Post aus Breslau

Alle haben gewonnen!

Von Mateusz J. Hartwich
05.12.2006. Die landesweiten Kommunal- und Regionalwahlen in Polen vom 12./26. November - in Europa kaum wahrgenommen - können als ein Anzeichen der Normalisierung angesehen werden. Trotz exotischer Kandidaten und unerwarteter Bündnisse scheint sich das politische System des Landes zu stabilisieren.
Bei den polnischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 hatte Europa noch gebannt auf das größte Neumitglied der EU geschaut. Die Umwälzungen in der politischen Szene des Landes und der Machtantritt der Kaczynski-Brüder haben vielerorts Zweifel an den demokratischen Qualitäten Polens aufkommen lassen. Die landesweiten Kommunal- und Regionalwahlen vom 12./26. November - in Europa kaum wahrgenommen - können demgegenüber als ein Anzeichen der Normalisierung angesehen werden. Trotz exotischer Kandidaten und unerwarteter Bündnisse scheint sich das politische System des Landes zu stabilisieren.

Das sozialistische System basierte auf hierarchisch aufgebauten Räten, wobei die faktische Macht beim jeweiligen Vertreter des Parteikomitees blieb. Dementsprechend war die Territorialverwaltungsreform von 1990 eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung von Tadeusz Mazowiecki, woran der Ex-Premierminister in einem Beitrag erinnerte. "Nach den teilweise freien Wahlen im Juni 1989 waren die Regionalwahlen ein Jahr später die ersten völlig demokratischen. Die Vertreter der Selbstverwaltung wurden zum wahren Herr im Hause und wirkten aktiv an der Befreiung der polnischen Provinz aus dem Stillstand des Sozialismus." Ferner bedauert der frühere "Solidarnosc"-Anführer, vor den jetzigen Wahlen hätte sich niemand die Mühe gemacht, eine faire Bilanz dieser - für Mazowiecki durchweg positiven - Entwicklung zu ziehen. Einzig die Wochenzeitung Przekroj hatte für ihre Leser eine Zusammenstellung der Erfolge vorbereitet, um so eine rationale Wahl jenseits des politischen Kampfgetöses in Warschau zu ermöglichen.

Im Vorfeld der Wahlen wurden Befürchtungen geäußert, dass die Entscheidung über die künftige Zusammensetzung der territorialen Selbstverwaltung zu sehr von der großen Politik - insbesondere der scharfen Auseinandersetzung zwischen der regierenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) der Kaczynskis und der liberalen "Bürgerplattform" (PO) dominiert werden könnte. In Tygodnik Powszechny schrieb etwa der Soziologe Jacek Kurczewski: "Die Landes- und Lokalpolitik sind miteinander verflochten, und es wäre naiv zu meinen, dass zwischen beidem keine Verbindungen besteht. Mit den Jahren kamen sie sich immer näher, und die Mängel und Vorteile einander immer ähnlicher." Mazowiecki fügte hinzu: "Inhaltliche Diskussionen, die wirklichen Belange der Regionen und konkrete Programme waren in dieser Wahlkampagne kaum vernehmbar".

Es wurde auch eine niedrige Wahlbeteiligung erwartet - hatte sie letztes Jahr nur knapp über 40 Prozent gelegen, würde sie bei Regionalwahlen erfahrungsgemäß noch niedriger. Die Politikverdrossenheit vieler, vor allem junger Wähler, sowie die massenhafte Arbeitsemigration (in Polen ist keine Briefwahl möglich) waren weitere Faktoren, die sich negativ auf die Wahlbeteiligung auswirken sollten. Kurczewski bemerkte jedoch zugleich: "Überall wurde die Apathie der Wähler bemängelt. Gleichzeitig gibt es aber in Polen wohl keinen Ort, in dem es in den letzten 16 Jahren keine lokale Bürgeraktion gäbe, die - im Recht oder im Unrecht - von ihren gewählten Vertretern eine stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen einfordern würde."

