Post aus Istanbul

12 Sekunden

Von Constanze Letsch
17.11.2009. In Istanbul fand das Internationale Tanpinar Literaturfestival statt. Es war ein privat organisierter Kraftakt des guten Willens in einem Land, dessen Präsident einst dekretiert hatte, dass Prosa unnötig und sinnlos sei.
Vom 31. Oktober bis zum 3. November 2009 fand in Istanbul parallel zur 28. Istanbuler Buchmesse das erste Internationale Tanpinar Literaturfestival statt. Es war das erste türkische Literaturfestival überhaupt. 31 türkische Autoren und 52 ihrer Kollegen aus 32 verschiedenen Ländern hatten sich für vier Tage versammelt, um dem Istanbuler Publikum aus Büchern vorzulesen, um mit ihnen über Bücher zu sprechen, um darüber zu diskutieren und zu streiten.

Als die Literaturagentur Kalem Anfang diesen Jahres offiziell ankündigte, ein Literaturfestival veranstalten zu wollen, war die allgemeine Begeisterung groß. Der türkische Literaturpapst Dogan Hizlan erklärte sich sofort bereit, die Ehrenpräsidentschaft zu übernehmen und der bekannte türkische Literaturwissenschaftler und Autor Enis Batur trat begeistert den Vorsitz des Festivalkommitees an. Ein internationales Literaturfestival, da war man sich allgemein einig, war etwas, das die Weltstadt Istanbul, die 2010 auch eine der Europäischen Kulturhauptstädte sein wird, unbedingt vorweisen sollte. Doch dass das Festival am Ende wirklich stattfand, gleicht einem kleinen Wunder.

Obwohl die Türkei sehr wohl über eine reiche Fülle an Autoren und Dichtern verfügt und mittlerweile sogar einen Nobelpreis vorweisen kann, ist die Literatur immer noch das Stiefkind unter den Künsten. Von Turgut Özal, dem ehemaligen Premierminister und späteren Präsident der Türkei, ist der Kommentar überliefert, Prosa sei "sinnlos und unnötig"; der jetzige Premierminister Recep Tayyip Erdogan erklärte in einem Interview, dass er selbst zwar keine Zeit zum Lesen fände, jedoch seine Berater für sich lesen ließe. In einer Untersuchung der UNO, die die Verbreitung regelmäßiger Lesegewohnheit untersuchte, landete die Türkei als eines von 173 Ländern nur auf Platz 86. Bei einer Umfrage, welche Konsumgegenstände lebensnotwendig seien, wurde das Buch auf die 235. Stelle verwiesen - im Durchschnitt werden im Jahr pro Kopf 45 Cent für Bücher ausgegeben. In der Türkei kann kaum ein veröffentlichender Autor sein Leben mit der Schriftstellerei bestreiten, und nur eine Handvoll türkischer Verlage lebt von der Herausgabe literarischer Werke. Landesweit existieren nur 1.500 öffentliche Bibliotheken, die insgesamt 900.000 Mitglieder haben und nur acht Prozent derer, die eine Bibliothek aufsuchen, gehen dorthin, um tatsächlich zu lesen. Leider ist nicht erfasst, was die restlichen 92 Prozent in die Bibliotheken treibt. Während in Deutschland die durchschnittliche tägliche Pro-Kopf-Lesezeit 24 Minuten beträgt, kommt man in der Türkei auf 12 Sekunden.

In öffentlichen Debatten zerbricht man sich über die Gründe der türkischen Leseunwilligkeit regelmäßig den Kopf. Viele machen das Fernsehen verantwortlich, andere die türkischen Familienstrukturen, die es dem Einzelnen kaum erlauben, sich eine Zeitlang allein mit einem Buch in der Hand zurückzuziehen. Hinzukommt, dass die schweren politischen und ökonomischen Krisen, die das Land in seiner jungen Geschichte immer wieder schüttelten, auch die Literatur negativ beeinflusst haben. Besonders der Militärputsch vom 12. September 1980, aufgrund dessen zahlreiche Autoren, Verleger und Übersetzer verhaftet wurden oder das Land verließen, stigmatisierte Bücher zu Symbolen für kommunistische Aufwiegelei und Dissidenz.

