Efeu - Die Kulturrundschau

Erinnerung an vergangene Spiele

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23.12.2023. Die Berliner Zeitung schwelgt in Gedanken an das Beethoven-Konzert mit Martha Argerich und Daniel Barenboim. Die FAZ geht zum Schlafen und Plaudern in eine Lübecker Kirche. In der FR erklärt Ulrich Khuon, warum er die umstrittene Weltoffen-Initiative verteidigt, selbst aber mit Boykotteuren nicht zusammenarbeiten möchte. Zeruya Shalev erzählt im Interview mit der FAS, wie man ein Kind in Israel aufzieht: mit Gasmaske. Der Standard resümiert das Kinojahr 2023.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2023 finden Sie hier

Musik

Schier unvergesslich war das Konzert, das Daniel Barenboim und Martha Argerich am vergangenen Donnerstag gaben, schreibt Peter Uehling in der Berliner Zeitung. Nicht nur die Vertrautheit, den die beiden seit Kindertagen bekannten Lebensfreunde im Umgang miteinander an den Tag legen, beeindruckt den Kritiker, sondern auch die Aufführung von Beethovens Zweitem Klavierkonzert "glich einer Erinnerung an vergangene Spiele: Niemand muss noch etwas bewältigen und beweisen. ... Das Adagio wird zum Inbegriff des Ganzen: Anders als in den witzigen Ecksätzen dieses sehr frühen Beethoven-Werks - seine Interpreten sind viermal so alt wie er, als er es schrieb - kann hier das Gefühl des Alters sich frei verströmen, und es ist niemals sentimental, sondern bei aller Schönheit und Zärtlichkeit von einer beglückenden Tiefe, deren Einsichten sich von der Struktur gelöst haben. Selten hat man Argerich so weich und flexibel gehört."

Hier eine Aufnahme mit den beiden und Beethoven von 2015:



Außerdem: Nadine Lange porträtiert im Tagesspiegel die Rapperin Kerfor. In der taz ist Jenni Zylka sanft genervt vom Taylor-Swift-Hype. Der Musikkritiker Albrecht Selge porträtiert in der FAS seine Klavierlehrerin Irmelin Jättkowski-Eckert. Besprochen werden Kim Franks in der ARD-Mediathek gezeigte Doku über seine alte Band Echt (Filmfilter) und Robert Finleys Album "Black Bayou" (FR).
Archiv: Musik

Bühne

Im Interview mit der FR verteidigt Ulrich Khuon, derzeit Leiter des Zürcher Schauspiels, die umstrittene Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, weil er fand, dass der Bundestag zu weit gegangen war, als er im Mai 2019 den BDS als antisemitisch klassifizerte und deshalb empfahl, seinen Anhängern weder Räume noch Förderung aus öffentlichen Geldern zukommen zu lassen: "Die Politik darf nicht in die Kunstfreiheit reingrätschen, also in den Rahmen, den sie etwa mit befristeten Intendantenverträgen selbst setzt. Innerhalb dieses Rahmens herrscht Freiheit; die durch die konkurrierenden Grundrechte begrenzt ist, durch das Persönlichkeitsrecht oder das Strafrecht. Mit diesem Beschluss stört die Politik das Prinzip dieses Rahmens und etabliert Einschränkungen." Er würde lieber debattieren - aber auch nur in Grenzen: "Boykotte funktionieren immerhin ohne Waffengewalt. Dennoch haben sie insbesondere in der Kunst nichts zu suchen. Ich würde mit niemandem zusammenarbeiten, der mir sagt, dass ich dafür jemand anderen boykottieren müsse."

Kann man in diesem Jahr guten Gewissens in Tschaikowskys "Nussknacker" gehen? Man kann, versichert in der NZZ Christian Wildhagen: "Das Werk symbolisiert gleichsam eine positive kulturelle Gegenwelt zu jenem Russland, das uns täglich aufs Neue mit blutigen Schlagzeilen an den Zivilisationsbruch erinnert, den es seit Februar 2022 begeht. Offenbar taugt gerade der 'Nussknacker' besonders gut dafür, sich eine solche Idee von einem anderen, einem 'guten' Russland zu bewahren. Nicht zuletzt deshalb, weil er kaum politisch zu vereinnahmen, geschweige denn für irgendein Propaganda-Gedröhn zu missbrauchen ist."

