Essenzen

Ein Duft in Moll

Die Duftkolumne Von Claus Brunner
12.08.2021. "Orlo" ist das italienische Wort für Rand oder Kante, vergleichbar dem englischen "Edge". Diesen Titel trägt Sylvia Plaths letztes Gedicht, und "Orlo", der neueste Duft aus der "Versi"-Trilogie des kleinen neapolitanischen Nischenlabels Mendittorosa, tritt als dessen olfaktorische Übersetzung an. Kann das gelingen? Nein. Und doch: Die Parfümeurin Anne-Sophie Behaghel hat einen erstaunlich vielschichtigen und modernen Duft geschaffen.
"We have come so far, it is over."
Sylvia Plath

"Orlo" ist das italienische Wort für Rand oder Kante, vergleichbar dem englischen "Edge". Diesen Titel trägt Sylvia Plaths letztes Gedicht, und "Orlo", der neueste Duft aus der "Versi"-Trilogie des kleinen neapolitanischen Nischenlabels Mendittorosa, tritt als dessen olfaktorische Übersetzung an.

Orlo Flacon. Foto: Mendittorosa




Das Gedicht schrieb Sylvia Plath wenige Tage vor ihrem Tod. Es handelt von einer Frau am Rande des Lebens - an der Kante zum Tod. Sie sieht ihr Dasein vollendet, bereit es zu beschließen, und alles Leben, das von ihr ausging, zurückzuholen, es wieder in sich hinein zu falten, wie Blütenblätter im Anbruch der Nacht. Die Blütenblätter, das sind ihre Kinder, die sie zuvor tötete, um sich nun selbst zu töten. Von der Nacht umfangen "blutet" die Blüte ihren Duft, während der Mond, wie eine Nonne in weißer Kutte, teilnahmslos "in seiner Knochenhaube" das grausige Geschehen verfolgt: "er ist an solche Dinge gewöhnt".

Sylvia Plath verknüpft in diesem Gedicht den antiken Medea-Stoff mit ihrem eigenen Schicksal, ihrer eigenen Todessehnsucht. Wie Medea hat auch sie zwei Kinder, aber sie wird sie nicht umbringen, auch nicht ihren Mann, von dem sie sich kurz zuvor getrennt hat. Im Gegenteil. Bevor sie Tabletten schlucken und die Gashähne am Backofen öffnen wird, stellt sie ihren schlafenden Kindern -  wie im Gedicht -  ein Glas Milch ans Bett. Aber keine vergiftete - sie will, dass ihre Kinder leben. Damit kein Gas hinaus dringe, stopft sie sorgsam Tücher in den Schlitz unter ihrer Küchentüre.

Diesen Lebensrand, am Übertritt ins Jenseits möchte "Orlo" also duftend wiedergeben. Was für ein Unterfangen!

Ist es geglückt?

Schwer zu sagen. Ein Gedicht in eine andere Sprache zu übertragen ist ja an sich schon eine tückische Angelegenheit, erst Recht, wenn es sich um ein sehr dichtes, bildreiches handelt. Es zu visualisieren wäre eventuell eine Möglichkeit und in einem Orchester ließen sich vielleicht die richtigen Tonfarben finden, um es in Musik zu verwandeln. Aber in einen Duft? Kann man Duftnoten finden, die im Zusammenspiel den emotionalen Ausnahmezustand vor einem Suizid wiedergeben?

Kurz: "Orlo" kann es nicht.

Jedenfalls funktioniert es bei mir nicht.

Mag sein, dass andere das Verdüstern der Seele, die aufkeimende Todessehnsucht, das "on the edge" sein, beim Erschnuppern von "Orlo" assoziieren. Mir gelingt es nicht. Was aber nicht gegen die Parfümeurin spricht - sie beherrscht ihr Handwerk wie kaum eine Zweite. Nein, vielmehr spricht es gegen mich. Oder nein, eher für mich: Schwermut kenne ich nicht einmal im Ansatz und Depressionen haben immer die anderen -  ich nie.

Vielleicht bin ich daher auch nicht empfänglich für einen in Duft gebannten Lebensüberdruss.

Was ich aber schon spüre: "Orlo" ist ein Duft in Moll, zumindest anfänglich, denn im weiteren Verlauf strebt er erkennbar nach Licht.