Heute versucht man, die Bedeutung von Literatur wieder hervorzuheben. Im März 2008 wurde unter der Schirmherrschaft des Präsidenten Abdullah Gül die landesweite Lesekampagne Türkiye Okuyor (Die Türkei liest) ins Leben gerufen, die bis 2012 laufen soll und die Gelder dafür bereitstellt, dass die Regionen in ihren Bürgern Lust am Buch wachkitzeln: In einem Dorf der Provinz Van versprach man zum Beispiel derjenigen Frau, die es schaffte, die größte Zahl an Büchern zu lesen, eine Waschmachine. Die Kampagne umfasst außerdem mobile Bibliotheken und kostenlose Alphabetisierungskurse, doch die mediale Aufmerksamkeit für das Projekt hat schon 2009 merklich nachgelassen.

Es lag also nicht nur an der globalen wirtschaftlichen Schieflage, dass sich trotz der anfänglichen Euphorie lange kein Sponsor für das Festival fand. "Ich hätte eher meine Wohnung verkauft, als das Festival aufgegeben", sagt Nermin Mollaoglu, Gründerin der Literaturagentur Kalem und Leiterin des Tanpinar Literaturfestivals jetzt rückblickend. Doch die Suche nach einer Firma, die ihren Traum von einem internationalen Literaturfestival geteilt hätte, erwies sich in der Tat als äußerst zäh. "Die Suche nach einem Sponsor hat uns viel Zeit und Energie gekostet. Wir haben es buchstäblich überall versucht - bei Banken, Telefongesellschaften, Werbeagenturen und sogar bei Firmen, die Stifte herstellen." Auch das türkische Ministerium für Kultur und Tourismus hatte kein Geld für ein Festival übrig, bei dem es nur um Bücher gehen sollte, und die Stadt Istanbul wollte dem Festival nur gegen Miete Räumlichkeiten für Veranstaltungen zur Verfügung stellen.

Die Kommission Istanbul 2010, die sich um Veranstaltungen und Budget für das Jahr kümmert, in dem Istanbul Europäische Kulturhauptstadt ist, erteilte dem Tanpinar Literaturfestival nach anderthalbjähriger Wartezeit ebenfalls eine Absage, was im Licht der Entscheidung, das Istanbuler Konzert der irischen Band U2 im September 2010 mit einem sechsstelligen Betrag zu unterstützen, besonders zu bedauern ist. Das Logo solle man jedoch ruhig verwenden, ließ die Kommission verlauten, denn vielleicht würde man dem Literaturfestival ja im nächsten Jahr Unterstützung zukommen lassen.

In buchstäblich letzter Minute erklärte sich der lokale Likörhersteller Hare bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen. 40 Tage vor Festivalbeginn unterschrieb man den Sponsorenvertrag, die 10.000 Poster und 8.000 Programmhefte konnten endlich gedruckt werden.

Doch es fehlte nicht nur an finanzieller Unterstützung. Mehmet Demirtas, der Organisationsleiter des Festivals, erläutert: "Die meisten türkischen Verlage hatten keine Lust, Autoren einzuladen. Sie sagten, sie hätten schon genug mit der Buchmesse zu tun und keine Zeit, sich um angereiste Schriftsteller zu kümmern." Die Ausnahmen waren Pupa, der türkische Verleger von unter anderem Ingo Schulzes letztem Roman "Adam und Evelyn". Mehmet Demirtas fährt fort: "Auch die meisten Medien schienen irgendwie unvorbereitet auf das Festival. Niemand kam auf die Idee, einen der angereisten Autoren, von denen der allergrößte Teil zum ersten Mal in der Türkei gelesen hat, zu einem Interview zu bitten."

