Intervention

Auflösungsprozesse

Von Richard Herzinger
27.08.2021. Für autoritäre Mächte wie Russland und China ist der Rückzug der westlichen Länder aus Afghanistan ein riesiger Triumph. Sehen sie sich dadurch doch in ihrer Propaganda bestätigt, nach der die westlichen Werte nichts als pure Heuchelei und die Zukunftsversprechen der liberalen Demokratien bloße Trugbilder seien. Es wäre richtig gewesen, in Afghanistan zu bleiben. Nun steht als nächstes wohl das demokratische Taiwan zu Disposition.
Die verheerenden Folgen der Kapitulation des Westens in Afghanistan werden in ihrem vollen Ausmaß erst mit der Zeit deutlich werden. Vorerst richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf den verzweifelten Versuch, in letzter Minute noch möglichst viele afghanische Mitarbeiter der Nato-Truppen vor den Taliban in Sicherheit zu bringen. Millionen von Afghaninnen und Afghanen aber, die auf eine demokratische Zukunft ihres Landes gehofft und in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihre Kraft dafür eingesetzt haben, werden vom Westen sich selbst überlassen und der Willkür der islamistischen Terrortruppe ausgeliefert. Das ist nicht nur eine politische und moralische Bankrotterklärung, sondern zieht auch eine katastrophale Schwächung der globalstrategischen Stellung des Westens nach sich.

Kaum hatten die Taliban Kabul erobert, begannen diverse Außenpolitik-Experten und solche, die sich plötzlich dafür hielten, jedoch sogleich damit, den Schaden kleinzureden und für den kopflosen Abzug scheinbar rationale Rechtfertigungen zu liefern. Der Krieg gegen die Taliban, so heißt es etwa immer wieder, sei schon spätestens vor zehn Jahren verloren und Afghanistan ein "hoffnungsloser Fall" gewesen. Tatsächlich aber liegt der Fall ganz anders: Bevor die USA, und in ihrem Gefolge ihre Nato-Verbündeten, im Frühjahr vergangenen Jahres ihren vollständigen Abzug ankündigten, war die militärische Lage in Afghanistan relativ stabil. Erst diese Ankündigung veranlasste die Taliban zur Großoffensive und setzte den Auflösungsprozess der ohnehin wenig effektiven afghanischen Regierungstruppen in Gang. Es handelt sich um eine selbst herbeigeredete Niederlage des Westens.

Die These von der militärischen Aussichtslosigkeit der NATO-Mission geht mit der Behauptung einher, das westliche nation building in Afghanistan sei auf der ganzen Linie gescheitert. Doch damit wird ignoriert oder geringgeschätzt, welche enormen Veränderungen in den vergangenen zwanzig Jahren dort tatsächlich stattgefunden haben. Eine ganze Generation junger Frauen konnte zur Schule gehen, Universitäten besuchen und berufstätig sein. Frauen spielten als Politikerinnen, Rechtsanwältinnen, Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen eine immer wichtigere Rolle in der afghanischen Gesellschaft. Und auch wenn die demokratischen Wahlen in Afghanistan nur bedingt regulär waren - im Gegensatz zu fast allen anderen Staaten in der Region hat es sie dort immerhin überhaupt gegeben. "Mag sein", schrieb die deutsche Journalistin Silke Mertins kürzlich zu Recht, "dass sich vielerorts auf dem Land zu wenig verändert und die radikalen Islamisten dort weiterhin das Sagen hatten. Doch es hat bisher Orte relativer Freiheit gegeben, eine weibliche Fußballnationalmannschaft und Medienvielfalt." Alles das war unter der Herrschaft der Taliban undenkbar gewesen und wird es unter ihrer neuerlichen Herrschaft wieder sein.

Permanent aber wird in westlichen Medien die Frage aufgeworfen, ob die Taliban denn überhaupt noch so brutal und totalitär seien wie vor zwanzig Jahren. Gerne möchte man sich einreden, diese Mörderbande, die für schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist und sich in erster Linie durch Rauschgifthandel finanziert, habe sich gewandelt oder sei in einen "gemäßigten" und einen "radikalen Flügel" gespalten.

Das Märchen von einer "gemäßigten" Strömung im Totalitarismus taucht in der westlichen Öffentlichkeit reflexhaft immer dann auf, wenn man sich Diktaturen schönreden will - wie etwa die im Iran. Ähnliches hörte man aber zum Beispiel auch, als die radikalislamische Hamas 2006 die Wahl in den Palästinensischen Autonomiegebieten gewann und 2007 in Gaza die Macht übernahm. Damals fehlte es nicht an Experten, die prognostizierten, die Hamas werde sich an der Regierung läutern und demokratische Spielregeln respektieren. Bekanntlich trat das Gegenteil ein, und freie Wahlen hat es in Gaza nie wieder gegeben.

Die Errungenschaften, die von der afghanischen Zivilgesellschaft erkämpft wurden, kamen nicht nur ihr zugute. Jede Erweiterung demokratischer Ansätze irgendwo auf der Welt stärkt zugleich auch die Sicherheit der westlichen Demokratien und ihren globalen Einfluss. Dass Afghanistan ohne Not aufgegeben wurde, fügt daher auch dem Westen selbst schweren Schaden zu - und zwar nicht nur seiner moralischen Reputation.

Die Preisgabe Afghanistans ist auch in rein machtpolitischer Hinsicht ein Fiasko. Die Glaubwürdigkeit namentlich der westlichen Führungsmacht USA und das Vertrauen auf die Zuverlässigkeit ihrer Schutz- und Beistandsversprechen sind damit aufs schwerste beschädigt. Für autoritäre Mächte wie Russland und China ist das ein riesiger Triumph. Sehen sie sich dadurch doch in ihrer Propaganda bestätigt, nach der die westlichen Werte nichts als pure Heuchelei und die Zukunftsversprechen der liberalen Demokratien bloße Trugbilder seien. Längst stehen Moskau und Peking mit den Taliban auf gutem Fuß. Dass der Westen vor diesen die Waffen gestreckt hat, sehen sie als Beleg dafür an, dass er zu ernsthaftem Widerstand gegen seine Feinde nicht mehr willens und fähig sei. Das wird sie zu weiteren Aggressionen anstacheln.

An erster Stelle wird sich nun das demokratische Taiwan verschärftem Druck vonseiten des Pekinger Regimes ausgesetzt sehen. Zwar haben die USA erst kürzlich ihre Beistandsverpflichtung gegenüber Taipeh bekräftigt. Doch nachdem Washington bereits die völkerrechtswidrige Gleichschaltung Hongkongs weitgehend tatenlos hingenommen hat, befeuert das afghanische Desaster die Zweifel, ob die USA im Ernstfall tatsächlich einen Krieg mit China riskieren würden. Peking aber hat bereits vor einiger Zeit offen erklärt, dass es sich Taiwan in jedem Fall einverleiben will - wenn nötig, mit militärischer Gewalt. Dass die chinesische Propaganda jetzt mit Blick auf Afghanistan höhnt, die USA seien nur "ein Papiertiger", belegt den schwindenden Abschreckungseffekt der US-Beistandsverpflichtung. Die kriegerische Expansion Chinas ist damit ein großes Stück wahrscheinlicher geworden.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Der Link zur Originalkolumne folgt.