Post aus Breslau

Wem gehört das polnische "1968"?

Von Mateusz J. Hartwich
22.03.2008. Die Polen haben haben in diesem Monat leidenschaftlich über "den März" 1968 diskutiert. Wie weit hat die Gesellschaft die Studentproteste unterstützt? Und wie populär waren die antisemitischen Säuberungen, mit denen das kommunistische Regime darauf reagierte?
Am 8. März 2008 jährten sich zum 40. Mal die Warschauer Studentenproteste, die als "der März" in die Geschichte Polens eingingen. Damals reagierten die kommunistischen Machthaber auf die Ereignisse im Land mit einer brutalen antisemitischen und Antiintellektuellen-Kampagne, die in der Folge rund 15.000 Menschen aus dem Land trieb. Vierzig Jahre später ist in Polen eine Debatte über den Stellenwert des "polnischen 1968" und seine Folgen entbrannt.

Es begann mit der Absetzung des Theaterstücks "Dziady" (Die Totenfeier) des Nationaldichters Adam Mickiewicz am 30. Januar 1968. Die Inszenierung des Warschauer Teatr Narodowy war anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution aufgeführt worden und zog bald die Aufmerksamkeit des Publikums und der Partei auf sich. Vor allem dank der schauspielerischen Leistung des kurz vor dem Jahrestag verstorbenen Gustaw Holoubek in der Rolle des Haupthelden Gustaw-Konrad galt das Stück als Kult. Mit der Zeit wurde der Aufführung eine antirussische Aussage angehaftet, was zum Verbot der Aufführung Ende Januar führte. Warschauer Studentenkreise um die späteren Dissidenten Adam Michnik, Barbara Torunczyk, Jan Litynski und andere nahmen die letzte Aufführung zum Anlass für kulturelle Freiheit und gegen die Zensur zu demonstrieren. Die Kommunisten reagierten mit Festnahmen. Adam Michnik und Henryk Szlajfer wurden der Universität verwiesen. Die Diskussion zog breitere Kreise, als am 29. Februar der Warschauer Schriftstellerverband eine scharfe Protestresolution gegen die Parteipolitik verabschiedete.

Am 8. März fand eine Solidaritätskundgebung für Michnik und Szlajfer an der Universität statt, die durch einen brutalen Einsatz von Miliz und paramilitärischen Arbeiterkampfeinheiten aufgelöst wurde. Zahlreiche "Rädelsführer" wurden verhaftet und in Schauprozessen zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren verurteilt. In einer berüchtigten Rede am 19. März verwies Parteichef Wladyslaw Gomulka auf die Schuldigen: verwöhnte Kinder von Parteibonzen jüdischer Herkunft. Es folgte eine beispiellose Hetzkampagne gegen diese Gruppe und "revisionistische" Intellektuelle, die rund 15.000 Menschen zur Emigration zwang, unter ihnen bedeutende Persönlichkeiten wie Zygmunt Bauman, Leszek Kolakowski oder Jan T. Gross.

Vielleicht wäre ja die heutige Diskussion anders verlaufen, wäre nicht Anfang 2008 die polnische Übersetzung von Jan T. Gross' Buch "Fear" erschienen (darüber berichteten wir). Hatte der in den USA lebende Soziologe mit seinem Buch "Nachbarn" über das Massaker an den Juden von Jedwabne eine der wichtigsten Geschichtskontroversen der Dritten Polnischen Republik entfacht, war die Reaktion auf seine Interpretation des polnischen Nachkriegsantisemitismus gespalten. Gross wurden Vereinfachungen und handwerkliche Fehler vorgeworfen, und besonders die Konservativen kritisierten seine Grundaussage, dass nämlich der Antisemitismus in Polen auch nach dem Ende der deutschen Besatzung weiterlebte. Diese Auseinandersetzung war eine Voraussetzung für die aktuelle Debatte über 1968.

"Die linke intellektuelle Elite kann sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass die Partei, mit der sie biografisch verbunden ist, sich einer antisemitischen Kampagne bediente", behauptete der konservative Publizist Bronislaw Wildstein in seinem Blog auf den Seiten der Rzeczpospolita. Dabei würden - einem Gedicht Czeslaw Milosz folgend - die mentalen und personellen Verbindungen zwischen der kommunistischen Partei PZPR und der faschistoiden Vorkriegspartei ONR übertrieben betont, so Wildstein. Einem abstrakten "Nationalismus" würde die Schuld zugewiesen, statt die historische Verwandtschaft der 1968er Kampagne mit anderen Hetzkampagnen der Kommunisten nach 1945 zu erkennen. Es mag dabei überraschen, dass antisemitische Argumentationen, die in innerparteilichen Machtkämpfen im Ostblock bereits ab Ende der 1940er Jahre eine Rolle spielen, in Polen erst gegen 1967 auftauchen, erinnert der Historiker Dariusz Stola im Interview mit Tygodnik Powszechny.