So wirken die beteiligten Duftnoten zunächst auch etwas verhangen: keine luftigen Aldehyde, keine spritze Zitrusfrische, stattdessen deutlich bitterschalige Bergamotte, kombiniert mit einem Hauch feucht-grasigem Veilchen. Ein unsüßes florales Bouquet aus Magnolie, Orangenblüte und einer "metallischen" Rose (vermutlich Rosenoxid) erblüht im Herzen, mit etwas herb-fruchtiger Pfirsichschale abgerundet und sachte mit einer Prise Kreuzkümmel gewürzt.

Die Basis bildet schließlich ein heller, holziger, fast spröder Akkord aus strohigem Papyrus, samtigem Kaschmirholz, fein poliertem Patschuli, etwas erdiger und pudriger Iris, und einem Duftstoff mit dem ich meistens hadere, der diesem Duft ausnahmsweise aber sehr gut tut: "Cetalox", auch als "Ambroxan" bekannt - ein synthetisches Molekül, welches das reichhaltige Duft-Spektrum der "grauen Ambra", jener sagenumwobenen Wal-Ausscheidung, die es vermag, die Düfte erst richtig zum Leuchten zu bringen, zumindest teilweise nachahmt. Und hier passiert nämlich genau das: der Duft beginnt von der Basis her zu leuchten. Mendittorosa nennt es den "Grey Amber effect".

Und wirklich: je länger man an "Orlo" schnuppert, desto heller wird die Stimmung und der Duftraum beginnt sich zu weiten, so als gewänne er eine zusätzliche Dimension, mit kuppelartiger Höhe und ungeahnt weiter Tiefe.
 
Was mir an "Orlo" neben der schön ausbalancierten Komposition aber besonders gefällt, ist sein Stil, seine Attitüde. Er ist sehr konzentriert und nicht einen Hauch überladen, hat Strahlkraft und dennoch soviel Leichtigkeit, dass er den Träger oder die Trägerin nicht wie eine Duftmauer umgibt. Mit diesen Proportionen erinnert mich der Duft an die Werke von Edmond Roudnitska, sein "Diorella" beispielsweise, das ähnlich schlank, auf unnötige Ornamente verzichtend, klar und kraftvoll erscheint.

Ich empfinde das als extrem wohltuend, angesichts der wuchernden Duft-Opern die einem aktuell in modisch aufgepumpten Extrait-Versionen und mit SUV-hafter Geste in die Nase geballert werden, auf dass man augenblicklich und immerdar weiche.

Glücklicherweise ist "Orlo" aus anderem Holz geschnitzt. Es mangelt ihm nicht nur an überlauter Synthetik, oder schwülstiger Orientalik, nein, als Schlachtross im Getümmel plakativer Parfümerie (alias "Beastmode" im Parfumo-Slang), war "Orlo" ohnehin nicht geplant, dessen bin ich mir sicher - würde als solches auch gar nicht zur introspektiven Lyrik einer Sylvia Plath, erst recht nicht zu ihrem erschütternden letzten Gedicht, zu "Edge" passen, oder?

Aber so sehr sich "Orlo" auch an der Duft-Architektur der Sechziger und frühen Siebziger Jahre orientiert, ein typischer Retro-Duft ist er deshalb noch lange nicht. Die Parfümeurin Anne-Sophie Behaghel wählte nämlich, von einem klassischen, ein wenig an "Mitsouko" erinnernden Chypre-Gerüst (Bergamotte, Blüten, Pfirsich, Patschuli) einmal abgesehen, mit Kaschmirholz, Papyrus und Cetalox durchaus moderne Duftkomponenten.

Überhaupt "Mitsouko". Irgendwie erinnert mich "Orlo" immer wieder an diesen legendären Klassiker, vermutlich des bitteren Fruchtakkordes und der angedeuteten Chypre-Struktur wegen. Der Mendittorosa-Duft wirkt im Vergleich jedoch schlanker, schmalhüftiger, weniger madamig, da von jeglichen Rüschen befreit, und somit klarer, sehniger.

Auch das Mitsouko-typische Eichenmoos fehlt, dessen Aufgabe als Fixativ zu dienen nun in moderner Machart von einem besonders polierten und geglätteten Patschuli übernommen wird, dem sogenannten "Patchouli Cœur". Diesem in sogenannten Neo-Chypres gerne verwendeten Duftstoff wurde zuvor mittels Fraktionierung die ursprünglich knarzig-modrigen Komponenten entfernt, wodurch die Verwandtschaft mit den berüchtigten Hippie-Patschulis nur noch zu erahnen ist.

