Efeu - Die Kulturrundschau

Die Wirklichkeit als tropenfieberhaftes Albtraumspiel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2023. Emerald Fennell legt mit "Saltburn" seinen zweiten Film vor - ziemlich wildes Ding, finden die Kritiker. Wie man die bedrohliche Kraft der Atombombe in bizarr-schöne Musik umwandelt, lernt die taz von der kasachischen Komponistin Galya Bisengaliewa. "Krieg als Normalzustand" sieht die FAZ mit Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen. Die NZZ ruft zur Wiederentdeckung Max Oppenheimers im Wiener Leopold-Museum auf. Uneinig sind sich die Kritiker bei der Frage, wie der Fall Gérard Depardieu zu bewerten ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2023 finden Sie hier

Kunst

Max Oppenheimer: Die Philharmoniker. Artothek des Bundes, Dauerleihgabe im Belvedere, Wien.
Max Oppenheimer war ein Künstler, "der seine Homosexualität genauso wenig verbirgt wie seinen Hass auf die Lordsiegelbewahrer akademischer Malerei", stellt Paul Jandl für die NZZ in der Ausstellung "Expressionist der ersten Stunde" im Wiener Leopold-Museum fest. Sein Lebensweg führt ihn von Stadt zu Stadt: Er "ist 1916 Mitbegründer des Zürcher Cabaret Voltaire. Das Berlin der zwanziger Jahre genießt der Maler als Stadt der lockeren Sitten und des erhöhten Tempos. In Oppenheimers dynamischen und krachend farbigen Bildern sind die Fahrer eines Sechstagerennens porträtiert. Schachspieler wirken in der kybernetischen Kunst von Oppenheimer genauso beschleunigt wie das Gesicht Thomas Manns." Im New Yorker Exil ist auch er von der Geschwindigkeit der Stadt überwältigt: "Fast zwei Jahrzehnte im New Yorker Exil verbrachte der Maler vor einem Bild, das sein letztes großes werden sollte. (…) Eine Apotheose der Kunst und wahrscheinlich auch der österreichischen Heimat. 'Die Philharmoniker', so heißt das Gemälde, werden von Gustav Mahler dirigiert. Das Licht, in dem das Orchester sitzt, scheint schon aus dem Jenseits zu kommen."

Rosanna Grafs Installationen "Ordinary Women - Carrier Bags of Friction" im Kunsthaus Hamburg nimmt Neele Fromm in der taz voll und ganz mit in die Ab- und Beweggründe weiblicher Wut. Die Künstlerin "ist eine Figur der liberalen Selbstoptimierung in einer Welt, in der weibliche Wut keine Berechtigung hat und bereinigt werden muss. Du bist wütend, weil dein Partner keinerlei Care-Arbeit auf sich nimmt? Schreibe es in dein Achtsamkeitsjournal. Du würdest am liebsten toben und schreien, weil du schon wieder sexuelle Belästigung erfahren hast? Probier doch mal Meditation aus. (…) Die Künstlerin lässt ihre Figuren aus Literatur und vergangener Berichterstattung zitieren, so auch aus Fragmenten der pseudo-wissenschaftlichen Gesichtsanalyse Vera Brühnes, die in einem Indizienprozess 1962 wegen Mordes verurteilt und später begnadigt wurde. Schuldig machte sie vor Gericht auch ihr vorspringender Haaransatz, damals ein Zeichen für 'männliche Aktivität und Geltungssucht.'"

Weiteres: Anne Waak trifft die kenianische Künstlerin Chelenge van Rampelberg für monopol zum Interview über die Entstehungsbedingungen ihrer Kunst. Der überwiegend staatlich-autoritär finanzierten Kunstszene Aserbaidschans widmet sich Kerstin Holm in der FAZ recht unkritisch.