Und siehe da: es kam alles anders! Bei der höchsten Wahlbeteiligung seit 1990, ca. 45 Prozent, war der Ausgang so uneindeutig, dass die Wochenzeitung Polityka verkünden konnte: "Alle haben gewonnen!" - womit gemeint war, dass mehrere Parteien Teilerfolge verbuchen konnten. Die regierende PiS verlor an absoluten Stimmen und musste sich in vielen großen Städten PO-Kandidaten oder unabhängigen Bürgermeistern geschlagen geben (so wurde etwa in Breslau der liberale Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz mit 84 Prozent wieder gewählt). Sie war auch die erste Regierungspartei nach 1989, die die Regionalwahlen ein Jahr nach der Machtübernahme verloren hat. Gleichzeitig aber behauptete sie ihre Rolle als großer Spieler und wird in einigen Wojewodschaften und vielen Landkreisen mitregieren. Die PO konnte sich aufgrund des guten landesweiten Ergebnisses zur Siegerin erklären, Prestigeerfolge konnte sie aber vor allem in großen Städten vermelden, speziell in Warschau, wo die PO-Kandidatin und frühere Nationalbankchefin Hanna Gronkiewicz-Waltz den populären Ex-Premierminister von der PiS, Kazimierz Marcinkiewicz, in der Stichwahl am 26.11 klar bezwang.

Auffallend war auch das schlechte Abschneiden der populistischen PiS-Koalitionäre: der Partei "Selbstverteidigung" (Samoobrona) von Andrzej Lepper und der "Liga der Polnischen Familien" um Bildungsminister Roman Giertych. Sein Anwärter für den Warschauer Stadtpräsidenten, Wojciech Wierzejski, der bis dato vor allem mit Anti-Schwulen-Parolen aufgefallen ist, landete mit weniger als ein Prozent Stimmanteil gar hinter einem Spaßkandidaten des "Komitees der Zwerge und Deppen" (dazu ein Kommentar). Da die beiden Parteien im Volksmund nur als "Beilagen" zur Regierung bezeichnet werden, verkündete am 14. November die Gazeta Wyborcza: "Die Beilagen wurden aufgegessen!"

Nicht ohne Genugtuung konstatierte in seinem Beitrag der Kommentator der Wyborcza, Piotr Pacewicz: "Die Regionalwahlen haben gewonnen!". Die Strategie der PiS, die radikale Wählerschaft von "Samoobrona" und LPR anzuziehen und die Koalitionäre somit ins Abseits zu katapultieren, sei zwar aufgegangen. Doch stehe Premierminister Kaczynski jetzt vor zwei Alternativen: "Wird er den Politikstil mäßigen, um die Rivalität mit der Bürgerplattform um die Wähler aufzunehmen, die rationales Vorgehen und Erfolge in der Wirtschafts- und Außenpolitik erwarten? Oder werden sie auf noch radikalere Mittel zurückgreifen, um den Kampf mit der erstarkten Opposition aufzunehmen?"

Die ersten Reaktionen waren widersprüchlich: hatte zuerst Jaroslaw Kaczynski von einer Rückkehr der dunklen Mächte gesprochen, bot er der PO bald Zusammenarbeit in den Regionen an, vor allem um die EU-Mittel effizient verwalten zu können. Auf der anderen Seite unterstützten namhafte PO-Politiker den PiS-Kandidaten für den Krakauer Stadtpräsidenten gegen den linksliberalen Amtsinhaber in der Stichwahl, wurden aber von der Parteispitze schnell zurück gepfiffen. Da das im Vorfeld der Wahlen vereinbarte Bündnis der PO mit der gemäßigten Bauernpartei PSL (deren gutes Abschneiden nach dem zwischenzeitigen Tief allerorts unterstrichen wurde) nicht überall die Mehrheit stellen kann, müssen die Liberalen über Kooperationen mit der Linken nachdenken. Diese hatte nach der Katastrophe von 2005 ein die historischen Gräben überspannendes Bündnis mit sozialdemokratischen Splitterparteien und Teilen der Ex-Solidarnosc-Liberalen geschmiedet und sich als dritte Kraft etablieren können. "Der linksdemokratische Block muss sich auf dünne Jahre vorbereiten", diagnostizierte aber in der Rzeczpospolita Andrzej Stankiewicz, "in den regionalen Koalitionsgesprächen ist vom Mitte-Links-Bündnis bisher wenig die Rede."

