Efeu - Die Kulturrundschau

Die bitteren Tränen der Sonnentöchter

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09.12.2023. Die Feuilletons blicken geteilt auf Lluis Pasquals Inszenierung von Verdis "Don Carlo" in Mailand: Die FAZ ist hingerissen von Anna Netrebkos stimmlicher Brillanz, die FR findet das alles ein bisschen altbacken, der Tagesspiegel erkennt die politische Dimension des Abends. Die israelische Filmcommunity steht unter den Schockeindrücken des 7. Oktobers, berichtet der Filmdienst. Die taz schwebt mit Moritz von Oswald in ambientiöse Klangwolken und trifft dort auf schimmernde Chöre in Regenbogenfarben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Eine fulminante Saisoneröffnung erlebt FAZ-Kritiker Jan Brachmann an der Mailänder Scala mit Verdis "Don Carlo", inszeniert von Lluis Pasqual. Anna Netrebko, die die Elisabetta gibt, ist auf dem "Gipfel ihrer Kunst" schwärmt der Kritiker, der von ihrem Gesang nicht genug bekommen kann: "Irisierende Farben einer durch majestätische Selbstbeherrschung erstickten Traurigkeit schwingen in ihrer Stimme. Den Oktavsprung vom f'' zum f' abwärts auf dem Wort 'Frankreich' verbindet sie mit einer anrührenden messa di voce, lässt also die Lautstärke anschwellen bis zur hellsten Brillanz des Klangs und nimmt sie wieder zurück. Wenn sie das f'' erneut erreicht auf der Schlusssilbe von 'Fontainebleau', ist der Klang geheimnisvoll verschattet. Nur durch die Farben drückt sie einmal Stolz in der Erinnerung an die Heimat, einmal verborgene Wehmut in der Erinnerung an den glücklichen Moment des Verlöbnisses mit Carlo aus." Über ein "Fest für Gesangstechniker und Stimmenschlürfer" freut sich Judith von Sternburg in der FR, auch Elina Garanca als Prinzessin Eboli meistert "die filigranen Verzierungen, das Farbenspiel, aber auch den Aplomb" bravourös. Das entschädigt die Kritikerin für den Rest der Inszenierung, die gar zu altmodisch geraten ist.

Auch politisch ist der Start der Saison an der Scala immer ein Ereignis: Proteste gegen Anna Netrebko blieben dieses Mal weitgehend aus, berichten die Kritiker. Dafür gab es Empörung im Saal: Staatspräsident Sergio Mattarella hatte seinen Besuch demonstrativ abgesagt, berichtet Kirsten Liese im Tagesspiegel: "Grund dafür war wohl das unerwünschte Erscheinen des Senatspräsidenten Ignazio La Russa, Mitglied der rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia, sowie des stellvertretenden rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Matteo Salvini und des Kulturministers Gennaro Sangiuliano. Allen voran gegen La Russa, dessen politische Karriere in den frühen 1970er Jahren in der neofaschistischen Movimento Sociale Italiano begonnen hatte, erhoben sich im Saal Stimmen der Empörung, provoziert von dem Umstand, dass der sich nicht scheute, neben der 93-jährigen Senatorin Liliana Segre Platz zu nehmen, die als Kind den Holocaust knapp überlebte."

Weiteres: Zwischen den Mitgliedern des Jungen Ensembles am Deutschen Theater gibt es seit dem Terrorangriff des 7. Oktober schweren Streit, berichtet Thomas Lindemann in der FAS. Jüdische und arabische Jugendliche sollten gemeinsam Lessings "Nathan der Weise" auf die Bühne bringen. Am Anfang funktionierte das gut, doch seit Ensemblemitglieder kurz nach den Attacken israelfeindliche Statements auf Instagram posteten und den Angriff der Hamas als "Befreiungskampf" deklarierten, ist ein Graben entstanden, der kaum überbrückbar erscheint. Ab 2025 werden Pinar Karabulut und Rafael Sanchez das Zürcher Schauspielhaus leiten, meldet Uli Bernays in der NZZ.

Besprochen werden Ulrich Rasches Inszenierung von Aischylos' "Agamemnon" am Residenztheater München (nachtkritik), die Performance "Radical Hope - Eye to Eye" von Stef van Looveren in den Sophiensaelen in Berlin (tsp), Nuran David Calis Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" am Staatstheater Mannheim (Welt).
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Film

