Mord und Ratschlag

Abschied vom Mordgeschehen

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
15.02.2021. Merle Kröger erzählt in ihrem meisterhaften Roman "Die Experten" von den Nazi-Wissenschaftlern und SS-Offizieren, die Ägyptens Präsident Nasser mit Raketen für einen Krieg gegen Israel austatteten. Der Dörlemann Verlag legt die Kate-Fansler-Romane von Amanda Cross wieder auf. Eine letzte Krimikolumne.
Cover: Die ExpertenMerle Kröger gehört zu den großen Autorinnen des feministischen Kriminalromans. Für ihren sechshundertfünfzig Seiten umfassenden Roman hat sie mehr als fünf Jahre lang recherchiert, in Kairo und in den Archiven des BND. "Die Experten" ist ein Meisterwerk. Es ist ein dokumentarischer Roman, der die Geschichte jener deutschen Nazi-Ingenieure rekonstruiert, die erst für die Nazis Raketen und Flugzeuge bauten und anschließend dem Ägypten von Präsident Nasser dienten, der mit ihrer Hilfe Krieg gegen Israel führen wollte. Im Kairo der sechziger Jahre tummelten sich hochrangige SS-Männer, gesuchte und untergetauchte Kriegsverbrecher wie der Gestapo-Chef Otto Skorzeny.

Merle Krögers Roman beruht auf der wahren Familiengeschichte einer Freundin der Autorin. Der dokumentarische Roman ist ein hybrides Genre, das oft Gefahr läuft, die Grenzen zwischen dem Faktischen und dem Fiktionalen zu verwischen, Geschichte umzuschreiben oder zu verflachen. Merle Kröger umgeht all diese Untiefen. Sie bleibt historisch den Tatsachen treu und eröffnet zugleich einen Vorstellungsraum, wie ihn nur die Literatur schafft.

Im Mittelpunkt ihrer fiktionalisierten Geschichte steht ein junges Mädchen, die sechzehnjährige Rita Hellberg, die mit ihren Eltern nach Kairo kommt, ihr Vater ist Flugzeugkonstrukteur, der sich trotz eines Hangs zum Okkulten dem Fortschritt verbunden glaubt und im ägyptischen Raketenprogramm allein den Geist der Pharaonen sehen will, das Wirken von Astronomie und Mathematik, nicht den Hass auf Israel. Die neurotische Mutter weigert sich, in Ägypten auch nur auf die Straße zu gehen, sie verbarrikadiert sich in ihrem geputzten Haus. Die jüngere Schwester, zeitgemäß Pünktchen genannt, ist ein aufgewecktes, liebenswertes Kind, die personifizierte Unschuld. Der ältere Bruder Kai ist in Hamburg geblieben, er ist auf bestem Wege das zu werden, was sein Vater verachtet: ein Gammler. Es ist nicht unbedingt eine Bilderbuchfamilie, aber sie will ihre Idee davon aufrecht erhalten. Es ist ein Fotoalbum, das wir hier aufschlagen, die Bilder müssen wir uns selbst vorstellen, die Bildunterschriften durchziehen den Roman: Unser Haus, unser Auto, Mutti auf dem Weihnachtsbasar.

Rita ist zwar nicht ganz freiwillig in Ägypten, aber jung und unternehmungslustig und voller Neugier auf das Land, auf die Menschen und überhaupt auf das Leben: "Sie rebelliert nicht, wenn es keinen Sinn hat zu rebellieren." Sie beginnt als Sekretärin beim Raketenprogramm mit den Ingenieuren zu arbeiten, die zuvor in Peenemünde die V2 gebaut hatten, und genießt das tolle Leben in Kairo: Die große Villa in Maadi, der mondäne Sportclub, Kuchen im Groppi, Whiskey im Nile Hilton und Henkell Trocken in der deutschen Botschaft. In Kairo, da sind sie wer: German Experts. Übrigens, da vorne geht's nach El Alamein.

