Mord und Ratschlag

Die Krimikolumne.
Leseprobe: "Sterntaucher" von Astrid Paprotta


Astrid Paprotta: "Sterntaucher". Roman
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002
Gebunden, 406 Seiten, 19,90 Euro




Klappentext:

Für Dorian Kammer ist es der Tag, an dem er den Boden unter den Füßen verliert: Als der junge Streifenpolizist zu einem Leichenfund gerufen wird, muß er entsetzt feststellen, dass der Tote sein jüngerer Bruder Robin ist - brutal ermordet. Für Kommissarin Ina Henkel wird schnell klar, daß der Grund für den Mord in der Vergangenheit der beiden ungleichen Brüder zu suchen ist. Robin und Dorian Kammer waren noch Kinder, als ihre Mutter - eine Sängerin, deren kurze Karriere in einem Desaster endete - sie bei Pflegeeltern abgab und danach verschwand. Während Dorian zur Polizei ging, geriet sein Bruder immer mehr auf die schiefe Bahn. Bei ihren Ermittlungen stößt Ina Henkel auf Lebensspuren einer faszinierenden, aber verletzlichen Frau, deren Charisma sie immer mehr in Bann zieht. So sehr, daß sie fast zu spät entdeckt, daß auch der treue Polizist Dorian nicht die ganze Wahrheit sagt ....


Zur Autorin:
Astrid Paprotta wurde in Düren, einer Kleinstadt in NRW, geboren. Sie studierte Psychologie und arbeitete in psychiatrischen Einrichtungen sowie in Ämtern und Behörden, landete dann beim Journalismus und schrieb Reportagen, Essays und sogar ein wenig Feuilletonistisches.
1997 erschien ihr erster Roman "Der Mond fing an zu tanzen", dann 1999 der Kriminalroman "Mimikry" und 2001 das gemeinsam mit Constanze Kleis verfasste Buch "Wau! Die wunderbare Welt von Mensch und Hund".


Leseprobe:

Katja Kammer wollte die Sterne vom Himmel holen. Auf einem alten Foto stand sie nachts auf einer Straße und hob die Hände, als sei es leicht, sie zu fangen. Sie trug ein rotes Kleid, das schwarze Haar fiel ihr bis auf den Rücken, und sie lachte den sternenklaren Himmel an. Im Hintergrund konnte man die Kinder sehen, Dorian, wie er winkte, und Robin mit einem Teddy im Arm. Familienglück hatte die Zeitschrift über das Foto geschrieben, Katja Kammer und ihre kleinen Söhne. Es war Dorians Lieblingsbild, weil es so fröhlich war, doch Robin konnte es nicht leiden, denn ihm fehlte darauf das rechte Bein. Der Fotograf hatte merken müssen, hatte Robin immer gesagt, daß er auf diesem Bild gar nicht vollständig war, also überhaupt kein richtiger Mensch.
Damals war der Fotograf der Freund ihrer Mutter, und sie lebten alle zusammen in einem Dorf mit Feldern, Wiesen und Bergen. Direkt vor ihrem Haus begann ein schmaler Weg, und wenn man da durchgekrochen war, stand man auf einem riesigen Feld. Das war, als liefe man durch einen Luftballon, während er aufgeblasen wurde, erst war alles eng und gedrängt, und dann wurde es groß und weit und rund. Man konnte rennen ohne Ende, konnte die ganze Welt besiegen, wenn man auf einer Bank stand und nur die Bäume und die Berge größer waren als man selbst. Seit jener Zeit hatte Dorian Kammer nie wieder die Berge gesehen.
An das Gesicht des Fotografen konnte er sich nicht erinnern, wohl aber daran, daß er manchmal mit ihm Fußball spielte, während Katja mit Robin, der noch zu klein zum Kicken war, im Gras auf einer Decke lag. Doch die Leute im Dorf mochten sie nicht. Sie hatten keine Ahnung, daß Katja Kammer eine berühmte Sängerin war, oder sie wußten es und gingen ihr deshalb aus dem Weg. Immer knurrten die Hunde, wenn sie an fremden Höfen vorübergingen, die Leute hatten Schäferhunde, die alles bewachten, hängten Bilder von ihnen ans Hoftor und schrieben darunter, daß der Köter Halunken vertrieb und gefährlich war und in fünf Sekunden am Tor. Robin weinte immer, sobald er das dunkle, böse Knurren hörte, und Katja beschimpfte die Hunde und die Leute, denen sie gehörten.
Fotos aus jener Zeit zeigten Katja Kammer in ziemlich kurzen Kleidern oder in halb zerrissenen Jeans, manchmal mit einem Weinglas und meistens mit einer Zigarette in der Hand. Sie fand es komisch, daß das Zentrum des Dorfes auf einem Schild Stadtmitte hieß und es kein Cafe, dafür aber drei Apotheken gab. Lange hatten sie nicht dort gelebt. Das letzte Bild war das Trümmerbild und zeigte ein ziemliches Durcheinander in ihrem Häuschen, überall standen Koffer und zusammengeschobene Möbel. Das hatte Katja selber aufgenommen, darum war es auch ziemlich verwackelt. Für Dorian war das Sternenbild überhaupt das schönste Foto von Katja Kammer, weil seine Mutter darauf die Sterne fing, ohne sich darum zu kümmern, ob es ging. Über die Sterne hatte sie auch ein Lied geschrieben, über zwei kleine Jungs, die einen Kopfkissenbezug aus dem Fenster halten, um alles, was am Himmel war, darin zu sammeln. Der Bezug wurde schwerer und schwerer, doch als sie ihn ans Ohr hielten, hörten sie die Sterne spannende Geschichten erzählen, von der Sonne und der Erde und vom Mond. Das Lied hieß Sandmännchen für Robin und Dorian, und es war das letzte Lied, das Katja Kammer auf einer Bühne gesungen hatte.

