Efeu - Die Kulturrundschau

Höllische perkussive Kraftexplosion

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29.09.2023. Findet das Theater der Zukunft wirklich in der Virtual Reality statt, während man allein zu Haus sitzt, fragt die FAZ nach einer Kostprobe im Staatstheater Augsburg. In Graz entstaubt Andrea Vilter lieber den Kanon, zum Beispiel mit Christiane Schlegel, notiert eine anerkennende SZ. Der Standard spendet Renate Bertlmann im Wiener Belvedere freudig für die Reliquie des Hl. Erectus. Die NZZ durchstreift die Chanel-Ausstellung in London. Das Neue Deutschland huldigt der Neuen Musik beim Musikfest Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2023 finden Sie hier

Musik

Fürs ND resümiert Berthold Seliger die Avantgarde-Aufführungen des Musikfests Berlin und sieht sich dabei einmal mehr darin bestätigt, dass die Gegenüberstellung von leicht vermittelbarer Klassik und schwer zugänglicher Avantgarde irrig ist. So gaben die Berliner Philharmoniker unter Kiril Petrenko eine Aufführung von Iannis Xenakis' 'Jonchaies': "Dank der Verwendung neuartiger Skalenkonstruktionen durch die in verschiedene Gruppen aufgeteilten Streicher entsteht eine Art 'Strömen' (flux), ein unmittelbarer Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die nicht-oktavierenden Tonleitern erzeugen völlig neue orchestrale Klangfarben. Die polyphonen Strukturen werden durch Tonwolken ersetzt. Abgelöst wird dieser wogende oder 'wallende' (Xenakis) Streicher-Wahnsinn durch eine höllische perkussive Kraftexplosion, in der sich verschiedenste Rhythmen und Tempi überlagern und die Pole des Orchesters ihre Kämpfe aufführen - ein wunderbar tosender Lärm, der von den glänzenden Berliner Philharmonikern so brillant aufgeführt wird, wie ihn wohl kein anderes Orchester der Welt entfachen kann." Dlf Kultur bietet einen Mitschnitt.

Außerdem: Im Tagesspiegel kommentiert Gregor Dotzauer den Streit um Christian Thielemann, dem einige Musikkritiker vorwerfen, er sei konservativ, wenn nicht gar rechts, während andere eben diesen Kritikern vorwerfen, Thielemann grundlos zu diskreditieren. Lars Fleischmann porträtiert in der taz die Berliner Pianistin und Sängerin Cymin Samawatie. Gregor Kessler schreibt in der taz einen Nachruf auf den Hamburger Musiker und Plattenladenbetreiber Michael Ruff. Alexander Gorkow und Joachim Hentschel erzählen in der SZ von ihrer Begegnung mit dem Klangtüftler Steven Wilson, dessen neues Album "The Harmony Codex" heute erscheint.

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Literatur

In der FAZ berichtet Luca Vazgec von einer Lesung mit Navid Kermani, Péter Nádas und Barbara Nüsse im Thalia Theater in Hamburg ("Die Diskussion wirkt bisweilen esoterisch; einig aber sind sich Nádas und Kermani über die Unzulänglichkeit von Sprache, wenn es darum gehe, den Tod kennenzulernen.") Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Katharina Bracher plaudert für die NZZ mit dem Autor David Sedaris. Bernd Noack wirft für die NZZ einen Blick ins fränkische Treuchtlingen, das sich mit seinem berühmtesten literarischen Sohn, dem vor zwei Jahren gestorbenen Schriftsteller Ludwig Fels, allmählich versöhnt, nachdem dieser den Ort in seinen Romanen alles andere als positiv dargestellt hatte.