Doch die Umstände machen Ritas Karriere einen Strich durch die Rechnung, im Gegensatz zu ihrem Vater kann sie sich nicht vom Opportunismus verführen lassen: Plötzlich verschwinden Ingenieure und niemand weiß, ob sie der israelische Mossad oder der ägyptische Mukhabarat entführt hat. An die Labore werden Briefbomben geschickt, die etliche Mitarbeiter töten. Und aus Hamburg schickt Kai seinen Freund Johnny, einen Reporter von der konkret. "Nassers Zigarren" werden allmählich auch in Deutschland Thema, Israel macht Druck, und auch wenn Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die ägyptischen Programme unterstützt, kann Bonn sie nicht länger tolerieren. Natürlich darf auch der zwielichtige Stern-Reporter nicht fehlen.

"Die Experten" ist ein überbordender Roman, er strotzt vor historischem, kulturellem und menschlichem Erfahrungswissen. Kröger erforscht die Netzwerke der alten Nazis, Nassers panarabischen Nationalismus und Israels einsame Jagd nach Kriegsverbrechern, sie beschwört den kulturellen Reichtum Ägyptens ebenso wie das moralische Recht Israels. Umm Kulthumm singt "Amal Hayati", Esther Ofarim "Hayu Leilot".

Immer wieder schaltet sich die Autorin mit historischen Erläuterung oder Vorwegnahmen ein, sie fügt Auszüge aus originalen BND-Akten ein. "BND-Akte 05 431_OT: An dieser Stelle wurde ein Dokument entnommen..." Diese Zitate dienen ihr nicht nur zur historischen Beglaubigung. Kröger erforscht mit ihrem Roman auch die Sprache jener Zeit: Bürokratische Abstraktion, selbstgefällige Jovialität, idealistische Schwärmerei, biederer Familiensinn, Hamburger Dialekt - Kröger beherrscht alle Register, in denen sich deutsche Schuldabwehr artikulierte. Der Roman ist auch eine Reflexion über Sprache.

Vor allem aber ist der Roman eine Emanzipationsgeschichte. Die unbedarfte Rita, die so unversehens ins Zentrum eines internationalen Agentenkrieges gerät, wird am Ende aufhören, den Wegen zu folgen, die ihr andere eröffnen. Sie wird keine Karriere machen und auch nicht die Heldin eines Spionage-Thrillers werden. Merle Kröger setzt gegen die Hohlheit eines moralischen und politischen Wertgefüges ein vielschichtiges Erzählen und menschliche Erfahrung. "Die Experten" ist ein tiefgründiger Roman über Integrität, Autonomie und, wie Kröger Adorno zitiert, die "Kraft zum Nicht-Mitmachen". Und schließlich ist es auch ein großes Werk der Freundschaft.

Merle Kröger: Die Experten. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 688 Seiten, 20 Euro (Bestellen)

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Cover: Die letzte AnalyseAuch die Bücher von Amanda Cross standen einst weit vorn im Regal der feministischen Krimis. Die 1926 geborene New Yorker Literaturprofessorin, die eigentlich Carolyn Gold Heilbrun hieß und Mitte der sechziger Jahre zu schreiben begann, ist so etwas wie der missing link zwischen der britischen Pionierin Dorothy Sayers und den neueren amerikanischen Autorinnen wie Sara Paretsky oder Sue Grafton.

Amanda Cross' Heldin Kate Fansler ist ebenfalls Literaturwissenschaftlerin, alleinstehend und große Bewunderin von Sayers' Helden, dem mit allen Vorzügen und Talenten der britischen Upperclass ausgestatteten Lord Peter Wimsey. Und sie ist ebenso ein unverbesserlicher Snob.