Allerdings, ein Tröpfchen ungezügelt raues Patschuli scheint Madame Behaghel dann doch in die Basis geträufelt zu haben, denn Mendittorosa nennt neben einem Patschuli im Herzen ausdrücklich ein "Patchouli brut" im Fond. Herausriechen kann ich es zwar nicht, aber dass dieser spannende und vielschichtige Duftstoff, egal ob poliert oder nicht, ein Protagonist auf der "Orlo"-Bühne ist, wird deutlicher, je länger ich mich mit diesem Duft beschäftige.

Bevor ich aber so tief in das Noten-Dickicht eintauche, versuche ich beim Test eines neuen Duftes sämtliche vorab erhaltene Informationen beiseite zu schieben und die Duftentwicklung möglichst unbeeinflusst auf mich wirken zu lassen. Erst nach einer Weile - vorausgesetzt meine Neugierde wurde geweckt - beginne ich dann Aufbau und Inspiration zu hinterfragen.

Im Falle von "Orlo" schien mir aber die Inspiration zunächst nicht recht zum Resultat zu passen. Ein Blick auf die Webseite von Mendittorosa, und mir wurde klar: ich hatte zwar das Gedicht von Sylvia Plath gelesen, aber die Verlinkung mit "Orlo" war doch eine andere als vermutet.

Gewidmet ist der Duft:

For the Fragile
Fighting to open
Light in the Dark

"Orlo" setzt also da an, wo sich Sylvia Plath aufgab: on the edge.

Mendittorosa weiter:

"In respect for all who fight demons and go to the Edge. For those whose garden grows numb. Who needs more land to expand and to let the light inside. Sylvia Plath was a poet of immensity. Her Opus was superhuman. Her special work, erected as if it stood between her unsecure emotional condition and the edge of the abyss. The art was not to fall."

"...am Rande des Abgrunds. Die Kunst war es, nicht zu fallen."

Hier nun soll "Orlo" die Schwankenden abholen. Ob es das kann, weiß ich nicht, aber jetzt versehe ich den Duft besser: er will eine Art Gegengift sein.

Anne-Sophie Behaghel und ihrer Partnerin Amelie Bourgeois vom Pariser "Flair-Studio" haben schon einmal duftende Antidote kreiert: "La-crima", "Phan-tasma" und "Melan-colia" für das französische Nischenlabel Les Liquides Imaginaires.

Die Idee auch hier: Düfte als Therapeutikum. Gegen Trauer, Schwermut und Lustlosigkeit.

"Orlo" eine Art Antidepressivum für Lebensmüde?

Nun, warum nicht - einen Versuch ist's wert. Mir jedenfalls macht der Duft richtig gute Laune: er ist wunderbar aufgebaut, perfekt verblendet, entfaltet eine schöne Aura, ist nicht laut und trotzdem präsent, und last but not least: das Mantra des berühmten französischen Parfumeurs Guy Robert, "un parfum doit avant tout sentir bon!", befolgend - "Orlo" riecht verdammt gut!

Nach all den mehr oder minder aufregenden, manchmal aber auch kruden, teilweise rumpelig zusammengeschusterten Nischen-Sachen, die ich in letzter Zeit von einigen Autodidakt*innen testen durfte, ist dieser Duft richtig wohltuend: allerfeinste französische Duftkunst! Geeignet als Maßstab, die eigene Nase, nach ausgedehnten Ausflügen in die Wirrungen der irrlichternden Indie-Szene, wieder neu zu kalibrieren.

Dass er für alle Geschlechter gleichermaßen geeignet sei (Mendittorosa nennt alle seine Düfte "Unisex"), kann ich weder bestätigen, noch verneinen - ich habe da (fast) keine Berührungsängste. Ob er zu einem passt, mag ohnehin jeder für sich selbst entscheiden. Einen Kommentar habe ich aber gefunden, in dem behauptet wird, er neige sich deutlicher zur femininen Seite.

Mag sein. Ich sehe das nicht so, und im Grunde ist es mir auch egal.

Seltsamerweise findet "Orlo" bisher kaum Resonanz, nicht bei den Youtubern, nicht bei den Bloggern, und ebenso wenig in den einschlägigen Foren.