Weiteres: Besprochen wird das Musical "Ku'damm 56" in der Alten Oper Frankfurt (FR)
Archiv: Bühne

Literatur

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Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich" kam bereits 1993 in Israel auf den Markt, nun erscheint das Buch auch auf Deutsch. Darin kommt auch eine Szene vor, in der ein Kind von der Hamas aus Israel entführt wird, auch über Tunnelsysteme in Gaza wird spekuliert. Diese durch die aktuelle Situation neugewonnene Aktualität findet auch die Autorin selbst "schockierend", erzählt sie Julia Encke im großen FAS-Gespräch: Zwar handle es sich im Erzählgefüge nur um innere Bilder, doch "natürlich sind diese schwer erträglichen Bilder von der Lebenswirklichkeit in Israel beeinflusst, auch dreißig Jahre vor dem 7. Oktober 2023. Als junge Mutter erlebte ich die damaligen Ereignisse in Israel auf einmal doppelt so intensiv. Ebenso alles, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt hatte - einige Entführungen aus den Siebzigerjahren haben mich sehr beeinflusst -, und auch alles, was passierte, nachdem ich Mutter wurde. Nach der Geburt meiner Tochter lagen auf meinem Bett im Krankenhaus die Zeitungen, die vom Ausbruch der ersten Intifada berichteten. Das Sicherheitsgefühl war erschüttert. Als meine Tochter drei war, haben wir ihr eine Kindergasmaske angemessen und sie später bei jedem Alarm in ein besonderes abgedichtetes Plastikzelt gesetzt, das sie vor der Bedrohung durch die chemischen Waffen im Golfkrieg schützen sollte. Natürlich hinterlassen solche Ereignisse Spuren in den Albträumen."

Außerdem: In seiner in der FAZ dokumentierten Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Nelly-Sachs-Preis verneigt sich Saša Stanišić vor seiner früheren Mathelehrerin Rozalija Mimić, die ihm und seinen Mitschülern unter den verheerenden Eindrücken des Jugoslawienkrieges "beides beibringen wollte: Geometrie und Empathie, Formeln für Funktionen und Formeln gegen Hass". Der Schriftsteller Richard Swartz staunt in der NZZ über den rasanten Wandel, den die albanische Hauptstadt Tirana in den letzten Jahren hingelegt hat: "Das Ergebnis? Ein improvisiertes Chaos. Allerdings pulsierend vital." Joseph Hanimann erzählt in "Bilder und Zeiten" der FAZ von seinem Besuch im französischen Literaturarchiv Institut Mémoires de l'Édition contemporaine in der Abbaye d'Ardenne. Jo Berlien berichtet im "Literarischen Leben" der FAZ von seinem Besuch in der literarischen Buchhandlung "Quichotte" in Tübingen. Oliver Meller spricht für die SZ mit Emmanuel Carrère über dessen Gerichtsreportage "V13" vom Bataclan-Prozess. Für "Bilder und Zeiten" der FAZ sieht Judith Neschma Klein die Weihnachtsbriefe von Rahel Levin Varnhagen durch. Der Schriftsteller Leon de Winter erzählt in der NZZ von niederländischen Weihnachtsbräuchen wie etwa dem, dass man zum Sinterklaas-Fest einander Gedichte schreibt. Gustav Seibt schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Germanisten Eckhard Heftrich.

Besprochen werden unter anderem Chloé Cruchaudets Comic "Céleste - 'Gewiss, Monsieur Proust!'" (taz), Durs Grünbeins "Der Komet" (taz), Dierk Wolters' "Dienstag" (FR), die Werkausgabe Marlen Haushofer (FAS), Raymond Roussels "Der Anblick" (FAZ) und Bertrand Badious Biografie über Paul Celan (SZ).
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Film

Puppenartig: Emma Stone in "Poor Things"

Valerie Dirk resümiert im Standard das Kinojahr 2023 mit Blick auf die kommende Oscarverleihung. "Es war das Jahr der Puppen", schreibt sie unter dem Eindruck von Publikumserfolgen wie "Barbie", "Super Mario Bros" und den Horrorfilm "M3gan". Aber auch im Oscarfavoriten "Poor Things" (der in Deutschland im Januar startet) von Yorgos Lanthimos "geht es um ein puppenartiges Frankenstein-Wesen. Emma Stone spielt Bella, ein Kind im Frauenkörper, das sehr langsam sprechen und laufen lernt und sehr schnell seine Sexualität entdeckt. Bellas Libido ist der Antrieb für ihre emanzipatorischen Ausflüge in Lanthimos' steampunkig-bunte Filmwelt."