Besprochen werden: Die Mitgliederausstellung "Klima, Nahrung, Natur" im Museum für Photographie Braunschweig (taz) und die Ausstellung "Meisterblätter expressionistischer Graphik" im Aschaffenburger Kirchnerhaus Museum (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

"Der Sturm/Das Dämmern der Welt" an den Münchner Kammerspielen. Foto: Armin Smailovic.
"Die Wirklichkeit als tropenfieberhaftes Albtraumspiel im Perpetuum mobile von Krieg und Frieden" erlebt Teresa Grenzmann für die FAZ in den Münchner Kammerspielen: Jan-Christoph Gockel inszeniert mit "Der Sturm/Das Dämmern der Welt" eine Mischung aus Shakespeares letztem Stück und Werner Herzogs Beschäftigung mit dem japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der sich auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs fast dreißig Jahre nicht ergeben will. Von einer solchen Auseinandersetzung mit dem Krieg ist Grenzmann tief beeindruckt: "Am Krieg als Normalzustand einer Zivilisation, die sich des Friedens der Natur nur der Tarnung wegen bedient, daran lässt 'Der Sturm/Das Dämmern der Welt' von Anfang an keine Zweifel: Neblige Düsternis liegt über der Bühne. Wo zunächst nur ein kahler Mast aus der schwarzen Ebene ragt, wird bald ein verrostetes Schiffswrack gehoben. In der hinteren Mitte das Podest der Musiker. Oft begleitet der dröhnende Sound des Unheimlichen das Spiel, manchmal der klimpernde Klang des Lieblichen.' Auf die Besserung des menschlichen Zusammenlebens macht die Inszenierung wenig Hoffnung: "Als Höhepunkt des Abends lässt Regisseur Gockel seine Schauspieler vorm erhellten Zuschauersaal minutenlang alle Kriege seit 1945 herunterbeten. Onoda hatte recht: Der Krieg hat niemals aufgehört. 'Die Schauplätze haben sich nur verlagert.' Der vermeintliche Frieden ist - mit Kant - nur die Vorbereitung auf einen neuen Kampf."

Weiteres: In der SZ interviewt Egbert Tholl Barrie Kosky, der an der Bayerischen Staatsoper gerade "Die Fledermaus" inszeniert.
Archiv: Bühne

Film

Ziemlich wildes Ding: Emerald Fennells "Saltburn"

Emerald Fennells zweiter Film (nach dem oscarprämierten MeToo-Film "Promising Young Woman") "Saltburn" ist den Kritiken nach zu urteilen ein ziemlich wildes Ding. Ein junger Student nistet sich hier in höheren Kreisen ein, die ihm der Reihe nach verfallen - doch das Salz steuert eher die originell ins Bild gesetzte Kreatürlichkeit der Suppe bei, schreibt Marie Luise Goldmann in der Welt: Gemeinsam nach dem Sex Menstruationsblut schlürfen, ist da fast noch herkömmlich, "doch wenn er nackt auf dem Grab eines Verstorbenen liegt, erst herzerschütternd weint und dann die aufgeschüttete Erde penetriert, oder wenn er gierig die letzten Tropfen in der Badewanne ausschlürft, in die sein Schwarm zuvor ejakuliert hat, dann muss man diesen Einfällen schon eine gewisse Originalität zugestehen. ... Charles Dickens und Patricia Highsmith zitierend, wird die opulente Klassensatire, die zwar mit überraschenden Twists und einem pompösen Finale aufwartet, ihren Vorbildern kaum gerecht. ... Am Ende bleibt der Eindruck, einen ungelenken Erstlingsversuch eines Filmstudenten gesehen zu haben, der zufällig die begabtesten Schauspieler seiner Zeit kennt und es trotzdem nicht geschafft hat, etwas anderes aus ihnen herauszuholen als gelangweiltes Seufzen und erotisches Stöhnen." SZ-Kritiker Tobias Kniebe spürt in diesem Film "ein abgründiges, zynisches Wissen das man so wohl nur auf Englands teuerster Privatschule sammeln kann, wenn man wirklich öfter mal bei Old Money zu Gast war".