Chris Schinke hat für eine Filmdienst-Reportage die israelische Filmcommunity besucht, die vom 7. Oktober sichtlich gezeichnet ist. "Unter den momentanen Bedingungen ist es schwer vorstellbar, wie die israelische Filmcommunity jemals wieder zu einem 'Normalzustand' zurückkehren soll. Viele junge Filmschaffende befinden sich aktuell im Kriegseinsatz oder sind Reservisten, die auf ihren Einsatzbefehl warten. Darunter auch Ben Peled, der Kameramann des Films 'The Boy', sowie der Hauptdarsteller Nimrod Peleg. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, zu welcher Art von Bildern das Kino nach dem 7. Oktober finden kann und wie mit den Aufnahmen der Gräueltaten umgegangen werden kann. Wegsperren lassen sie sich ja kaum. Leichtfertig zu fordern, jeder müsse sie sich ansehen, um das Geschehene zu bezeugen, ist auch kein Weg. Die grauenhaften Terrorbilder besitzen durchaus das Potenzial, ihre Betrachter seelisch und körperlich krank zu machen. Am grauenhaftesten ist dabei das Lachen der Mörder während ihrer Taten. Allein schon deshalb, um sie nicht triumphieren zu lassen, sind andere Wege des Erinnerns nötig."

Außerdem: Im NZZ-Gespräch anlässlich seines neuen (auf Zeit Online besprochenen) Films "Das Beste kommt noch" weist Til Schweiger Vorwürfe zurück, er habe sich bei Dreharbeiten am Set grob daneben benommen: "Ich habe noch nie meine Macht missbraucht." Die Agenturen melden, dass der Schauspieler Ryan O'Neal gestorben ist. Claudius Seidl gratuliert in der FAZ John Malkovich zum 70. Geburtstag. Und John Waters kürt und kommentiert in Vulture seine besten Filme des Jahres.

Besprochen werden Ryūsuke Hamaguchis beim Berliner Filmfestival "Around the World in 14 Films" gezeigtes Drama "Evil Does not Exist" (Perlentaucher), Bradley Coopers "Maestro" (Jungle World, unsere Kritik), Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (SZ, unsere Kritik), Paul Kings "Wonka" mit Timothée Chalamet (Welt) und die auf Amazon gezeigte Dokuserie "Jan Ullrich: Der Gejagte" (FD).
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Kunst

Seine Begegnung mit sechsunddreißig "urigen Gesellen" beschreibt Kritiker Stefan Trinks in Bilder und Zeiten der FAZ. Die trifft er auf den Fotos von Ingar Krauss, "Chronist des ostdeutschen Oderbruchs", der gerne diejenigen ins Licht rücken möchte, die sonst eher abseits stehen. Nicht nur "menschlichen Wildgewächsen" blickt der Fotograf dabei ganz genau ins Gesicht, nein, auch die Flora dieses Landstrichs hat seine Aufmerksamkeit verdient: Er porträtiert "daher die eigenwilligen Physiognomien der Rüben, denn während ihr Primärerzeugnis Zucker in immer gleicher Kristallform homogenisiert ist und in Sekundenschnelle im Mahlstrom des Weihnachtsplätzchenteigs aufgeht, verleiht er den Pflanzen Individualität, indem er sie durch seine 'Close-ups' auf das Wesentliche ihrer Erscheinungsform reduziert - bei natürlichem Licht, vor nicht ablenkendem dunklen Hintergrund, fotografiert in kontrastreichem Schwarz-Weiß. Diese Nobilitierung durch eine aufwendige und sorgfältige 'Porträtgalerie' für eine sonst kaum beachtete Pflanze - im Lateinischen heißt die gemeine Rübe nur 'Beta Vulgaris' - erinnert an die Typologien der neusachlichen Fotografie der Zwanzigerjahre, etwa bei August Sander."

Welt-Kritiker Marcus Woeller lässt sich vom prachtvollen Anblick der Bernstein-Artefakte verführen, die die Galerie Kugel in Paris in der Ausstellung "Amber" zeigt. Viele von diesen Stücken aus dem Kunsthandwerk hat man zuvor noch nie gesehen, so Moeller. Nach Ovids "Metamorphosen" entstand der Bernstein durch die bitteren Tränen der Heliaden, erinnert Woeller. Göttlich ist auf jeden Fall, was man so alles aus ihm gemacht hat: "Eine aufgeklappte Schatulle zieht die Blicke der Besucher besonders in ihren Bann. So strahlend muss man sich das Bernsteinzimmer vorstellen, im kleinen Maßstab. Der 26 mal 39 Zentimeter messende Kasten ist komplett aus zugeschnittenen Bernsteinen zusammengesetzt. Die Wände zieren Spiralsäulen, barocke Kartuschen und Elfenbeinreliefs, der Deckel beinhaltet ein zweites Kästchen auf dem Figurengruppen sitzen. Die Schatulle wird dem Danziger Meister Michel Redlin zugeschrieben und auf das Jahr 1680 datiert."

