Magazinrundschau - Archiv

VAN

3 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 18.01.2022 - VAN

Was bringt der Kunstmarkt-Hype um die NFTs der Klassik, insbesondere nach den letzten beiden Jahren mit eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten? Felix Linsmeier wirft nicht nur einen (sehr kritischen) Blick auf die Technologie und "anarchokapitalistische" Ideologie, die hinter den NFTs steckt, sondern warnt auch vor allzu sorglosem Enthusiasmus. Mit "Betty's Notebook", einer Arbeit des Vokalensembles Verdigris, die sich NFTs und deren Grundlage in der Blockchain-Technologie auch für die ästhetische Gestalt als Strukturelement zunutze macht (hier dazu Hintergründe und dort die "Experience), hat ihn dann aber doch noch ein Werk überzeugen können: Diese Arbeit "ist nicht nur in seinem Verkaufswert ein beachtliches Beispiel, sondern eines der sehr wenigen, die es verstehen, das Konzept NFT als für das Werk konstitutiv zu nutzen (ein ähnliches Beispiel für programmable music ist das Projekt Mozart Beats). Der simple Verkauf von Aufnahmen kann natürlich funktionieren, wenn Nachfrage herrscht, doch solange die Werke aus dem formalen Rahmen getrennt werden können, drohen ihnen Bedeutungsverlust und Austauschbarkeit. Krypto-Prophet:innen werben mit vermeintlich innovativen Ideen wie der Kopplung von Tickets an Albumkäufe, Crowdfundingmodelle oder Privatsponsoring à la Patreon, doch sind das alles längst etablierte und funktionierende Konzepte, für die ein Umzug auf die Blockchain keinen ersichtlichen Mehrwert bietet. Und das gilt wohl für die meisten der umjubelten futurischen Projekte: So wie Elon Musks innovativ-bahnbrechendes Verkehrskonzept Loop beim genaueren Hinsehen nur eine sehr, sehr, sehr schlechte U-Bahn aus Autos ist, sind die meisten angepriesenen innovativen Potentiale der NFTs nur Transpositionen längst existierender Vermarktungsmodelle auf die komplizierte dezentrale Struktur mit all ihren Problemen und Gefahren. Die proklamierte 'Revolution' ist (bisher) keine der Kunst, sondern allerhöchstens des Kunstmarktes. Der Umsturz vollzieht sich aber weniger an der Beschaffenheit dessen - Wertbildung, Auktionsmodelle und Spekulantentum, oder auch Geldwäsche sind ja erhalten geblieben - als in den radikalen Verhältnissen in einer libertären Ideologie, wie sie in bisherigen Handelsräumen kaum denkbar waren."

Magazinrundschau vom 04.01.2022 - VAN

Für VAN hat Stefan Siegert den Komponisten Heiner Goebbels zu einem ausführlichen Werkstattgespräch in seiner großen, lichten Wohnung - "ich muss stehen bei der Arbeit und herumlaufen, das heißt, mein Körper muss mitarbeiten", erzählt Goebbels - besucht. Unter anderem geht es um sein Problem mit "Zentralität", das ihn zuletzt auch vom Besuch von Konzerten abgehalten hat. Diese verenge "die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung". Für seine neue Arbeit "House of Call" suchte er "nach dezentralen Strukturen, nach Möglichkeiten, das naheliegende Zentrum leer zu lassen, nach vielstimmigen Perspektiven." Eine zentrale Position begünstige "eine totalitäre Richtung, die ein solches Konzert mit großem Orchester nolens volens vorgibt. ... Ich habe deswegen das Orchester um neunzig Grad gedreht, hatte bis zur Generalprobe aber riesige Zweifel, ob das funktioniert", nämlich vor allem "hinsichtlich der Akustik und der Kommunikation zwischen den Orchestermusikern. Aber ein Gräuel für mich wäre auch, wenn das jemand für einen 'Regieeinfall' halten könnte. Solche Einfälle, die keinen anderen Grund haben als aufzufallen, sind für mich das Erbärmlichste, was man auf die Bühne bringen kann." Doch "es funktioniert nicht nur akustisch und musikalisch, da ich durch die Mikrophonierung und Verstärkung der Instrumente dem Ton die gewünschte Richtung geben kann. Ich habe auch selbst sofort genossen, dem Dirigenten wie den Musikern bei der Arbeit zuzuschauen. Dadurch, dass der Dirigent jetzt rechts außen am Bühnenrand steht, schaue ich in die Orchesterarbeit quasi von der Seite hinein, wie in ein Labor. ... Man hat als Zuschauer die Freiheit herumzuschauen - was leichter fällt, da es kein Zentrum mehr gibt. Ich war sehr erleichtert über die Transparenz, die die Orchesterarbeit dann bekommt, vor allem vor dem Hintergrund, dass meine Komposition sich ja nicht in erster Linie ans Publikum richtet, sondern das Orchester den zugespielten 'Stimmen' antwortet." Ein kleiner Einblick:

Magazinrundschau vom 01.09.2020 - VAN

Sehr bewegend ist der Bericht des Dirigenten Vitali Alekseenok, der die Wahlen in Belarus und die sich daran entflammende, immer energischer und selbstbewusster auftretende Protestbewegung aus nächster Nähe - vom Wahlabend über die flächendeckende Netzblockade bis zum Protest auf den Straßen - miterlebt hat. Vor allem auch die Künstler stellten sich auf die Hinterbeine, etwa im Projekt "'Symphonie der Solidarität', eine Collage von musikalischen Klängen, die von Dutzenden unterschiedlichster Musiker:innen aufgenommen wurden, zusammen mit den Originalklängen der Autos, der Polizei und der Zivilbevölkerung während der Proteste. ... In der ganzen Zeit der Proteste haben Belarussen kein einziges Schaufenster zerstört, keine Gewalt initiiert. Menschen bringen für ihre Mitstreiter Wasser und Essen, warten bei Rot an der Ampel, skandieren 'Aufräumen!', wenn sie einen Versammlungsort verlassen. Noch nie habe ich das belarussische Volk als eine Gruppe so intelligenter, höflicher und hilfsbereiter Menschen erlebt. Selbst wenn der Wendepunkt noch nicht in den nächsten Tagen kommt, wird es nicht mehr lange dauern. Jeden Tag begegnen wir der menschlichen Würde, welche ich so intensiv noch nie erfahren habe. Jetzt brauchen wir eine Regierung, die unserer würdig ist."

Kathrin Bellmann hat für ihre Doktorarbeit erforscht, was vom Probespiel zu halten ist, mit dem sich Orchester ihren Nachwuchs rekrutieren. Nicht so wahnsinnig viel, erklärt sie im Gespräch: Die Reliabilität fehle, "also die Zuverlässigkeit in der individuellen Bewertung, das heißt: Jemand bewertet ein und dieselbe Performance beim ersten Mal hören anders als beim zweiten Mal. ... Ein ganz bekannter Messfehler ist der Halo-Effekt: Mangels Bewertungskriterien hänge ich mich an einem Detail auf. Im Falle des Probespiels sagt dann die eine: 'Dieser Triller, der war brillant, wir müssen den haben in unserem Orchester.' Und ein anderer meint: 'Der hat das c viel zu tief gespielt, den können wir auf keinen Fall nehmen.' Man muss sich eben der Tatsache stellen, dass die menschliche Bewertung sehr fehleranfällig ist, und einen möglichst guten Weg finden, damit umzugehen. Das kann funktionieren, wenn man im Vorfeld Bewertungskriterien wie Intonation, Artikulation, Rhythmus, Phrasierung, … festlegt und diese beim Bewerten auch nutzt, beispielsweise in Form einer Ratingskala."

Mitunter ins unfreiwillig Komische driftet ein Gespräch mit Timothy Morton ab, der als "Star der neuen Philosoph:innen" vorgestellt wird und seine Ideen in enger Wechselwirkung mit Musik entwickelt. Zumindest im Interview beschleicht einen allerdings der Eindruck, man könne hier den Niedergang der Dekonstruktion zur Esoterik beobachten: Die Art, wie Zeit gemessen wird, sei eine "koloniale Ideologie" zum Zwecke der Unterwerfung, lesen wir. Fakten helfen nicht weiter bei der Gestaltung der Zukunft, Gefühle hingegen schon, denn die seien selbst "aus der Zukunft", auch habe alles Lebendige "eine spezifische Schwingung", entsprechend sei "Quantentheorie freundlich, sie verbindet uns mit allem Lebendigen, sie ist also eigentlich politisch sehr fortschrittlich." Und überhaupt "kann uns Kunst als Erfahrung dabei helfen, unsere Beziehung zum Nichtmenschlichen zu verstehen. Wenn ich heute Musik höre, die mich im Innersten bewegt, dann habe ich morgen vielleicht Mitgefühl mit einem Seevogel oder einem Igel im Garten."