Nach zuletzt immer mehr Vergewaltigungsvorwürfen wirkt Gérard Depardieu mittlerweile auch in seiner französischen Heimat, wo man ihm über die Jahre noch jeden kleinen und großen Skandal geduldig nachgesehen hat, angeschlagen: "Frankreich hat zu lange weggesehen, die Filmkritik in Chronistenpflicht die Vorwürfe brav notiert", kommentiert Andreas Busche im Tagesspiegel, und dieses alles "ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Und damit ein 'Monster' gezüchtet, das am Ende außer Kontrolle geriet." Jan Küveler findet es in der Welt hingegen gut, dass sich Macron in der Kontroverse um Depardieu auf die Seite des Schauspielers gestellt hat. "Das Machtwort war fällig. Es gibt wenig hinzuzufügen. Selbstverständlich muss, wie es einem Rechtsstaat gebührt, das Ergebnis der Ermittlungen abgewartet werden. Dann kommt es eventuell zu einem Prozess. Vorverurteilungen sind schmählich und weder der Grande Nation noch eines anderen westlichen Landes würdig."

Weiteres: Valerie Dirk spricht für den Standard mit Alice Rohrwacher über deren neuen Film "La Chimera". Josef Schnelle berichtet auf Artechock vom "Black Night Filmfestival" in Tallinn. Im Tagesanzeiger-Gespräch befürchtet die Schauspielerin Ella Rump ein Ende des Serienbooms in absehbarer Zeit. Rüdiger Suchsland verteidigt sich auf Artechock gegen seine Kritiker, denen wieder seine Kritik an der neuen Berlinale-Leiterin (unser Resümee) nicht passt. Das critic-Team blickt auf die schönsten Kinomomente des Jahres zurück: "Das Kino, das ist der Wind in Til Schweigers Haar", schwärmt etwa Lukas Foerster.

Besprochen werden Wim Wenders' "Perfect Days" (Artechock, online nachgereicht von der FAS, mehr dazu bereits hier), die Wiederaufführung von Morris Engels, Ruth Orkins und Ray Ashleys "Little Fugitive" aus dem Jahr 1953 (Artechock), Sean Durkins "The Iron Claw" (Artechock), J.A. Bayonas "Die Schneegesellschaft" (Artechock), die Weihnachtskomödie "Monsieur Blake zu Diensten" mit John Malkovich (Standard) und James Wans "Aquaman and the Lost Kingdom" (Standard).
Archiv: Film

Literatur

Für die FAZ spaziert Tilman Spreckelsen mit Jaroslav Rudiš durchs nächtliche Prag im Adventsglanz. Edo Reents schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Germanisten Eckhard Heftrich.

Besprochen werden unter anderem Franz Joseph Czernins Gedichtband "geliehene zungen" (Standard), Gerd Steffens' "Ein Lebensversuch mit Demenz" (taz) und Gunnar Deckers Rilke-Biografie (online nachgereicht von der FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Im kasachischen Semipalatinsk zündete die Sowjetunion in nur 130 Kilometer Entfernung zu den nächsten Siedlungen hunderte von Atombomben. Auf ihrem neuen Album "Polygon" setzt sich die aus Kasachstan stammende Komponistin Galya Bisengaliewa mit den verheerenden Folgen dieser Tests auseinander. Stimme und Geige bilden dabei das Material für ihre elektronischen Bearbeitungen, schreibt Katja Kollmann in der taz. Bisengaliewa findet "in der Musik Bilder für die Bedrohung, die nicht greifbar ist, aber buchstäblich in der Luft hängt. ... Man ist diesem Bedrohlichen, das diese Musik in jeder Faser transportiert, ungeschützt ausgeliefert. Und registriert gleichzeitig die bizarre klangliche Schönheit, an der man sich nicht erfreuen kann. Bisengaliewa hat Musik geschaffen mit Erkenntniswert - das Akustische dringt hier in Sphären vor, die dem Visuellen verschlossen sind. Sie kommt ohne Sprache aus und trotzdem ist diese Musik hochpolitisch. Sie klagt an und nimmt Partei für die unzähligen Opfer der Atomtests. Auf dem ehemaligen Testgelände ist die Verstrahlung bis heute höher als in Tschernobyl, die Schwererkrankten werden in der Regel nicht entschädigt."



Außerdem: Die taz resümiert das Popjahr 2023. Die Tuba ist das Instrument des Jahres 2024, meldet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Besprochen werden das Benefizkonzert der Berliner Philharmoniker zugunsten der im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln (Tsp, SZ) und die Memoiren der Komponistin Ethel Smyth (SZ).
Archiv: Musik