Außerdem: Gregor Dotzauer (Tsp), Andreas Kilb (FAZ) und Willi Winkler (SZ) gratulieren der Schauspielerin Hanna Schygulla zum 80. Geburtstag. Die Agenturen melden, dass Ingrid Steeger im Alter von 76 Jahren gestorben ist. Besprochen werden Sofia Coppolas Biopic "Priscilla" (taz), Zack Snyders "Rebel Moon" (Welt, mehr dazu hier) und James Wans "Aquaman and the Lost Kingdom" (FR).
Archiv: Film

Kunst

Heilige Geschäfte mit Christian Jankowski in Lübeck. Foto: Lübeck Tourismus


In Deutschland haben in diesem Jahr 9000 Geschäfte dicht gemacht, von aufgegebenen Büros gar nicht zu reden. Das läuft jetzt alles digital, schreibt Niklas Maak in der FAZ. Was tun mit dem ganzen Platz? Der Künstler Christian Jankowski hatte eine Idee und in Lübeck ein paar aufgegebene Kirchen mit Schlafsofas und anderem möbliert. Genial, findet Maak: "Menschen lagen hier in den Kissen, als seien sie zu Hause, der Effekt war fast surrealistisch und vollkommen erstaunlich: Die Trennung zwischen dem öffentlichen Raum (der durch die Folgen der Digitalisierung gerade in großen Teilen verödet) und dem privaten Wohnzimmer (von dem aus online gearbeitet und online eingekauft wird) verschwamm. ... Schon heute stellen Museen wie die Tate Modern fest, dass gerade jüngere Menschen die Foyers der Ausstellungshäuser als kollektives Wohnzimmer nutzen; dass sie sich dort treffen und ganze Tage verbringen und tun, was früher auf dem Marktplatz stattfand: Informationen austauschen, Dinge kaufen, die Vorbeigehenden beobachten."

Im Interview mit monopol gibt Kuratorin Elena Sinanina, Mitorganisatorin des vom Hauptstadtkulturfonds unterstützten interdisziplinären Festivals "Black Land, Red Land - Restitute", ein hervorragendes Beispiel für Diskussionssimulation. Bei dem Festival ging es um Fragen "nach Herkünften dieser Objekte, nach Besitzverhältnissen, nach Dominanz-Verhältnissen, nach Zugängen, nach Exklusionen und der Frage, wer bestimmt über diese Zugänge, wer entscheidet, welche Bedeutungen zu den Artefakten zirkulieren, wer verfügt über Zugänge? Und wie lässt sich das auf die koloniale Vergangenheit beziehen?" Als postkoloniale Kritik möchte das Sinanina nicht verstanden wissen, sondern nur als "Annäherung". Auch auf die Frage, ob zum Beispiel die Nofretete nach Ägypten zurück sollte, möchte sie lieber nicht konkret antworten: "Das ist natürlich eine vielschichtige Diskussion. Und was ich aus künstlerisch-kuratorischer Perspektive versuche, ist, der Komplexität der Fragestellung gerecht zu werden. Als wir mit unserem Team, zu dem Yunus Ersoy, Anne Diestelkamp aber auch am Festival Beteiligte wie der Sozialwissenschafter Fazil Moradi begannen, uns diesen Institutionen und ihren Argumentationsmustern zu nähern, musste ich feststellen: Je mehr wir uns damit beschäftigen, desto weniger verstand ich von den sogenannten Argumentationen und Begründungszusammenhängen, und von dem, was vielleicht verschleiert oder verleugnet werden soll."

Besprochen werden die Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, zusammen mit Florian Illies' Buch "Zauber der Stille" (FAS)
Archiv: Kunst