Besprochen werden unter anderem Wolf Haas' "Eigentum" (FR) und Ludwig Tiecks "Wilde Geschichten" (Standard).
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Bühne

Szene aus Christiane Schlegels "Düval und Charmille" in Graz. Foto: Lex Karelly


Wolfgang Kralicek trifft sich für die SZ mit der neuen Intendantin des Grazer Schauspielhauses, Andrea Vilter, zum Gespräch. Ihr Auftakt verspricht schon Großes, versichert er, denn sie bringt Christiane Schlegels bürgerliches Trauerspiel "Düval und Charmille" fast 250 Jahre nach dem Druck zum ersten Mal auf die Bühne: "Auf der Suche nach Dramen, die es nicht in den Kanon geschafft haben, stießen sie auf das Stück der Goethe- und Schiller-Zeitgenossin, das seinerzeit anonym erschienen war; auf dem Titelblatt war nur der Hinweis 'von einem Frauenzimmer' zu lesen." Ein überzeugender Start in Graz, findet Kralicek: "Wie unter der Lupe sehen wir die demütigende Situation der betrogenen Ehefrau (Sarah Sophia Meyer), die gemischten Gefühle der verunsicherten Geliebten (Marielle Layher) und den exzessiven Narzissmus von Düval (Simon Kirsch), der auch in grotesken Körperverrenkungen zum Ausdruck kommt. Und dann ist da noch Fränzchen (Anna Klimovitskaya), der kleine Sohn des Hauses, der alles mitkriegt und mit seinen Puppen nachspielt; dass auch das Kind mitgedacht wird, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie hier ein neuer Blick auf ein altes Genre geworfen wird."

Das Staatstheater Augsburg bastelt gerade am "Theater der Zukunft". Und es ist: ein leeres Theater, lernt FAZ-Kritiker Simon Strauß, eine VR-Brille auf der Nase. Das kann nicht sein, denkt er sich. "Ohne ins Futurologische abschweifen zu wollen, ist doch wahrscheinlich, dass die kommende Zeit stärker als jetzt nach Zusammenhängen verlangen wird. Nach den Schnitten und Öffnungen, den Übermalungen und Verwischungen kommen dann die Kerne und Stoffmitten, die Fügungen und Konstruktionen wieder zu ihrem Recht. Anders gesagt: Wenn das, was die Menschen in ihrer Welt erfahren, schon unüberschaubar, unpersönlich und chaotisch ist, dann wächst die Sehnsucht danach, von der Kunst genau in einer anderen Weise herausgefordert zu werden. Natürlich: Das kann unter Einsatz spektakulärer Technik auch allein auf dem Drehstuhl gelingen, aber bei wie vielen Tätigkeiten wollen wir zukünftig eigentlich noch zu Hause bleiben - nur weil es möglich ist?"

Weiteres: Die Oper Frankfurt wurde erneut von der Zeitschrift Opernwelt zur "Oper des Jahres" gekürt, meldet die FR. Besprochen werden Rainald Goetz' "Baracke" im Deutschen Theater (Welt), "Bowie in Berlin" am English Theatre (Tsp), Marina Davydovas "Museum of Uncounted Voices" im HAU (taz) und Milo Raus Buch "Die Rückeroberung der Zukunft" ("ein interessantes Ärgernis", findet Peter Laudenbach in der SZ).
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Design

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Marion Löhndorf war für die NZZ im Londoner Victoria and Albert Museum, das derzeit eine große Coco-Chanel-Ausstellung zeigt: "Mit ihrer Betonung von sachlichen Schnitten, lockerem Sitz und der Verwendung von bisher der Männermode vorbehaltenen robusten Stoffen wie Tweed zogen Chanels Kleider einen neuen, selbstbewussten Frauentyp an. Mit ihrer Mode, die einen aktiven, unabhängigen Lebensstil ermöglichte, nahm Coco Chanel die Bedürfnisse moderner Frauen vorweg: Denn diese waren auch ihre eigenen. Die Korsette und einengenden Humpelröcke der vorigen Jahrhundertwende waren Coco Chanel ein Graus, Bewegungsfreiheit war ihr ein prioritäres Bedürfnis, sie selbst schnellte zielbewusst durchs Leben. ... Die Vorliebe für schlichte, fast strenge Schnitte und für Schwarz und Weiß leitete sie von den Trachten der Nonnen ab, bei denen sie aufgewachsen war. Ihr Stilgefühl soll von den klaren Linien und ausgewogenen Proportionen der romanischen Klosterarchitektur herrühren. Sogar ihr berühmtes Firmenlogo führen Biografinnen auf die Fussbodenmosaike der Abtei Aubazine zurück."
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Film