Das Beispiel Warschaus bestätigt diese Beobachtung: es bedurfte großer Akrobatik seitens PO um die Wähler des drittplatzierten ehemaligen Parlamentspräsidenten Marek Borowski von ihrer Kandidatin zu überzeugen, ohne dem Mitte-Links-Bündnis in Fragen möglicher Kooperationen entgegen zu kommen. "Die PO steht vor einem großen Dilemma" konstatierte in eben jener Tageszeitung der Politologe Jacek Raciborski. Durch die Öffnung nach links drohen ihm die konservativen Wähler davon zu laufen. Andererseits kann ein Verharren auf Mitte-Rechts-Positionen als eine "bessere Variante der PiS" zu Stillstand und Koalitionsunfähigkeit führen. Das prognostizierte in ihrer Titelgeschichte auch die polnische Ausgabe des Newsweek-Magazins: "Die PO bleibt in der Schwebe". Ein Phänomen, das Lokalwahlen überall begleitet, sind exotische Kandidaten. An die ehemaligen Fußballprofis, Musiker oder Modells hat man sich auch in Polen schon gewöhnt, zu einem etwas eigentümlichen Helden der Wahlen wurde aber Krzysztof Kononowicz, Anwärter für den Posten des Stadtpräsidenten von Bialystok in Nordostpolen."

Im Internet kreist sein Wahlspot, in dem er in fehlerhaftem Polnisch allerlei verspricht, u.a. dass es nach seiner Wahl 'nichts geben wird'. Auf Internetauktionen kann man Kaffeebecher mit seinem Konterfei kaufen, sowie seinen kultigen Pullover und Pelzmützen" berichtete in der Rzeczpospolita Elzbieta Poludnik. Die Wyborcza titelte gar "Kononowicz-Superstar" und widmete dem Arbeitslosen ein kleines Dossier auf ihrer Internetseite. Bei YouTube wurde der Spot gleich online gestellt und millionenfach angeklickt. Jemand machte sich sogar die Mühe, das Gestammel des Kandidaten ins Englische zu übersetzen, was ihm zu noch größeren Ruhm verhalf. Bei den Wahlen selbst bekam er 1676 Stimmen (1,8 Prozent), "vielleicht zum Spaß, vielleicht als Protest gegen das politische Establishment" schrieb Milada Jedrysik. Etwas unbehaglich war ihr, als heraus kam, dass den psychisch labilen Mann Anhänger rechtsextremer Gruppierungen zum Kandidieren überredeten, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Nicht weniger bedenklich ist aber, dass Kononowiczs Auftritt zuerst niemanden überraschte. "Er war nur etwas peinlicher, etwas weniger schlüssig in seinen Aussagen und etwas schlechter im Umgang mit der polnischen Sprache als einige wichtige Vertreter wichtiger Parteien aus dem Parlament."

Der Erfolg unabhängiger Kandidaten, die insgesamt deutliche Niederlage der Koalitionsparteien und die Festigung der Mitte und der Linken deuten zwar auf einen Stimmungswandel in der Gesellschaft, aber von einer grundlegenden Wende, gar einem "Stalingrad der PiS" zu sprechen, wie es in der Wyborcza Miroslaw Czech tat, ist übertrieben. In einem sich viele Kommentatoren einig: aufgrund der Pattsituation hat niemand Interesse an vorgezogenen Parlamentswahlen. Die verbleibenden drei Jahre sollten die großen Parteien nutzen, um an einem deutlichen Profil zu arbeiten, empfahl in einer Diskussion der Tageszeitung Dziennik der Publizist Rafal Ziemkiewicz. "In Polen sind alle Parteien rechts-links, weil sie denken, dass es die Wähler am ehesten anspricht. Das ist noch ein Erbe des Kommunismus, aber es ändert sich schnell. Es sollte sich auch schnell ändern, und ich hoffe, dass die großen Parteien den Prozess gestalten und nicht beobachten sollten."

Wie sind diese Wahlen also zu bewerten? Um mit Jacek Raciborski zu sprechen: "Das waren ganz gute Wahlen. Die Lage auf der politischen Bühne stabilisiert sich und niemand, auch nicht die Kommunalpolitiker der PiS, spricht vor Ort von moralischen Revolutionen und einer neuen, Vierten Republik, von Ex-Stasi-Mitarbeitern, von Abtreibung und ähnlichen Themen - das scheint nur die Regierenden in Warschau zu interessieren."