Woran liegt das?

Nun ja, vielleicht an einer gewissen Gnadenlosigkeit der Szene, die beständig Neues feiert und das gerade eben noch gefeierte genauso schnell auch wieder vergisst. Hat sich ein Label mit halbwegs interessantem Portfolio erfolgreich ins Rampenlicht der "Pitti Fragranze" (der wichtigsten Duft-Messe) bugsiert, darf es sich der ungeteilten Aufmerksamkeit sämtlicher Kommentatoren, Kritiker, Blogger et cetera erfreuen. Wehe aber die Meute zieht weiter, und das tut sie zwangsläufig. Wenn man dann seinen Fuß nicht in die Türen der bekanntesten Nischen-Stores wie "Jovoy" (Paris), "Bloom" (London), oder Online-Versandhändler wie "Aus Liebe zum Duft" bekommen hat, geht man bald sang- und klanglos unter. Aber selbst das Erobern solcher Plattformen, gibt keine Gewähr, dass man sich dort auch halten kann. Viele einstmals heftig beklatschten Labels verschwanden so schnell wieder in der Versenkung wie sie aufpoppten, und nur wenige konnten sich über die Jahre halten.

Ob es dem kleinen neapolitanischen Unternehmen Mendittorosa gelingen wird, bleibt abzuwarten, aber unbedingt zu wünschen.

Mit der Wahl eines Sylvia Plath Gedichtes als Inspiration zu einem neuen Duft hat es jedenfalls Mut bewiesen, zählt die amerikanische Schriftstellerin doch nicht gerade zum Mainstream global funktionierender Erzählkonfektion. Vielmehr dürfte ihre "Confessional Poetry" heute von vielen, aufgrund mangelnder Lyrik-Erfahrung, als sperrig empfunden werden. Erst Recht ihre dunkel gestimmten letzten Gedichte. Das mag natürlich auch die Erwartungen an den Duft beeinflussen (ging mir ja ähnlich), aber - wie gesagt - der Duft ist nicht so düster wie man angesichts der literarischen Inspiration meinen könnte, ganz im Gegenteil. Dennoch ist der Link zur amerikanischen Dichterin da, die sich mit gerade mal dreißig Jahren das Leben nahm.

Wäre "Orlo" dagegen mit populäreren Autorinnen verknüpft, dürfte "Mendittorosa" sich zwar aller Aufmerksamkeit sicher sein, müsste sich aber zugleich des Verdachtes erwehren, mit einem Namen einen mediokren Duft kaschieren zu wollen. Meist kann man sogenannten Celebrity-Düften nämlich bestenfalls Mittelmäßigkeit nachsagen, da eine Positionierung in aller Regel ausbleibt und sie lieber auf irgendeiner hinreichend erprobten Welle daher schwimmen.

Zu dieser Spezies gehört "Orlo" definitiv nicht. Dieses zurückhaltend schöne, ja fast introspektive Parfum, dürfte all jene mit einem Faible für die Kreationen der sechziger und siebziger Jahre ansprechen, als die Düfte noch feingliedriger und sublimer waren, noch nicht so orientalisch überladen wie in späteren Jahrzehnten und weit vom Ambroxan- und Cashmeran-Schwulst unserer Tage entfernt.

Käme man nur leichter an ihn heran!

Tatsächlich gibt es in Deutschland nur eine einzige Quelle für Mendittorosa-Düfte, und selbst dort wartet man mitunter Monate bis der betreffende - vorbestellbare! - Duft eintrudelt.

Erstaunlich eigentlich für eine Marke deren erfolgreichster Duft, "Le Mat", vor ein paar Jahren allerhöchste Weihen erfuhr: die volle Punktzahl in Luca Turins "Perfumes - The Guide". Aber Stefania Sequillas Marketing-Konzept scheint offenbar nicht für größere Margen ausgerichtet zu sein, oder sein zu wollen, da allein die eigenwillige Flakongestaltung erkennbar viel Handwerk verlangt, desgleichen das Zurechtzimmern der hölzernen Boxen. Wer Interesse hat, lese bitte ihr "Manifesto": Zehn bemerkenswerte Leitlinien, die diese sympathische Marke auszeichnen!

Zehn Leitlinien, die zu beherzigen manch anderem Haus sicher ebenso gut zu Gesicht stünde.

Claus Brunner