Efeu - Die Kulturrundschau

Person, die nur rückwärtsgeht

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31.01.2024. Boykottaufrufe allerorten: Zeit Online ärgert sich darüber, dass reihenweise Musiker auf die antisemitischen Narrative von "Strike Germany" hereinfallen. Auch die Forderung, Israel vom Eurovision Song Contest auszuschließen, sorgt für Ärger. Wer auf der Suche nach einem Schutzengel ist, sollte das neue Album von Tractus hören, so die Welt. Die FR blickt begeistert auf Maria Lassnigs rabiat verbeulte Figuren. Im Wiener Theater am Werk werden Ionescos "Stühle" mit Witz und Grazie zu Rollstühlen umfunktioniert, freut sich der Standard.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2024 finden Sie hier

Bühne

Die Rollstühle - Elisabeth Löffler und Cornelia Scheuer, © Sandra Fockenberger

Eugène Ionescos "Die Stühle" werden in Yosi Wanunus im Wiener Theater am Werk uraufgeführtem Stück zu "Die Rollstühle". Die Modernisierung gelingt, findet Michael Wurmitzer im Standard, nicht zuletzt dank der beiden hervorragenden Schauspielerinnen Elisabeth Löffler und Cornelia Scheuer. Die beiden brillieren "[n]icht nur mit Witz, auch mit ebenso viel Grazie, etwa wenn Scheuer ihren Rollstuhl zur Drehbühne umfunktioniert, wird hier gegen die Alltagslangeweile angekämpft. Wenn man nicht mehr weiterweiß, dreht man sich im Kreis. Um Längen schlagen dann auch die Gäste der auf ihren fahrbaren Untersätzen versammelten Freundinnen die des Stückvorbilds. Nicht nur, weil sie illuster als 'Olympiasiegerin im Kurzstreckengehen', 'Person, die nur rückwärtsgeht' oder 'Madame Bein, Oberbefehlshaberin der marschierenden Truppen' vorgestellt werden."

Jakob Hayner freut sich in der Welt über die vielversprechende Auswahl des diesjährigen Theatertreffen: "Auffällig ist, dass in der Auswahl Gegenwartskommentar und Eigenlogik der Kunst zusammenkommen. So zeigt Ulrich Rasches düsterer 'Nathan' von den Salzburger Festspielen den Judenhass als Grenze der Aufklärung. Und 'Bucket List' von der Berliner Schaubühne ist zwar nicht Yael Ronens bester, aber ein wichtiger Abend, geprägt vom Schock der Hamas-Massaker in Israel."

Weiteres: Margarete Affenzeller rekonstruiert im Standard einen Streit zwischen dem Regisseur Paul Manker und den Theatergastspielen am Semmering. Besprochen werden Jezz Butterworths Stück "Hills of California" in der Inszenierung von Sam Mendes am Harold Pinter Theater, London (NZZ), Sivan Ben Yoishais Ibsen-Inszenierung "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" am Deutschen Theater in Berlin ("erstaunlich verzopft", FAZ) und Pina Bauschs "Nelken" in Boris Charmatz' Inszenierung am Tanztheater Wuppertal ("ein Desaster, und das in mehrfacher Hinsicht", FAZ).
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Musik

Jens Balzer ärgert sich in der Zeit (leider verpaywallt), dass insgesamt 17 Acts beim Berliner CTM Festival wegen "Strike Germany" ihren Auftritt abgesagt haben und damit "wie die letzten Idioten auf schlimme antisemitische Narrative hereinfallen. ... Warum wendet sich eine solche Kampagne gerade gegen ein Festival, das jahrelang alles darangesetzt hat, Künstlern und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden Sichtbarkeit und Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen? Das auch viel Zeit damit verbracht hat, Visa und Reisen zu organisieren für all jene, denen der deutsche Staat nicht gerade einen roten Teppich ausrollt, wenn sie innerhalb seiner Grenzen Musik machen wollen? Es ist - wie zuvor schon bei den Aktionen der BDS-Kampagne - ein 'postkolonialer' Boykott, der sich zunächst gegen Kulturschaffende richtet, die sich selber als 'postkoloniale' Akteure verstehen und die - so hatten sie es zumindest bislang gedacht - nichts anderes wollen als diejenigen, von denen sie nun boykottiert werden. Es ist wie so oft in der Geschichte von Menschen, die sich in kultureller und politischer Weise für progressiv halten, schon wieder so, dass diese Menschen irgendwann damit beginnen, einander die Solidarität aufzukündigen und sich gegenseitig zu zerfleischen."

