Link des Tages

Vorläufiges Aus für Lettre Ulysses Award

02.10.2006. Warum fördert die Aventis Foundation den Lettre Ulysses Award nicht weiter? Und warum interessiert sich der deutsche Journalismus so wenig für Reportagen? Von Thierry Chervel
Es ist schade. Schade, dass der Lettre Ulysses Award nach vier Jahren nun zum letzten Mal verliehen wird - falls sich nicht ein neuer Sponsor findet. Schade, dass die Aventis Foundation, die den Mut hatte, einen so aufwändigen Reportagepreis zu finanzieren, das erfolgreiche Projekt nach vier Jahren einfach fallen lässt. Schade, dass die deutsche Presse - anders als die internationalen Medien - dem Preis so wenig Bedeutung zumisst: Heute berichtet keine der großen Zeitungen über die Verleihung des Preises am Samstag. Das zeigt, wie wichtig die deutschen Zeitungen das Genre der Reportage tatsächlich nehmen.

Der Kisch-Preis in allen Ehren - aber der Lettre Ulysses Award ist das wichtigere Projekt. Bei der Verleihung am Samstag verglich ihn jemand mit dem Nobelpreis. Das mag ein wenig hoch gegriffen sein, zumal der Nobelpreis für ein Lebenswerk verliehen wird. Aber ganz falsch ist der Vergleich nicht: Wahrheit ist eine komplizierte Angelegenheit, besonders nach dem Mauerfall, dem Ende der Illusionen und dem 11. September. Da helfen nur noch gedudige Zuwendung, genaue Unterscheidung und ein emphatischer Wahrheitsbegriff, der im Westen längst unter dem Diskurs- und Simulationsgerümpel postmoderner Denkschulen begraben war. Die literarische Reportage leistet hier mehr als Romane und Gedichte. Sie ist kruder, näher dran, blutiger und in 90 Prozent der Fälle auch spannender. Vielleicht sollte auch die Schwedische Akademie einmal einen großen Reporter auszeichnen, um die Tatsache anzuerkennen, dass die Literatur ein wenig in diesem Blut baden sollte.

Nach dem 11. September stürzten sich plötzlich alle auf das uferlose bin-Laden-Porträt Mary Anne Weavers, das im New Yorker erschienen war, als sich noch niemand für Afghanistan und seine bizarren Rebellen interessierte. Für die Wahrnehmungsweisen des Tagesjournalismus scheinen große Reportagen eigentlich immer erstmal zu spät zu kommen, aber dieser Fall zeigt wie manche andere in den letzten Jahren, dass die große literarische Reportage die Avantgarde der Weltgeschichte ist.

Frank Berberich, Gründer der fabelhaften Lettre International in Deutschland, hat für seinen großen Preis ein komplexes Modell ersonnen: Mehrere Jurys in den großen Sprachkreisen der Welt sichten die Buchmärkte. Es werden Vorschläge gemacht, große Teile von Reportagen ins Englische übersetzt, damit überhaupt eine gemeinsame Basis für einen Vergleich entsteht. Nach unendlichen Sitzungen und Koordianationskunststücken legt man sich auf eine Longlist, dann auf eine Shortlist von sieben Büchern fest, unter denen bei der jährlichen Preisverleihung im Berliner Tipi-Zelt die drei Preisträger auserkoren werden. Die Preise sind hoch dotiert: 20.000 Euro für den dritten, 30.000 für den zweiten und 50.000 für den eigentlichen Lettre Ulysses Award.

In diesem Jahr ging der erste Preis an Linda Grant für eine Reportage über Israel, der zweite an Erik Orsenna für eine Reportage über die globalisierte Baumwollindustrie und der dritte an die Reporterin Juanita Leon, die eine Chronik des Bürgerkriegs in ihrem Land Kolumbien verfasste. Nähere Informationen zu diesen drei Büchern - auch und gerade für deutsche Verleger! - auf der Seite des Awards.

Der Lettre Ulysses Award war seiner Zeit mehrfach voraus. 2004 zeichnete die Jury die chinesischen Journalisten Chen Guidi und Wu Chuntao aus, deren Bericht über das Leben der chinesischen Bauern in der Folge Furore machte und inzwischen bei Zweitausendeins auch ins Deutsche übersetzt wurde. Lange bevor die afrikanischen Flüchtlinge an den europäischen Südgrenzen zum großen Thema wurden, wählte die Jury des Lettre Ulysses Award Paulo Mouras Reportage "Im Wald von Missnana - Ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europa" in die Shortlist (die damals vom Perlentaucher vorabgedruckt wurde). Auf der Shortlist dieses Jahres finden sich etwa Majnushee Thapas Reportage "Forget Kathmandu - An Elegy for Democracy" über den Krieg in Nepal, Zhou Qings zugleich witzige und bestürzende Reportage über die Machenschaften der chinesischen Nahrungsmittelindustrie und Li Datongs Bericht über einen chinesischen Dorftyrannen (hier unser Vorabdruck).

Warum fördert die Aventis Foundation den Preis nicht weiter? Immerhin: Es ist ungewöhnlich genug, dass eine Unternehmensstiftung den Mut hatte, einen durchaus politischen Preis zu unterstützen, bei dem auch der Kapitalismus nicht immer gut wegkam. Dafür ist die Stiftung zu würdigen. Aber ein solches Projekt braucht Dauer und Hingabe, auch der Geldgeber. Die öffentliche Wahrnehmung ist zäher und bürokratischer, als man es sich im allgemeinen Klagen über ihre Schnelligkeit und die Informationsflut ausmalt. Journalisten preisen Neues erst dann, wenn einer ihrer Stichwortgeber grünes Licht gibt. Und Hierarchen sind langsam.

Schade!

Der Preis ist das beste, was dem Journalismus in den letzten Jahren widerfahren ist. Gerade Medien sollten sich einsetzen - warum nicht auch mit Geld? - damit der Lettre Ulysses Award weiterhin den Rohstoff fördert, der auch zu ihrem eigenen Überleben beiträgt.

Thierry Chervel