Intervention

Gepäppelte Form der Verrohung

Von Gisela von Wysocki
08.05.2020. Lieber Thierry Chervel, für Viktor Orbán tut die EU alles. Damit hat er die Zivilgesellschaft in der Hand, er kann sich darüber hinaus aber auch noch ein Ermächtigungsgesetz locker erlauben. Lacy Kornitzer hat im Perlentaucher einen aufsehenerregenden Brief  geschrieben, um seinem Zorn vor Untätigkeit, ja Komplizenschaft der EU zu bekunden. Bitte tun Sie alles, damit Frau von der Leyen ihn zur Kenntnis nimmt.

Perlentaucher Medien GmbH
Herrn
Thierry Chervel
Eichendorffstr. 21
10115 Berlin


Lieber Thierry Chervel,

als eine in Deutschland lebende Essayistin und Schriftstellerin bin ich seit vielen Jahren Leserin des Perlentaucher, im März 2020 hatte er laut IVW rund 713.000 Besucher. In der immer lesenswerten Kolumne "Intervention" wird, nun schon seit zehn Tagen, der Beitrag Laszlo Kornitzers angezeigt: ein Brief an Frau von der Leyen.

In meinen Augen kann er schon jetzt als ein historisches Dokument gelten. Weil er mehr zu sagen hat, als darauf hinzuweisen, dass Viktor Orbán ein selbstherrlicher Despot ist. Ein Machtmensch, der sich ein politisch uneinnehmbares Imperium geschaffen hat. Kornitzers Schreiben handelt von der voraussichtlichen Möglichkeit, vor einer Zukunft zu stehen, in der, vom Beispiel Ungarns ausgehend, ein auf Ethik und Aufklärung zielendes Denken zu einer vollends unbekannten Größe geworden ist. Und es handelt von der schwerwiegenden Verstrickung zwischen Orbán und dem Staatenverbund der Europäischen Union.

Gerade hat ja der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, der in Ungarn aktivste Widersacher Orbáns, die EU ernüchtert - wohl eher ein verzweifelter Hilferuf - als "belächelten bürokratischen Schrottplatz" bezeichnet. So leicht will es ihr Laszlo Kornitzer nicht machen, so einfach kommt sie bei ihm nicht davon. Sein aufgebrachter, man könnte sagen zornbebender Einspruch gilt den abermaligen haarsträubend hohen Geldausschüttungen an Ungarn durch die EU, die die Brüsseler Entscheidungsträger zu Mittätern, zu Erfüllungsgehilfen des ungarischen Staatsmannes machen.

Mit Power und beeindruckend stichhaltig, finde ich, macht Kornitzers Brief nach Brüssel den Stand der Dinge klar. Eine "Barbarei", die man "auf Händen trägt", eine umhegte, mit Wohltaten von ganz hoch oben gepäppelte Form der Verrohung hat einen verheerenden, sich wie schmackhaftes Gift auswirkenden Effekt. Den Effekt einer Droge. Für Viktor Orbán tut die EU alles. Damit hat er die Zivilgesellschaft in der Hand, er kann sich darüber hinaus aber auch noch ein Ermächtigungsgesetz locker erlauben. Auf erweiterter Eskalationsstufe, selbstredend. 1933 hatte es eine vierjährige Gültigkeit, Orbáns Pranke greift dagegen ins ad infinitum. Und die Pranke hat sich eine EU an die Seite geholt, die den unverhüllt faschistischen Erlass konsensfähig macht. "Wer dieses Europa schwächen will, ihm seine Werte nehmen will", hatte Frau von der Leyen (in einer weltweit verbreiteten Rede vor der Europäischen Kommission) im Juli 2019gesagt, "der findet in mir eine erbitterte Gegnerin". 

Ob es gelingt, diese erbitterte "Gegnerin", die Kämpferin, zurück in die Manege zu holen? Der an sie gerichtete Brief, um den es hier geht, hat in seiner bewegenden Couragiertheit, seiner Intensität in Künstler-und Intellektuellenkreisen Deutschlands und Österreichs, wie ich erleben konnte, Furore gemacht. Ob er es bis vor die Augen der Präsidentin der Europäischen Kommission schaffen wird? Orbán oder Nicht-Orbán?, letztlich geht es darum. Noch mal Gáspár Miklós Tamás, der über Ungarn sagte, "es ist ein zum Weinen unglückliches Land." Die schmerzende Diagnose lautet: antrainierter Stoizismus. Mit Hinweis auf eine Narkotisierung.

Dem hat auch Ungarns großer Autor Szilárd Borbély in seinem Roman Die Mittellosen einen Ausdruck gegeben. Er zeichnete "ungarische" Werdegänge auf. Über ihn schreibt Laszlo Kornitzer, er habe sein Land als einen Ort "voller deformierter Leben" gesehen. Voller "Feindseligkeit, Drohungen, Einschüchterungen gegen jene, die sich wehrten". Ein Leben "wie in Lars van Triers Dogville".

Man kann es, darf es nicht den Dichtern und Philosophen überlassen, zu erkennen, wie es um Ungarn steht. Es müssen diejenigen aktiv werden, die kraft ihres politischen Amtes und ihrer hochbezahlten Arbeit dafür Sorge zu tragen haben,  dass ein von Wohltaten der EU besoffener Abzocker und Unterdrücker so nicht mehr zum Zuge kommen darf.

Mit schönen Grüßen an Sie, lieber Thierry Chervel,

Ihre Gisela von Wysocki, Berlin