Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht jammern, Clubs gründen

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05.01.2024. Schöne Bilderrücken können auch entzücken, lernt die FAZ im Madrider Prado unter anderem beim Blick auf das entblößte Hinterteil einer Nonne. Gottfried Helnwein hingegen kann die NZZ in der Albertina nicht mehr so schockieren wie früher. Katharina Mückstein prangert in der taz Ausschlussprozesse im Kulturbetrieb an: Wer kein "wohlhabender Hetero-Mann" ist, hat wenig Chancen. Die SZ glaubt nicht an die Kassandrarufe, die das große Clubsterben prophezeihen. Und sie erfreut sich an dem neusten It-Boy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2024 finden Sie hier

Kunst

Martin van Meytens: Knieende Nonne (Vorder- und Rückseite). Bild: Nationalmuseum Stockholm.


Dass die Rückseiten berühmter Gemälde manchmal ebenso spannende Geschichten zu erzählen haben wie ihre Vorderseiten, lernt FAZ-Kritiker Hans-Christian Rößler in der Ausstellung "Reversos" im Madrider Museo Nacional del Prado. Gebrauchsspuren, Farbtests und Stempel finden sich auf den "B-Seiten", aber auch ganze Zwillingsgemälde, verrät der angetane Kritiker: "Ernst Ludwig Kirchner übermalte oft, was ihm nicht gefiel, oder spannte die Leinwand rückseitig wieder auf. So schuf er rund 135 solcher doppelseitigen Kunstwerke, was die Kuratoren immer wieder vor die Frage stellte, was denn die Schauseite sein soll. Andere Künstler wollten, dass die bemalte Rückseite nur ihren Auftraggebern zu Gesicht kam. Auf Martin van Meytens' 'Kniender Nonne' betet auf der Vorderseite eine züchtig gekleidete Nonne unter den strengen Augen einer älteren Klosterschwester; die Rückseite zeigt ihr nacktes Hinterteil. Der damalige schwedische Botschafter in Paris hielt den erotischen Teil versteckt, den er höchstens ausgewählten Gästen zeigte. In Madrid enthüllt ein Spiegel den frivolen Teil des Bildes aus dem Jahr 1731. Er führte dazu, dass sich sogar die Bild-Zeitung für eine Prado-Ausstellung interessierte."

Gottfried Helnwein: Realität und Fiktion. Ausstellungsansicht. Foto: Robert Bodnar.


"Ist es eine Ironie, dass der, der sich das Malerei gewordene Bedauern über eine gefühlsarme Welt an die Wand hängen will, heute richtig reich sein muss?", fragt sich Paul Jandl in der NZZ bei der Betrachtung von Gottfried Helnweins Ausstellung "Realität und Fiktion" in der Wiener Albertina, wohlwissend, wie teuer die Originale sind. Helnwein war mal ein ziemlicher Bürgerschreck, weiß er, doch vielleicht nutzt sich der Schockeffekt von Hitlerporträts auch irgendwann mal ab: "In dreiundvierzig Werken kann man die menschliche Grausamkeit bestaunen und bleibt mit diesen Erfahrungen allein. Gottfried Helnweins Bilder geben keine Moral vor, aber die Kunstfertigkeit ihres Schockmoments erzeugt eine Gewöhnung, mit der sich das Werk selbst zu sabotieren droht. Die assoziative Offenheit hat bisweilen etwas Beliebiges und Repetitives. Und es gibt eine fatale Nebenwirkung der gegenwärtigen globalen Lage, wenn Helnweins gemalter Schrecken plötzlich wie Dekor wirkt."

Weiteres: Die FR feiert vierzig Jahre Fotografie-Forum Frankfurt. Besprochen werden die Ausstellungen "Ulrich Rückriem. 40 Bodenreliefs" in der Neuen Nationalgalerie (monopol), "Dialektik der Präsenz" in der DZ Bank Kunststiftung (FAZ) und "Mein Mann malt auch" von Sibylle Springer in der Galerie K-Strich in Bremen (taz).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Uwe Timms Jugenderinnerungen "Alle meine Geister" (Zeit), Nathan Hills "Wellness" (FR), Nicola Upsons Krimi "Mit dem Schnee kommt der Tod" (FR), Zeruya Shalevs "Nicht ich" (Zeit, SZ) und Julia Kissinas "Bubusch" (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Shalev, Zeruya

Film

Im taz-Gespräch prangert die Regisseurin und Drehbuchautorin Katharina Mückstein die Dominanz von Männern in der Filmproduktion an: "Bestimmte Erfahrungen sind an einen Körper gebunden und in die Erfahrungsgeschichte eines Menschen eingeschrieben. Daraus entsteht eine Perspektive, die eine andere Person nicht haben kann. Perspektiven, die nicht jenen weißer, oftmals wohlhabender Hetero-Männer entsprechen, sind in unserer Kulturgeschichte marginalisiert. ... Das Problem beginnt bei der Ausbildung und bei Chancengleichheit in der Gesellschaft: Wer kann es sich leisten, einen künstlerischen Beruf auszuüben? Schon von Anfang an findet ein klassistischer Ausschluss statt. Dann die Frage: Wer unterrichtet Film? Wie sieht der Kanon im Unterricht aus? ... Es bräuchte eine Veränderung der Arbeitsstrukturen. Elternschaft und Filmberuf dürfen einander nicht ausschließen. Es braucht gute Arbeitszeiten, faire Bezahlung und Gewaltschutz."