Daniel Kothenschulte wirft für die Welt einen Blick auf das Urteil im Prozess von Anika Decker gegen Til Schweiger, in dem der Drehbuchautorin zwar eine moderate Gewinnbeteiligung zugesprochen wurde, die Kosten des Prozesses muss sie allerdings auch tragen. Es hat nämlich einen guten Grund, warum in Deutschland Künstler so selten auf Nachzahlungen pochen: "Kaum ein Kinofilm spielt seine Produktionskosten tatsächlich ein. Die Filmfördermodelle sind so aufgestellt, dass Produzierende im Extremfall auch ohne den Verkauf einer einzigen Kinokarte über die Runden kommen. Ihre 'producer's fee' errechnet sich aus den Budgets, die von ihnen geforderten Eigenanteile lassen sich mit Vorab-Verkäufen - etwa ans Fernsehen - verrechnen. Das minimiert ihr Risiko. Kommt es dann doch einmal zu Gewinnen, zahlt man die bedingt rückzahlbaren Darlehen an die Förderanstalten zurück - und der Rest ist Schweigen."

Dazu passt die aktuelle Einigung im Streik der Drehbuchautoren in Hollywood. Ein zentraler Punkt des Streiks war der Einbruch von Tantiemen im Streamingzeitalter, da kaum noch Serien lizenziert und syndiziert werden. Im früheren Modell ergaben sich daraus stets Folgezahlungen an die Autoren. Da die Streamingdienste ihre Abrufzahlen allerdings hüten wie Coca Cola sein Rezept, konnten hier bislang kaum Erfolgsbeteiligungen eingefordert werden. Hier wurde nun "ein Kompromiss erreicht, den die Writers Guild als echten Durchbruch angibt", schreibt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline. "Erstmals nämlich wird es Vergütungszahlungen geben, wenn 20 Prozent der Abonnenten eines Streamingportals eine Serie in den ersten 90 Tagen nach Veröffentlichung schauen. Das Zahlenspiel gibt eine Andeutung darauf, wie komplex eine Erfolgsmetrik im Streamingzeitalter werden kann, bei der die Größe eines Dienstes und womöglich auch die Kosten einer Produktion genauso wie unterschiedliche Zahlen für einzelne Folgen und womöglich verschiedene Länder einfließen können."

Außerdem: Valerie Dirk spricht für den Standard mit der Regisseurin Elisabeth Scharang über deren neuen Film "Wald". Rüdiger Suchsland gibt auf Artechock Tipps zum Filmfest Hamburg. Pascal Blum (TA) und Andreas Scheiner (NZZ) berichten vom Auftakt des Zurich Film Festivals mit einem beglatzten Nicolas Cage. Außerdem ehrt das Zurich Film Festival ehrt den Filmkomponisten Volker Bertelmann, schreibt Christoph Wagner in der NZZ. Nachrufe auf den Schauspieler Michael Gambon, der einem breiten Publikum vor allem als Dumbledore aus den Harry-Potter-Filmen bekannt wurde, schreiben David Steinitz (SZ) und Katrin Nussmayr (Presse),

Besprochen werden Christian Tafdrups Horrorfilm "Speak No Evil" (Welt, unsere Kritik), Theo Montoyas Sex-Essayfilm "Anhell69" (Tsp, Zeit), Gareth Edwards' SF-Film "The Creator" (Standard) sowie Tristan Séguélas und Olivier Demangels französische Netflix-Serie "Tapie" über den Linkspopulisten Bernard Tapie (Freitag).
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Kunst

Reliqiue des Hl. Erectus, 1978. Bild: Belvedere.