Über 1000 schwedische Künstler fordern den Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest, meldet Kira Kramer in der FAZ. Das sieht "doch stark nach einer selbstgerechten Profilierungsaktion von Musikern aus", kommentiert Nadine Lange im Tagesspiegel: "Wenn sie von den ESC-Organisator*innen fordern 'konsequent gegen Teilnehmerländer vorzugehen, die demokratische Werte und Menschenrechte verletzen', fragt man sich, warum sie nicht auch zum Boykott Aserbaidschans aufrufen." Auch Jan Feddersen von der taz hat den offenen Brief der Künstler genau gelesen, die ihre Initiative unter anderem damit begründen, dass ja auch Russland vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde: "Im Schriftlichen dieser Initiative gibt es, wie in den meisten propalästinensischen Statements seit dem 7. Oktober, keinen Hinweis auf den Anlass der militärischen Einsätze im Gazastreifen durch die Armee: die Hamas-Massaker an eben jenem ersten Samstag im Oktober vorigen Jahres. Dass Russland die Ukraine am 22. Februar 2022 anlasslos zu bombardieren begann, bleibt als Unterschied ausgespart."

SZ-Kritiker Helmut Mauró hört neue Bruckner-Aufnahmen zum Jubiläumsjahr (mehr dazu bereits hier) und macht dabei einige Entdeckungen: Christian Thielemann "entfaltet einen klanglichen Zauberwald, in dem man staunend und manchmal auch ein bisschen ehrfürchtig umherblickt. Es ist ein symphonisches Neverland, in dem verspielte und auch gewaltige Ungeheuer auftauchen, die sich aber allesamt als zahm erweisen. ... Neue Wege beschreiten François-Xavier Roth mit dem Gürzenich-Orchester und Rémy Ballot mit dem Altomonte-Orchester St. Florian, der einstigen Wirkungsstätte Bruckners. Beide suchen den schlanken Klang mit einem kleiner besetzten Ensemble, wollen nicht überrumpeln und manipulieren, sondern vertrauen der Musik in ihrer klarsten und gleichsam reinsten Form. Der neue Bruckner-Klang entwickelt sich frei, losgelöst von erdenschwerer Tradition."

Hingerissen ist in der Welt auch Elmar Krekeler (online nachgereicht) von "Tractus", dem neuen Album von Arvo Pärt: Zu erleben "ist eine gestische, eine sprechende Musik. Eine, die deswegen so unmittelbar wirkt, weil sie Sprache nicht nur begleitet, sondern sie gewissermaßen inhaliert hat. ... Sie lebt die Worte, bringt sie zum Leben, auch wenn man sie gar nicht hört, wenn sie nur als Inspiration dienten wie ein altes, kirchenslawisches Gebet für 'These Words'. Darin scheinen Streicher-Schraffuren aus dem Nichts auf, etwas pulst, klingelt, Klangflächen heben zu singen an, reden, erzählen von Bedrohungen, Verfehlungen der Menschen und rufen den Schutzengel um Hilfe an." So "entsteht etwas, das man selten so dringend brauchte wie heute", nämlich "eine kleine Philosophie des Menschseins, gewonnen aus schwieriger Zeit für eine schwierige Zeit, eine sanfte, stets hymnenbereite Handreichung der Kunst des gelungenen Lebens."



Weitere Artikel: Deutsche und französische Verwertungsgesellschaften rechnen nach einer Studie mit einem Umsatzverlust von 2,7 Milliarden Euro durch KI in der Musik und berichten von grassierender Angst unter Musikern, meldet Andrian Kreye in der SZ. Bernhard Uske berichtet in der FR von einem Abend der Frankfurter "Happy New Ears"-Reihe des Ensemble Modern über Johannes Kalitzkes Komposition "Werckmeister Harmonies", die auf Béla Tarrs gleichnamigem Film basiert. Die Berliner Band Pankow geht auf Abschiedstour, meldet Andreas Hergeth in der taz.

Besprochen werden das Debütalbum "Preludes to Ecstasy" von The Last Dinner Party (Standard), Andrew Peklers neues Album "For Lovers Only / Rain Suite" (FR) und Papooz' neues Popalbum "Resonate" (tazler Detlef Diederichsen wird "das Gefühl nicht los, dass der Weg in den Mainstream, unter Zurücklassung persönlicher Merkwürdigkeiten, nicht der Weg ist, der dieses Duo auf den Popolymp führt")

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Film

Im Standard empfiehlt Bert Rebhandl dem Wiener Publikum die Retrospektive Barbara Albert im Filmarchiv Austria. Besprochen werden Agnieszka Hollands polnisches, seit seiner Premiere beim Filmfestival in Venedig kontrovers diskutiertes Flüchtlingsdrama "Green Border" (taz, Tsp), Lisa Gerigs Doku "Die Anhörung", für die Geflüchtete ihre Anhörungen nachspielen (NZZ), die BluRay-Ausgabe der dritten Staffel von Lars von Triers Serie "Geister - Exodus" (FD), Adrian Goigingers Austropopkomödie "Rickerl" mit Voodoo Jürgens (Tsp) und Marc Turtletaubs Komödie "A Great Place to Call Home" mit Ben Kingsley, Jane Curtin und Harriet Harris (FD, FAZ)
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Literatur

