Link des Tages

Jean-Marie Le Pen, Frankreichs Schande

22.04.2002. "Le cataclyme". Die französische Presse steht nach dem Triumph des rechtsextremen Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen unter Schock.
Die französischen Zeitungen sind schneller als die deutschen, weil sie nicht auf einem so umständlichen Abonnements-System beruhen - darum gibt es auf ihren Interentadressen bereits einige Reaktionen auf die Katastrophe der gestrigen Wahlen. Allerdings scheinen die Adressen wegen starker Frequentierung verlangsamt.

Wie das Undenkbare möglich geworden ist, fragt Jean-Michel Thenard in einer Analyse für Liberation: "Dies war kein erster Wahlgang, dies war eine Sintflut. Man wusste, dass die Franzosen Spieler sind - sie haben mit dem Feuer gespielt... Heute morgen dann der große Kater. Er ist fürchterlich. Auf Frankreich wird mit dem Finger gezeigt, es ist die Schande der Demokratien. Das Frankreich der Aufklärung, das Österreich und Italien so gerne Lektionen erteilte, fand sich gestern Abend um 21.30 Uhr mit einer 'rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen' extremen Rechten im zweiten Wahlgang der wichtigsten französischen Wahlen wieder." Vier Ursachen nennt Thenard für das Debakel: Die Kohabitation zwischen Chriac und Jospin, die den Wählern ein Gefühl der Alternativlosigkeit gegeben hätte, die Identitätskrise der Linken, die Ausbeutung des Themas der inneren Sicherheit und die Geschicklichkeit Jean-Marie Le Pens (hier die Homepage des Front national, die von ihrem Glück noch nichts weiß). Auf der Homepage von Liberation werden auch die Wahlergebnisse der einzelnen Kandidaten verzeichnet.

Auf der Homepage von Liberation findet sich auch die tragische Rücktrittserklärung Lionel Jospins, der trotz einer durchaus nicht erfolglosen Regierungszeit als Ministerpräsident vom Springteufel Jean-Marie Le Pen deklassiert wurde. Außerdem wird in einem Forum über das "Erdbeben Le Pen" diskutiert.

Ein Foto zeigt, dass die französische Linke nun in einem seit uralten Zeiten eingeübten antifaschistischen Reflex gegen Le Pen demonstiert - aber hoffen wir, dass sie sich auch mit ihrer Mitverantwortung für das schändliche Wahlergebnis befassen. Jospin unterlag auch deshalb, weil die Trotzkistin Arlette Laguiller die Voten linksextremer Protestwähler anzog - wenn auch weniger als in den Umfragen vorausgesagt. Nun hat Laguiller die Frechheit, im zweiten Wahlgang gegen ein Votum für Jacques Chirac aufzurufen, der nun als der letzte Demokrat gegen Le Pen antritt.

Auch der konservative Figaro widmet seine ganze Homepage den Wahlen. "Le seisme", das Erdbeben, lautet auch hier der Titel des Aufmachers. Der Sieg für Chirac, der im zweiten Wahlgang nur mehr gegen Le Pen antritt, wird zwar als gesichert angesehen, aber "incroyable", unglaublich findet man diesen zweiten Wahlgang auch im Figaro. In einem Kommentar über die Gründe für Jospins Niederlage schreibt Pascale Sauvage: "Die Idee der 'vielfarbigen Linken', die es ihm erlaubt hat, mit Brio zu regieren, ist wie ein Boomerang auf ihn zurückgefallen, weil sie jede einzelne Strömung der scheinbar komfortabel dastehenden Linken dazu brachte, ihren eigenen Kandidaten aufzustellen."

Le Monde, das wichtigste Institut auf dem französischen Zeitungsmarkt, ist eine Abendzeitung und erscheint in Paris erst gegen Mittag. Die Homepage der Zeitung spielt in Frankreich allerdings eine Rolle, die dem Spiegel-Online in Deutschland ähnelt - sie ist eine der am meisten angesteuerten Seiten in Frankreich. Das scheint heute Morgen um so mehr zu gelten. Ihre Seite brauchte heute morgen um 9 Uhr mehrere Minuten, um geladen zu werden.

"Cataclysme politique en France" lautet der Titel des Le Monde-Aufmachers: "Politisches Erdbeben in Frankreich". In einer Reportage schildert Stephane Dreyfus die Reaktionen in der sozialistischen Walhkampzentrale. "Als Jospin seinen Rückzug aus dem politischen Leben ankündigt, ist das eine zweite Ohrfeige. Es herrscht totale Bestürzung. Tränen fließen zum zweiten Mal aus bereits geröteten Augen. Dann wird diskutiert. Die einen fühlen sich verlassen und wissen nicht mehr, was sie denken sollen. Die anderen denken, dass er recht hat mit seiner Demission..."

In einer weiteren Analyse macht Gerard Courtois, ähnlich wie der Figaro, die Zersplitterung der Linken für Jospins unnötige Niederlage verantwortlich. Die drei trotzkistischen Parteien versammeln elf Prozent der Stimmen auf sich. Und die Strömungen der "vielfarbigen Linken" konnten sich nicht auf gemeinsame Kandidaten verständigen - zusammen hätten sie 33 Prozent gehabt. Das alles kann die bittere Erkenntnis nicht verdrängen: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik erscheint die extreme Rechte als die zweitstärkste politische Kraft in Frankreich, und Frankreich stellt eine Ausnahme unter den großen eruopäischen Ländern dar."