Besrochen wird die Ausstellung "Karin Kneffel. Face of A Woman, Head of A Child" im Museum Kurhaus Kleve (FAZ).
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Stichwörter: Krauss, Ingar, Bernstein

Musik

In den Achtzigern spielte er Postpunk bei Palais Schaumburg, danach produzierte er Techno und schließlich experimentierte er mit Dub und Jazz, doch mit seinem neuen Album "Silencio" kehrt Moritz von Oswald zurück zu seinen Wurzeln im Studium des Orchesterschlagwerks, schreibt Andreas Hartmann in der taz: Dafür ließ der Künstler das Vocalconsort Berlin einen Chorpart aufnehmen, den er schließlich elektronisch bearbeitete. "Heraus kommt dabei eine hoch verdichtete, sakrale Musik, die wohl ganz bewusst an Chorwerke des ungarischen Komponisten Györgi Ligeti erinnert. Die repetitiven Elemente aus seiner Zeit als Technoproduzent, die schon in seinen Werken mit dem Trio immer unwichtiger wurden, sind nun ganz verschwunden. 'Silencio' taucht stattdessen tief ein in ambientöse Klangwolken, aus denen die Chorparts schimmern wie Regenbögen." Ein Kurzfilm gibt Einblick in die Produktion:



Außerdem: Mathis Raabe durchleuchtet für Zeit Online die Strukturen von deutschem Nazi-Rap, dessen Protagonisten ihre dürftigen Erfolge mit schrägen Methoden zu Massenhits umdeuten. Joachim Hentschel plaudert für die SZ mit Keith Richards. Der Schriftsteller Marc Degens hört für "Bilder und Zeiten" der FAZ deutsche Popmusik über Fußgängerzonen. Das erste ihm bekannte Lied zu diesem Thema ist nach eben diesem benannt und stammt von der Postpunk-Band Carambolage aus dem Jahr 1980:



Besprochen wird Bruno Monsaingeons Buch "Ich denke in Tönen" mit Gesprächen mit der Musipädagogin Nadia Boulanger (Tsp).
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Literatur

Paul Ingendaay hat für die FAZ die Internationale Buchmesse im mexikanischen Guadalajara besucht, wo es im Sonderbereich für europäische Literatur mitunter zu drolligen Momenten kommt: "Bei Licht betrachtet, hat dieses Massenaufgebot nicht nur transnationale und interkulturelle Komik; es hat, was den Veranstalter angeht, auch etwas Mechanisches, Brutales. Dutzende europäische Schriftsteller, manche sichtbar übernächtigt und von Gähnanfällen geschüttelt, werden ins EU-Trikot gesteckt, auf Themen verteilt und zu viert auf ein Podium gesetzt. Jeder darf ein paar Minuten sprechen. Immerhin, für Simultanübersetzung ist gesorgt, zur Not hilft das Englische. Wenn der Moderator aber nicht taugt, was leider vorkommt, muss man sich selbst behelfen und irgendwie originell sein. Dem Kroaten Robert Perišić zum Beispiel fiel nichts zum Thema Klimawandel ein, das auf seinem Podium verhandelt wurde. Da erzählte er eben ein bisschen von den Katzen aus seinem letzten Roman. Warum auch nicht? Von seinem eigenen Roman versteht man was. Manche im Publikum lachten, weil sie erkannten, dass hier die störrische Fantasie über das Quaken des erwarteten gesellschaftspolitischen Diskurses siegte. Schön war aber auch, was die Vertreter aus Deutschland zu sagen hatten. Judith Schalansky schlug mit einigem Hintersinn vor, statt ständig vom Klimawandel zu reden, solle man eine neue Religion stiften, dann wäre es zumindest leichter, das Fliegen zu verbieten."

Außerdem: Hannes Hintermeier erzählt in der FAZ von seinem Besuch bei dem Verleger und Schriftsteller Michael Krüger, dem Arno Widmann in der FR zum 80. Geburtstag gratuliert. "Bilder und Zeiten" der FAZ dokumentiert die Dankesrede der Schriftstellerin Lena Gorelik zur Verleihung des Marieluise-Fleißer-Preises. Leo Lensing beugt sich für "Bilder und Zeiten" der FAZ über eine Handvoll bislang unbekannter Texte von Karl Kraus, die dieser 1897 unter dem Pseudonym "Alpha" in der Wiener Rundschau veröffentlichte. Michi Strausfeld erinnert in der NZZ an den spanischen Dichter und späteren Kulturminister Jorge Semprún. Richard Kämmerlings berichtet in der WamS von seiner Begegnung mit dem Schriftsteller Hallgrímur Helgason. Jürgen Kaube schreibt in der FAZ zum Tod des amerikanischen Germanisten Guy Stern. Das Blog Nacht und Tag resümiert das Literaturjahr 2023.

Besprochen werden unter anderem Stanislaw Assejews "Heller Weg" (taz), Julien Gracqs "Lebensknoten" aus dem Nachlass (FAZ), Daniel Schreibers "Die Zeit der Verluste" (Freitag), neue Kinder- und Jugendbücher (taz), Annette Mingels "Der letzte Liebende" (SZ) und Sören Ulrik Thomsens Essay "Store Kongensgade 23" (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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