Magazinrundschau
Ein seltsamer organischer Prozess
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
18.01.2022. Eurozine erzählt, wie regimetreue Intellektuelle in Russland Europa als Quelle der Innovation abschreiben - der neue Bezugsraum heißt "Eurasien" und reicht von Dublin bis Tokio. Desk Russie erinnert an den "Ascharschylyk" - so bezeichnen die Kasachen den stalinistischen Hungermord, der noch vor dem ukrainischen Holodomor verübt wurde. Anderthalb Millionen Kasachen sind verhungert, Russland fühlt sich durch die Erinnerung daran gestört. Der New Yorker fragt, passiert, wenn der Permafrostboden Sibiriens seine anderthalb Billionen Tonnen CO2 und Methan freisetzt.
Eurozine (Österreich), 17.01.2022

Anastassiya Schacht kann sich noch keinen Reim auf die Ereignisse in Kasachstan machen. Nach den Protesten hat Präsident Tokajew nicht nur die Regierung gefeuert, sondern auch hochrangige Militärs verhaften lassen: "Geht es um Proteste, die in Gewalt umschlugen und von den Behörden rigide niedergeschlagen wurden? Das würde bedeuten, dass die kasachische Führung in Panik geraten war - das wäre möglich, auch wenn dies nicht die ersten Proteste im Land waren. Diese Interpretation erklärt nicht die drastischen Maßnahmen an der politischen und militärischen Spitze. Sie erklärt auch nicht, warum sich die kasachischen Sender beharrlich weigern, die Hauptstadt mit ihrem neuen Namen Nur-Sultan zu bezeichnen - nach dem langjährigen Ex-Machthaber Nasarbajew. Tokajew äußert sich stets sehr vorsichtig, wenn es um die Macht der Oligarchen geht, doch jetzt verband er erstmals Nasarbajews Namen mit Kräften, die unrechtmäßig und exzessiv politische und ökonomische Macht angehäuft hätten. In einer Rede am 11. Januar rief Tokajew diese Kräfte auf, ihren Teil zu nationalen Ökonomie beizutragen. Solche Äußerungen legen die Vermutung nahe, dass hier ein Machtwechsel vollzogen wird, und dass Nasarbajews Verbündete nun entweder dem neuen Präsidenten ihre Loyalität beweisen müssen oder im Gefängnis landen werden. Unklar bleibt, ob sie versucht hatten, mit einem Coup ihre Macht zu sichern oder die Proteste für ihre Zwecke gekapert haben. Andererseits kann Tokajew die Proteste auch genutzt haben, um seine Vormachtstellung abzusichern."
Desk Russie (Frankreich), 14.01.2022

"Acharchylyk" (mag sein, dass die Transliteration ins Deutsche Ascharschylyk lauten müsste, im Englischen Asharshylyk) ist ein hierzulande komplett unbekanntes Schlagwort. Die Sache, für die es steht, ist aber auch in Deutschland schon in Büchern verhandelt worden, etwa in Robert Kindlers Studie "Stalins Nomaden - Herrschaft und Hunger in Kasachstan" aus dem Jahr 2014 (mehr dazu hier und hier). Das Wort bezeichnet den kasachischen Holodomor, also den stalinistischen Hungermord an anderthalb Millionen Kasachen, noch vor den Verbrechen in der Ukraine. Die Zahl der Toten entsprach einem Drittel der Bevölkerung des riesigen Landes. Stalin wollte das Nomadentum abschaffen, erzählt Galia Ackerman: "Parallel zur Dekulakisierung in Russland und der Ukraine wurden die Beys, das heißt mehrere hundert kasachische Clanführer, vollständig ihres Viehbestands beraubt, um ihnen die Autorität zu nehmen. Dann wurden sie deportiert oder sogar hingerichtet. Anschließend erfolgte eine erzwungene Sesshaftmachung: Stalin bildete sich ein, dass die neuen Bauern die Steppe zu nutzen wüssten, indem sie sowohl Weizen als auch Fleisch und Milchprodukte produzieren würden. In der Praxis entwickelte sich diese utopische Idee zu einem Albtraum: Die Zentralmacht wollte die kasachische Bevölkerung und ihr Land ausbeuten, hielt es aber für unnötig, in die Infrastruktur zu investieren… Um die Quoten für Weizen zu erfüllen, wurden die Kasachen gezwungen, ihr Vieh gegen lächerliche Mengen Getreide einzutauschen, was ihr Todesurteil war, da sie nichts mehr übrig hatten. Überall verendeten die Tiere aufgrund der ungeeigneten Bedingungen, einschließlich Futtermangel und großer Kälte: Innerhalb von zwei Jahren verlor die Republik bis zu 90 Prozent ihres Viehbestands." Erst seit einigen Jahren wird diese Geschichte gegen erbitterten Widerstand aus Russland von kasachischen Historikern aufgearbeitet, jüngst wurde eine dreibändige Sammlung von Zeugenaussagen präsentiert. Ackerman empfiehlt als weitere Lektüre das Buch "The Hungry Steppe - Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan" der Historikerin Sarah Cameron.
New Yorker (USA), 17.01.2022

Außerdem: D.T. Max porträtiert die Moderedakteurin und Schriftstellerin Hanya Yanagihara. Hilton Als taucht ein in die metaphysische Welt des Filmregisseurs Apichatpong Weerasethakul. Ian Buruma liest Jing Tsus Buch "Kingdom of Characters: The Language Revolution That Made China Modern". Und Anthony Lane sah Asghar Farhadis Film "A Hero".
Magyar Narancs (Ungarn), 09.01.2022

New York Times (USA), 16.01.2022

VAN (Deutschland), 12.01.2022

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 18.01.2022

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