Im Standard freut sich Katharina Rustler über die erste Soloausstellung, die der immerhin nun 80-jährigen Renate Bertlmann im Wiener Belvedere zuteilwird. Empfindsamen Besuchern, die von derart feministischer Kunst verstört werden könnten, wird vorsichtshalber eine Triggerwarnung mitgegeben: "Die Warnung gibt es ganz zu Recht, denn so manche Arbeiten von Bertlmann sind wahrlich keine leichte Kost. Die meisten aber sind mit herrlicher Ironie gespickt. Dass es von Penissen, Vulven, Brüsten und Sextoys nur so wimmelt, muss wohl nicht dazugesagt werden. So brachte die Künstlerin mit der Performance 'Die schwangere Braut mit dem Klingelbeutel', die sie 1978 in Düsseldorf aufführte, bereits einige ihrer zentralen Motive zusammen: Als schwangere Braut verkleidet fuhr sie in einem Rollstuhl umher und sammelte vom Publikum Spenden für die Reliquie des Hl. Erectus ein. Dieses Heiligenbild huldigte einem pompösen erigierten Penis. Der Klingelbeutel erinnerte an ein überdimensionales Kondom samt Brustwarze. Das Gesicht der Künstlerin verbarg sich hinter einer irritierenden Schnullermaske." Der patriarchalen katholischen Kirche setzt sie ihre eigenen Dogmen entgegen, "ihre Dreifaltigkeit lautete: Pornografie, Ironie, Utopie."

Le Concert, 1955. Bild: arthur.io/Annemarie Vandeput.

Eine rund zweihundert Werke umfassende Retrospektive zum Werk des früh durch Suizid gestorbenen Nicolas de Staël im Musée d'Art Moderne in Paris zeigt FAZ-Kritikerin Bettina Wohlfarth dessen "faszinierenden Kampf mit Farbe und Motiv", der sich durch die verschiedenen Werkphasen zieht. "Die Gemälde von 1946 und 1947 erscheinen mit ihren verästelten, pastosen Farbbalken wie dunkle Netze, in denen sich Licht und Farbe verfangen oder mit obskuren Kräften zu kämpfen scheinen. Bald darauf werden die Farbfelder größer, die Gemälde atmen wie abstrakte Landschaften. De Staël arbeitete vornehmlich mit Malmesser und Spachtel, schichtete Farben übereinander, sodass zwischen den Formen leuchtende Farbstrukturen sichtbar werden." Einzig das späte Schaffen kommt ihr zu kurz, sie vermisst das letzte Meisterwerk "Le Concert", denn damit "war Nicolas de Staël am Endpunkt seiner Malerei angekommen. Es hätte auch ein Neuanfang werden können."

Im Städtischen Museum Braunschweig widmet sich die Retrospektive "Lette Valeska. Stars ohne Glamour" nun endlich einer Fotografin, die nach ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland in Hollywood späte Karriere gemacht hat, freut sich Bettina Maria Brosowsky in der taz. "Sie stellt ihre Protagonisten in die Natur oder einen Architekturkontext, lässt sie sich aus dem Fenster lehnen, mit Kind oder Hund interagieren, sie schaut ihnen zu Hause zu: beim Lesen, in der Küche oder gar dem Anziehen. Das war neu, war kein bewusster 'Stil' und holte selbst entrückte Stars auf ein menschliches Maß herunter - sicherlich: gutes Marketing."

Es regnet Preise: Anna Boghiguian darf sich über den Wolfgang-Hahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig freuen (FR, FAZ, monopol). Mariechen Danz erhält den Kunstpreis des Energieunternehmens Gasag und der Berlinischen Galerie, nachdem die ursprüngliche Kandidatin Emilija Skarnulyte den Preis wegen der Verstrickungen der Energiebranche in den Ukrainekrieg abgelehnt hatte (monopol).
Archiv: Kunst