Es war ein paar Wochen, nachdem sie aus dem Dorf zurückgekommen waren, der Fotograf war nicht mehr dabei. Der Saal war halb leer, denn viele Leute, die sie geliebt hatten, erinnerten sich nicht mehr an die Liebe. Jemand warf eine Coladose, als sie die ersten Zeilen des Sternenliedes sang, und weil es ein langsames Lied war, bei dem nur das Klavier sie begleitete, war das Geräusch auch so laut und häßlich, als die Coladose auf die Bühne flog. Doch niemand protestierte, viele lachten und klatschten, und Katja rief ins Publikum, daß Cola ein schlechter Einfall war, Bier wäre ihr lieber gewesen und der Arsch solle sich das merken; "wo bist du überhaupt", hatte sie gerufen und die Augen mit einer Hand vor dem Scheinwerferlicht geschützt, "komm her, du Arsch, ich kann dich nicht sehen." Er meldete sich aber nicht, und während der Saal zur Hölle wurde, mit diesem Höllengeräusch aus Gelächter und Pfiffen, Schimpfwörtern und Flüchen, hob Katja Kammer oben auf der Bühne den Mittelfinger und ging. Das war ihr letzter richtiger Auftritt gewesen und in der Zeitung hatte gestanden: Kammer kaputt. Manchmal war es ja so, daß Zeitungen logen.
Dorian erinnerte sich daran, er erinnerte sich an alles, nur nicht an das Gesicht des Coladosenwerfers. Ein Kopf im Schattenlicht, Schultern, ein Arm; so oft hatte er sich ausgemalt, wie er wohl aussah, doch es war ihm nicht gelungen. Sogar jetzt mußte er wieder an ihn denken, als er den toten Körper im Gras liegen sah, ob nicht der Coladosenwerfer die Schuld daran trug, daß alles so gekommen war.
Der Mann ohne Gesicht. Robin und Dorian hatten in der ersten Reihe gesessen und ihr Lied hören wollen, Katjas Lied von den Sternen, und wenn sie es auch an diesem Abend nicht richtig gesungen hatte, so war Dorian doch sicher gewesen, daß sie zurückkehren und es zu Ende singen würde, viele Jahre lang hatte er das geglaubt.
Er suchte die Sterne, doch kein Licht drang durch die Zweige der Bäume, ringsum nur Dunkelheit. Es war still. Er atmete kaum. Er kniete auf dem Boden und spürte die warme, feuchte Luft auf seiner Haut, unter seinen Händen Erde und Blätter vom Baum. Langsam kroch er nach vorn, und das Geräusch, das er dabei machte, das Schleifen seiner Schuhe auf dem Boden, war das einzige, was zu hören war. Vor ihm, wie ein Schattenriß, der Stein.
Was sonst, es gab nur Steine hier, Steine und Knochen und Erde und Gras, und er tastete nach seiner Taschenlampe, um zu gucken, wer da lag.
Grauschwarze Buchstaben unter der Flamme, MARIA ... RUHE
IN ...
Er hörte seinen Atem wie ein Keuchen oder Schluchzen, doch war es lange her, seit er geweint hatte, Jahre. Außerdem kannte er die Leute ja nicht, Maria, wer immer das gewesen war, und Paul, ihr lieber Mann daneben, PAUL MEIER-MARTINI ... 1941
Auf einem Grabstein sah ein Doppelname noch viel blöder aus.
Er sah zurück zum Tor, sah das zuckende Licht des Streifenwagens und hörte Nicole mit dem Mann reden, der sie gerufen hatte, doch hier war er ganz allein. Keine Maria, kein Paul, kein richtiger Mensch mehr auf diesem Fleckchen Erde außer ihm. Er kroch weiter, bis seine Hand die andere Hand berührte, sie war kalt. Erneut nahm er die Taschenlampe und sah etwas Weiches, Dunkles, etwas, das zu fließen und sich wie das letzte Viertel des Mondes über die Erde zu legen schien.

Mit freundlicher Genehmigung des Eichborn Verlags