Zwar wurden schon in der Umbruchszeit von 1956/57, als Gomulka an die Macht kam, antijüdische Stimmungen laut, doch wurden sie schnell beruhigt. Erst nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967, als - wie es der Volksmund formulierte - die "polnischen" Juden die "russischen" Araber besiegt hatten, schwenkte die PZPR auf den aus Moskau vorgegebenen "antizionistischen" Kurs ein. Wenn man bedenkt, dass mit dem wankenden Gomulka ein Machtkampf innerhalb der Partei tobte, war alles bereit für eine Explosion. "Ohne die Spannungen in der Parteileitung lassen sich die März-Ereignisse nicht begreifen", so Stola.

Doch die im März entfachte Kampagne, die zur Isolierung der intellektuellen Protestler führen sollte, wuchs Gomulka schon bald über den Kopf und wurde im Juni offiziell beendet. Die Historiker streiten weiterhin darüber, ob die "antizionistischen" Massenkundgebungen in den Betrieben, an denen Hunderttausende teilgenommen haben, allein als Pflichtveranstaltungen anzusehen sind, oder die Machthaber zum ersten Mal authentische Emotionen der Bürger zu Wort kommen ließen - wie es einst der Schriftsteller Stefan Kisielewski ausgedrückt hat. An Letzteres erinnerte Zbigniew Gluza, dessen Dokumentationszentrum "KARTA" eine Ausstellung zum März 1968 vorbereitete. Die Rebellion der Studenten sei vergleichsweise marginal, räumlich begrenzt und von der Gesellschaft nicht unterstützt gewesen, die Menschen hätten "nichts begriffen und jede Propagandalüge geglaubt. Als sich am 8. September Ryszard Siwiec im Protest gegen die Invasion in der CSSR öffentlich verbrennt, wollen das hunderttausend Menschen nicht gesehen haben. Sie wollten nicht hingucken, nicht wissen, sich nicht einmischen. Ähnlich war es mit der brutalen Unterdrückung der Studentenproteste - man ging zur Tagesordnung über."

Gluza kratzt damit am kanonischen Bild eines mit den Ereignissen vom Oktober 1956, März 1968, Dezember 1970, Juni 1976 und schließlich der Kulmination im August 1980 anwachsenden gesellschaftlichen Rebellion gegen die Kommunisten, wie sie auch in Andrzej Wajdas "Mann aus Eisen" filmisch verewigt wurde. Den März als "gemeinsamen Akt der Gesellschaft gegen die Brutalität der Kommunisten" beschwört dagegen Piotr Semka, der - ähnlich wie andere konservative Publizisten - sich gegen die "Aneigung der Erinnerung" an den "März" durch das linke Establishment einsetzt. Obwohl an den Protesten zehntausende Menschen in vielen Städten teilgenommen haben, wird diese Erfahrung auf die "den ideellen Zwiespalt einer Gruppe bekannter Gestalten" reduziert, beklagt auch Maciej Rybinski, selbst Teilnehmer der Poteste. "Wir gingen auf die Straße im Geiste des Patriotismus und der Tradition des Kampfes gegen die Besatzer... Uns hat die Intervention in der Tschechoslowakei nicht überrascht, weil wir von der Sowjetunion nichts Gutes erwartet haben".

Barbara Torunczyk, eine weniger prominente Anführerin der Proteste, relativierte aber im Gespräch mit dem konservativen Dziennik die Rolle von Visionen nationaler Befreiung unter den Studenten: "Ich denke, dass bis zur 'Solidarnosc' keine oppositionelle Gruppe ihre Aktivität an Fragen von Sieg oder Niederlage gebunden hat. Unsere politische Niederlage war uns völlig klar." Es ging eher darum, die relativen Freiheiten des "Polnischen Oktobers" zu verteidigen, meint Torunczyk. Von umstürzlerischen Ideen hatte man nach den Erfahrungen von Budapest 1956 Abstand genommen, und "das unterschied uns von der Jugendrevolte im Westen 1968". Paradoxerweise war es erst die Reaktion der Machthaber, die eine ganze Generation gezeichnet und zur Opposition bewegt hat. Es war ein schmerzlicher Prozess der politischen Reifung, konstatiert Torunczyk. In ähnlicher Weise äußerte sich in der Gazeta Wyborcza Seweryn Blumsztajn. Dass die folgenden Ereignisse die Teilnehmer des Protestes überrumpelt haben, glaubt auch der Historiker Lukasz Kaminski. "Der März war vor allem eine moralische Protestbewegung, also ist die relative Programmlosigkeit kaum verwunderlich. (...) Es war eine spontane Massenrebellion der jungen Menschen, der ersten Generation, die in der Volksrepublik heranwuchs. Sie entdeckten oft zum ersten Mal, dass das kommunistische System auf organisierter Lüge basiert. Ihr Protest verband sich jedoch mit anderen, damals schwer fassbaren Aspekten. Diese Uneindeutigkeit - verglichen mit anderen polnischen Protesten der Zeit - war einer der Hauptgründe für den schnellen Zusammenbruch der Bewegung."