Michael Wurmitzer informiert sich für den Standard bei deutschen Verlagen, wie sie es mit KI-Klauseln halten. Der Schriftsteller Albert von Schirnding denkt in der SZ über Hugo von Hofmannsthal nach, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Candice Fox' Krimi "Stunde um Stunde" (FR), Anna Jobs und Corinna Pourians für Erwachsene konzipiertes Bilderbuch "Salzige Milch" (FR), Irene Langemanns "Das Gedächtnis der Töchter" (NZZ), Maja Haderlaps "Nachtfrauen" (NZZ), Diane Olivers Storyband "Nachbarn" (SZ) und Barbara Yelins Comic "Emmie Arbel - Die Farbe der Erinnerung" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Hofmannsthal, Hugo von

Kunst

Ingeborg Ruthe durchstreift für die FR die Sammlungspräsentation "Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft 1945-2000" in der Berliner Neuen Nationalgalerie und bleibt an zwei Werken der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig hängen. Die "Patriotische Familie" aus dem Jahr 1963 hat es in sich: "Das Motiv steht wie ein Pinselhieb für den Diskurs über die Rollen der Frau in der geschichtsignorant und männerdominiert nach Wohlstand, Konsum, perfekter Glückserfüllung und heiler Familienwelt strebenden Nachkriegsgesellschaft und deren Kunstbetrieb. Geradezu boshaft, mit groben, zugleich virtuosen Farbzügen und Körper-Konturen malte die einstige Klosterschülerin den Geschlechterkampf auf grüner Wiese, vor blauem Himmel und Wasser. Eine verlogene Paradies-Illusion, in der die picassoartig hingereckt liegenden Weibchen makellos schön und brav bewacht werden von einem sexgesteuerten Musketier in militärischer Camouflage-Kluft. Rabiat verbeulte Lassnig ihre Figuren, als verachte sie ihre sich dem chauvinistischen Frauenbild anpassenden Geschlechtsgenossinnen - und macht aus dem Macho eine Karikatur."

"Helle Genitalpanik" ist derzeit, wie Jens Hinrichsen im Tagesspiegel berichtet, im C/O Berlin zu bewundern, und zwar in einer Ausstellung, die dem fotografischen Werk der Künstlerin und Filmemacherin Valie Export gewidmet ist. Das Kino ist ein wichtiger Referenzrahmen der Ausstellung: "Als 'erweitertes Kino' lässt sich (...) die Installation 'Fragmente der Bilder einer Berührung' von 1994 auffassen. 18 leuchtende Glühbirnen tauchen in mit Altöl, Milch oder Wasser gefüllte Zylinder ein. Das lässt an einen Schwarz-Weiß-Film denken, der am Lichtfenster eines Filmprojektors vorbeirattert. Doch die Bewegung ist entschleunigt und sanft - ein simulierter Liebesakt. Die 'Fragmente' verweisen auf Körper, auf Sexualität und zugleich auf die für Valie Export ungebrochene Faszinationskraft von Medien und Bildermaschinen, diese zwiespältigen Apparate der Erkenntnis und des Verkennens."

Weitere Artikel: Bernhard Schult bespricht im Tagesspiegel einen Sonderband zum juristischen Umgang mit in der DDR von staatlichen Stellen konfisziertem Kulturgut. Ärger hat derweil, wie unter anderem der Standard berichtet, Cecilie Hollberg, die deutsche Direktorin der Galleria dell'Accademia in Florenz, nach einem Interview, in dem sie sich über ihre aktuelle Wirkungsstätte folgendermaßen äußerte: "Wenn eine Stadt erst einmal zur Hure geworden ist, ist es für sie schwierig, wieder Jungfrau zu werden. Wenn jetzt nicht die absolute Bremse gezogen wird, gibt es keine Hoffnung mehr." Die italienische Politik ist empört.

Besprochen werden die Ausstellung "Evelyn Richter - Ein Fotografinnenleben" im Museum der bildenden Künste, Leipzig (FAZ), die Jeff-Wall-Ausstellung in der Fondation Beyerle bei Basel (Tagesspiegel), die Schau "Alte Meister que(e)r gelesen" im Kasseler Schloss Wilhelmshöhe (taz), Leanne Shaptons Ausstellung "Nach Bildern - Painted from Pictures" in der Galerie Thomas Fischer (taz), Martin Roths Einzelausstellung "Was wir aus unserer Umwelt machen und wie wir sie 'gezähmt' haben" im Grazer Künstlerhaus (Standard) und die Schau "Joel Sternfeld - American Prospects", die in der Wiener Albertina und der Zander Galerie, Köln gezeigt wird (Monopol).
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