führt er im Buch aus, 'das ist der Proll aus dem Hinterhof'."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In "Bilder und Zeiten" der FAZ berichtet Andreas Platthaus von Turbulenzen und Animositäten in der Kafka-Experten-Szene: In letzter Konsequenz haben diese nun dazu geführt, dass Roland Reuß und Peter Staengle ihre aufwändige Faksimile-Ausgabe beim Wallstein Verlag abziehen und ein neues Haus für das Projekt suchen. Ebenfalls in "Bilder und Zeiten" ist Andreas Platthaus' Laudatio auf die Comiczeichnerin Isabel Kreitz, die mit dem e.o.plauen-Preis ausgezeichnet wurde, dokumentiert, und Astrid Kaminski unterhält sich mit Mariette Navarro über deren Roman "Über die See", in dem eine Kapitänin den Gezeiten trotzt. Jan Koneffke schreitet für die NZZ das literarische Werk Eginald Schlattners ab. Frank Fischer lädt in der FAZ zur Wiederentdeckung des schriftstellerischen Werks von Johann Nikolaus Becker ein. FR-Kritiker Christian Thomas stellt sich Lew Kopelews nur antiquarisch erhältlichen Erinnerungsband "Und schuf mir einen Götzen" in seine Ukraine-Bibliothek. In der Langen Nacht des Dlf Kultur befasst sich Günther Wessel mit Pablo Neruda, der vor 50 Jahren wahrscheinlich vom chilenischen Militär ermordet wurde.

Besprochen werden unter anderem Rafik Schamis "Wenn du erzählst, erblüht die Wüste" (FR), Tijan Silas "Radio Sarajevo" (Tsp), Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück" (taz), Louis-Ferdinand Célines erstmals veröffentlichtes Romanfragment "Krieg" (Standard), Wolf Haas' "Eigentum" (taz), Robert Bracks Krimi "Schwarzer Oktober" (FR), Terézia Moras "Muna" (SZ), Adam Soboczynskis Essay "'Traumland'. Der Westen, der Osten und ich" (FAZ) und die Ausstellung "Singen! Lied und Literatur" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (SZ).
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Bühne

Erfand Bertolt Brecht wirklich zwischen 1925 und 1928 in der Spichernstraße 16 in Berlin-Wilmersdorf das episch-dokumentarische Drama? Der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker hat in der FAZ ("Bilder und Zeiten") seine Zweifel. Immerhin gab es da auch noch Alfons Paquet: "Paquet veröffentlichte nach literarischen Texten und Reisereportagen zwei Stücke, die 1924 und 1926 in Inszenierungen von Erwin Piscator mit großem Erfolg an der Volksbühne am Bülowplatz, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, gezeigt wurden. In 'Fahnen' behandelte er einen mehrtägigen Streik der Fabrikarbeiter in Chicago im Jahr 1886 für die Absenkung der täglichen Arbeitszeit. 1904 hatte er die Weltausstellung im vierhundert Kilometer von Chicago entfernten St. Louis besucht, kannte also den modernen Kapitalismus aus eigener Anschauung. In 'Sturmflut' wiederum, das in St. Petersburg spielt, verarbeitete er Ereignisse der russischen Oktoberrevolution, die er kannte, weil er 1918 als Presseberichterstatter in Moskau gewesen war. ... Beide genannten Stücke lagen 1926 auch in Buchform vor und nahmen in Vorspanntexten die Theorie des epischen Dramas vorweg, was von Brecht und seinen Anhängern indes mit keinem Wort erwähnt wird."

Szene aus Molières "Der Geizige" in Frankfurt. Foto: Thomas Aurin


Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik hat am Schauspiel Frankfurt Molières "Der Geizige" inszeniert. Irgend einen höheren Sinn konnte sie dem Stück nicht abgewinnen, da sind sich Martin Thomas Pesl (nachtkritik), Simon Strauß (FAZ) und Judith von Sternburg (FR) einig. Aber während sich erstere einfach nur gründlich gelangweilt haben, versucht Sternburg der Sache doch noch etwas abzugewinnen - die zwei jungen Paare beispielsweise, die dem geizigen Harpagon eine Heirat abtrotzen wollen: Ihnen "gelingt es, vom Thema Geiz loszukommen und als eigentlichen Gruselkern des Stücks den Alptraum der Unfreiheit in einer patriarchalen, absolutistischen, wirtschaftlich abhängigen Struktur freizulegen".

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Dominique Zieglers "Choc! Die Süssigkeit der Götter" am Theater Biel-Solothurn (nachtkritik) und Sibylle Bergs "Es kann doch nur noch besser werden" am Berliner Ensemble (nachtkritik, SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Mit Joseph Haydns "Die Schöpfung" gab Simon Rattle sein Auftaktkonzert als neuer Chef des BR-Symphonieorchesters. SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck hat der Abend überzeugt: Den oft als spröde geltenden "Haydn zu animieren, zu beseelen, zu beleben scheint unheimlich schwer. Rattle hat damit keine Mühe. Schon das langsam sich bis zur Form- und Lichtwerdung hinschleppende Intro mit seinen Klanganschärfungen, Ausbrüchen, Akzenthämmereien und Fragezeichen ist bei Rattle verständlich fesselnde Programmmusik." Doch "Rattle ist nicht nur der Chef der BR-Sinfoniker, sondern auch des fulminanten BR-Chores, der sich an diesem außergewöhnlichen Abend wunderbar einfügt in den Klang. Endlose schnelle Tonfolgen klingen genauso souverän lässig wie dunkle Abgrundklänge, hell gejuchztes Halleluja, fulminantes Schöpferlob. ... Sie beweisen sich denn in Klangkultur, Kollegialität und Understatement als gleichauf mit ihren Sinfoniker-Kolleginnen. Über allen schwebt der Sopran von Lucy Crowe, immer aufmerksam auf die Mitmusiker eingehend, sich trotz aller Virtuosität und Klangschönheit stets nur als ein Rädchen in einer großen Musikmaschine verstehend." Dieses Video gestattet einen Einblick von den Proben:



Weitere Artikel: Detlef Diederichsen erinnert in der taz an den Beatnik Tuli Kupferberg, der vor hundert Jahren auf die Welt kam. In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay Julio Iglesias zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Kylie Minogues neues Album "Tension" (Standard, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt der Londoner R&B-Künstlerin Tirzah in Berlin (taz), ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters (FR) und Olivia Rodrigos "Guts" (SZ).
Archiv: Musik