In der Zeitschrift Odra mahnte der Historiker Wlodzimierz Suleja jedoch, durch die auf Warschau und das studentische Milieu verengte Perspektive nicht die wahre Dimension der Ereignisse aus den Augen zu verlieren - einer spontanen landesweiten Protestbewegung der jungen Generation aus allen Schichten, die das Land an die Schwelle eines Aufstandes brachte.

In einer kürzlich durchgeführten Umfrage wussten 87 Prozent der Polen nicht, was im März 1968 passiert ist. Kein Wunder, analysiert Cezary Michalski im Dziennik. Grund dafür sei die "politisch funktionalisierte Interpretation" der Ereignisse. Der liberalen Lesart, die vom nationalistischen und antisemitischen Trauma geprägt ist, steht die Interpretation eines nationalen Aufstandes gegenüber, in der "der Antisemitismus lediglich ein zynisches Instrument der aus Moskau importierten Kommunisten ist, gegen das die Gesellschaft völlig immunisiert war." Der historische Stellenwert der Ereignisse in der Gesellschaft wird nicht nur nicht wachsen, solange dieser "Krieg um die Erinnerung" anhält, sondern "viel wichtigere Fragen, wie die soziale Verwurzelung des sozialistischen Systems oder die Dimensionen des polnischen Antisemitismus" würden in dieses politische Spiel hineingezogen.

Während sich die politischen Lager "hinter ihren Geschichtsvisionen verschanzt haben" (Semka), scheint wenigstens die staatsrechtliche Dimension der 1968er-Ereignisse ein Ende gefunden zu haben. So wurde den sogenannten März-Emigranten (dazu entstand ein polnisch-israelisches Projekt) bei der Ausreise die Staatsbürgerschaft entzogen - wie sich später heraus stellte, ohne jede Rechtsgrundlage. Trotzdem taten sich polnische Behörden mit Anträgen zur Wiederanerkennung schwer; man fürchtete zum Beispiel, dass Nachfahren jüdischer Polen damit leichter Prozesse um Eigentumserstattung führen könnten. Kurz vor dem Jahrestag entschied aber die Regierung, den Weg für die Rückerstattung beziehungsweise Bestätigung der Staatsangehörigkeit frei zu machen (einige Rückkehrer porträtierte Przekroj). Staatspräsident Lech Kaczynski, ein Vertreter der konservativen 68er-Generation, bekräftigte seine Unterstützung, um das moralische Unrecht zu begleichen.

Und ja: fast wäre Adam Michnik doch noch in den Mittelpunkt gerückt! Nachdem er zur Verleihung von Verdienstorden für Teilnehmer der März-Proteste nicht eingeladen wurde, was sogar ihm wenig wohl gesinnte Publizisten kritisierten, beschwichtigte er. Im Interview für seine Zeitung und den üblichen Podiumsdiskussionen unterstrich Michnik die Bedeutung des "März" für die Formierung der Dissidentenbewegung, und verwies auf die Gemeinsamkeiten mit den Protesten im Ausland: "Die polnischen Ereignisse wurden von zwei wichtigen Erfahrungen umrahmt: dem Prager Frühling und der Studentenrevolte in der Welt. Von dieser Mentalität der Rebellion ist bis heute etwas übrig geblieben. Die drei Phänomene waren sehr unterschiedlich, aber sie hatten eines gemeinsam: die Blockaden verschiedene Gesellschaften wurden dadurch gelöst." Die Verbrüderung mit westlichen 68ern nehmen Michnik einige übel, die sogar im zeitgenössischen Bericht Umberto Ecos aus Prag und Warschau einen Beweis dafür sehen, "dass Ost und West sich nicht verständigen konnten". Während die liberale Wochenzeitung Polityka offen von einer gemeinsamen Erfahrung und Nostalgie nach den durchgedrehten Sechzigern sprach, verwies in der Welt der konservative Publizist Jan Skorzynski schon im Titel seines Beitrags auf grundlegende Unterschiede: "Freiheit statt 'Ho, Ho, Ho Chi Minh'".

Auf den ersten Blick scheint die polnische Debatte der im Westen zu ähneln: liberale und konservative Sichtweisen stehen sich gegenüber, wobei die aktiven Teilnehmer der Ereignisse auf beiden Seiten der Barrikade jeweils ihre Wahrheiten verbreiten; viele von ihnen spielen bis heute eine wichtige Rolle in Politik, Kultur und Medien. Aber die Polen sind noch weit davon entfernt, aus der Erfahrung der Proteste von 1968 einen gemeinsamen "Erinnerungsort" zu machen - als Gründungsmythos der organisierten demokratischen Opposition und Etappe im nationalen Freiheitskampf. Es scheint, als ob der Umgang mit dem damals offen zu Tage getretenen Antisemitismus - der mal als kommunistische Sünde, mal als Manifestation eines überzeitlichen, hässlichen Gesichts des polnischen Nationalismus interpretiert und in die jeweilige Geschichtsnarration eingeflochten wird - die Gemüter weiter scheidet. Diese unverheilte Wunde wird - das haben beide Debatten um Jan Tomasz Gross' Bücher gezeigt - weiterhin Publizisten und Historiker beschäftigen.

Mateusz J. Hartwich