Mit Hilfe von Freunden, Kollegen und ehemaligen Liebhabern macht sich Kate Fansler daran, all die Mordfälle aufzuklären, für die ihrer Meinung nach die New Yorker Polizei nicht die nötige Intellektualität aufbringt: "Als leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen wurde sie nie den Verdacht los, dass Detektive im wirklichen Leben ganz schreckliche normale Menschen waren, von der Sorte, die zwar mit den kurzen Antworten bei ihren Verhören gut zurechtkamen, komplexe Gedanken, ob literarische oder andere, aber als Belästigung empfanden."

Im Fall "Die letzte Analyse" etwa wird eine junge Studentin in der Praxis eines Psychoanalytikers umgebracht, mit dem Kate Fansler eng befreundet ist. Und weil die kleinbürgerliche Polizei in ihrer "blässlichen methodischen Art" kein Gespür für Intelligenz und Integrität aufbringt, verdächtigt sie natürlich den Analytiker. Als würde jemand wie Emanuel einen Mord in der eigenen Praxis begehen oder ein Verhältnis mit einer Patientin anfangen! Auf der Upper East Side!!

Der Dörlemann Verlag, spezialisiert auf moderne Klassiker von unterschätzten Schriftstellerinnen, hat schon etliche Kostbarkeiten dem Vergessen entrissen. Dass er jetzt Amanda Cross' Kriminalromane neu auflegt, ist eine schöne Nachricht. Denn auch wenn der Snobismus der Kate Fansler heute recht überkandidelt wirkt, so kann man doch immer auch spüren, dass er nicht allein der Verachtung ungebildeter Schichten entspringt, sondern einem - vielleicht etwas rigiden - Nonkonformismus. Ganz wie Harriet Vane in Dorothy Sayers "Aufruhr in Oxford" sucht auch Kate Fansler nach einem Platz für gebildete Frauen in der Gesellschaft, von dem aus sie auf Augenhöhe mit ihren männlichen Counterparts agieren kann. Cross schreibt mit einer Eleganz und Lebenserfahrung, die Ihresgleichen sucht. Ihre Romane lehren, Konvention nicht mit Moral zu verwechseln.

Amanda Cross: Die letzte Analyse. Ein Fall für Kate Fansler. Aus dem Amerikanischen von Monika Blaich und Klaus Kamberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2021, 332 Seiten, 18 Euro. (Bestellen)


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Ein Wort noch in eigener Sache: Die Romane von Amanda Cross und Merle Kröger sind herausragende Werke der Kriminalliteratur. Mit der einen habe ich angefangen, Krimis zu lesen, und mit der anderen werde ich nicht aufhören. Aber dies wird erst einmal meine letzte Kolumne sein. Ich brauche Abstand vom Mordgeschehen.

Ja, Abertausende von Regio- und Urlausbskrimis, Cosy Mysteries, Skandinaviensplatter und Korea-Crime, ein Immermehr vom Immergleichen nur in Grün oder in Divers, haben die Form zur Unkenntlichkeit ausgeleiert. Aber es gibt noch immer viele großartige Romane, die der Erschöpfung des Genres entgegenwirken - mit originellen Figuren, feinsinniger Psychologie, einem scharfem Blick auf die Wirklichkeit und eigenem Sound. Die nicht auf die simple Schemata, gängige Muster, krasse Schocks oder aktuelle Aufregerthemen setzen, sondern auf Menschenkenntnis, Welterfahrung und Kunstverstand.

Ich wünsche alle Liebhaberinnen und Liebhabern des Genres weiter viel Vergnügen mit den alten Meistern und neuen Entdeckungen, aus dem Mainstream und entlegenen Gegenden. Lest Garry Disher, Mick Herron und Walter Mosley, Sara Paretsky, Liza Cody und Attica Locke, Hannelore Cayre, Fred Vargas und Dominique Manotti, Simone Buchholz und Oliver Bottini, ach und all die anderen tollen Autorinnen und Autoren, die Poeten und Lakoniker, die Straßenerfahrenen und Seelenkundler, Rechercheure und Weltbürger, die in den guten Buchhandlungen nur darauf warten, entdeckt zu werden!

Thekla Dannenberg