Jacob Elordi in "Saltburn"


"Was ist es nur, was diese Männer haben, die alle paar Jahre neu die Bildschirme und Leinwände überstrahlen - als Epiphanie für alles, was gerade begehrenswert ist?", fragt sich Magdalena Pulz in der SZ. "Gerade war es noch Timothée Chalamet, davor kamen Tom Holland und Robert Pattinson. Die illustre Ahnenreihe ist lang, sie reicht zurück über Leonardo DiCaprio und Brad Pitt bis hin zu Paul Newman und James Dean. Der neueste Anwärter auf den Thron des ultimativen IT-Boys ist ein Australier, der bisher all seine Karten richtig spielt: Jacob Elordi. ... Im kleinen Videofenster geht unter, was für eine ungewöhnliche Erscheinung er ist: fast zwei Meter groß, braune, melancholische Schneewittchen-Augen unter ernsten geraden Brauen. Präsenter ist seine Stimme: tief, warm, mit einem kleinen Vibrato, ungewöhnlich für einen so jungen Mann. Die Grundlagen, um Fans jeglichen Geschlechts den Schlaf zu rauben, bringt Elordi zweifellos mit. Aber das ist natürlich nicht alles", versichert sie und plaudert mit dem Schauspieler über seine Rolle in der (in der taz besprochenen) Amazon-Produktion "Saltburn".

Weitere Artikel: Für den Standard porträtiert Michael Wurmitzer den Schauspieler, der derzeit auch als Elvis in Sofia Coppolas "Priscilla" zu sehen ist. Marc Hairapetian spricht für die FR mit dem Regisseur Éric Toledano über dessen (von Susan Vahabzadeh in der SZ besprochene) Komödie "Black Friday for Future".

Besprochen werden Taika Waititis Sportkomödie "Next Goal Wins" (Standard), Hayao Miyazakis "Der Junge und der Reiher" (Zeit, mehr dazu bereits hier), Sofia Coppolas "Priscilla" (Welt, unsere Kritik), die Paramount-Serie "The Curse", die nach Ansicht von Freitag-Kritikerin Barbara Schweizerhof das Genre der Cringe-Comedy aus der Taufe hebt, und Roger Lewis' Buch "Erotic Vagrancy" über die Beziehung zwischen Richard Burton und Elizabeth Taylor (Standard).
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Stichwörter: Gleichstellung, Elordi, Jacob

Bühne

Die taz interviewt Colin Self, Artist in Residence an der Staatsoper Hannover, zum Opernprojekt "Kompass". Besprochen wird Martina Gredlers Inszenierung von Martin Sperrs Volksstück "Jagdszenen aus Niederbayern" am Stadttheater Klagenfurt (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

In der SZ kann Jakob Biazza die Wehmut gut verstehen, die die Leute angesichts des Clubsterbens befällt. Andererseits: "Städte, die sich nicht verändern, werden ihr eigenes Disneyland. Und Clubs, denen das Ende nicht wenigstens theoretisch in die DNA geschrieben ist, drohen zu Museen zu verkommen." Außerdem "zieht sich der Kassandraruf vom nahen, absolut endgültig finalen Ende des Feierns doch sehr beständig durch die Jahrzehnte". Es "entstand trotzdem immer wieder Raum, den Clubs besetzen, umdeuten und bespielen konnten: Brachland, Leerstand - legal, illegal, scheißgal". Staatsknete sei auch hier nicht der Weisheit letzter Schluss, schließlich "sollten Clubs dringend Instanzen der Staatsferne sein". Von daher: "Nicht jammern, Clubs gründen."

In der FAZ porträtiert der Schriftsteller Howard Hunt die in Berlin aufgeschlagene ukrainische Band Xarms, die ursprünglich auf Russisch gesungen hat, da man vor der Maidan-Revolution anders in den von Russen kontrollierten Medien nicht durchgedrungen wäre. Ihr neues Leben ist entbehrungsreich: "Berlin, so ihr erster Eindruck, war nicht ganz das erwartete Paradies. Die Klubszene ist unterfinanziert. Es gibt keine Oligarchen. Als Moskau und Kiew noch zusammenarbeiteten, brauchte es nur einen Gig auf einer Yacht, davon konnte man ein ganzes Jahr leben. Jetzt haben sie es mit dem Hipster-Äquivalent von öden Dorfkneipen zu tun, Open-Mike-Veranstaltungen, Jamsessions, Mischung und Mastering von aufgebrezelten jungen Frauen, die unbedingt wie Britney Spears klingen wollen, aber nicht das Geld dafür haben. Es ist hart."

Weitere Artikel: Es ist längst überfällig, dass auch mal eine Frau das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert, findet Ljubiša Tošić im Standard. Yelizaveta Landenberger beleuchtet für die taz die Geschichte des Reggae in Polen, der dort auch schon im Sozialismus gespielt wurde. Andrian Kreye spricht für die SZ mit dem Saxofonisten Marius Neset. Besprochen wird Karin Meesmanns Buch "Pál Ábrahám. Zwischen Filmmusik und Jazzoperette" (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Thomas Combrink über "Pet Semetary" von den Ramones:

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Stichwörter: Clubsterben, Clubszene, Xarms, Yachten