So wurde das Festival zu einem gemeinsamen Kraftakt des guten Willens. Und er gelang. "Unter den Bedingungen, unter denen das Festival stattfand, hatte ich es mir viel schlimmer vorgestellt", lacht Mehmet Demirtas. "Ich denke, dass wir alle zusammen etwas Schönes geschafft und geschaffen haben."

Çiler Ilhan, die hauptberuflich als PR-Managerin im Ciragan Palace Kempinski arbeitet, aber nebenbei schon zahlreiche Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlicht hat und von Kalem vertreten wird, überzeugte ihren Chef, das Tanpinar Literaturfestival mit einer glamurösen Eröffnungsfeier auf Kosten des Hauses zu unterstützen. Freunde übernahmen Fahrdienste und begleiteten die Schriftsteller in der Stadt, dolmetschten und klebten Plakate. Drei Programmierer und Webdesigner arbeiteten über ein Jahr lang am Internetauftritt des Festivals - unentgeltlich, wie alle anderen auch.

So wurde das erste Tanpinar Literaturfestival zu einer energiegeladenen Bricolage, die nicht immer perfekt war, aber gut ankam. Trotz fast anhaltenden Dauerregens, bei dem der durchschnittliche Istanbuler das Haus nicht gern verlässt, waren die Lesungen in Cafes und Buchhandlungen gut besucht. Insgesamt fanden sich um die 2.000 Besucher zu den rund 40 Veranstaltungen ein - bei einem durchschnittlichen Fassungsvermögen von 50 Personen pro Veranstaltungsort eine gute Bilanz.

Ingo Schulze, der mit Unterstützung des Goetheinstitutes am Festival teilnahm, fasst seinen Eindruck vom Festival zusammen: "Das Festival hat mich schon beeindruckt, weil es sich der Initiative von einer Hand voll Leuten verdankt und deren Freundeskreis. Ich empfand es wirklich als Pionierarbeit, und dass Schriftsteller und Publikum nicht so zueinanderfanden, wie ich das erhofft hatte, ist halt das Lehrgeld, das man zahlen muss. Das Eigentliche findet, zumindest aus Sicht der Teilnehmer, ja doch zwischen den Auftritten statt. Autoren, Übersetzer, Verleger, Agenten, Journalisten - man hat sich halt kennengelernt. Ich hoffe, dass andere auf dieses Zeichen reagieren."
Sein letzter Roman "Adam und Evelyn" ist beim Pupa-Verlag mit Unterstützung der Fischer-Stiftung gerade auf Türkisch erschienen.

Die andere kleine Revolution in der türkischen Literaturszene, auf die das Festival stolz sein kann, ist es, die Autorenlesung salonfähig gemacht zu haben. Natürlich gab es früher schon Diskussionsrunden und Signierstunden, Gespräche mit Autoren. Doch dass sich ein Schriftsteller mit seinem Buch vor ein Publikum setzt und daraus vorliest, ist neu. Die Literaturagentur Kalem hatte mit den Ciragan Okumalar, den Lesungen im Ciragan Palast, im Frühjahr 2009 einen ersten Versuch gestartet, das türkische Publikum für Lesungen zu begeistern. Die Lesereihe begann im Mai 2009 mit Elif Safak und präsentiert jeden Monat einen anderen türkischen Autor.

Für 2010 hat man sich viel vorgenommen. Zum einen möchten die Festivalorganisatoren ein Fellowship-Programm für Verleger, Literaturagenten und Übersetzer ins Leben rufen, um die internationale Zusammenarbeit zu fördern und um ausländische Literaturschaffende mit dem türkischen Betrieb bekanntzumachen und umgekehrt. "Und wenn alles gut geht und wenn wir die nötigen Mittel auftreiben können, wollen wir bis 2011 einen weiteren langgehegten Traum verwirklichen", sagt Mehmet Demirtas. "Zwei Stipendiatenwohnungen für Schriftsteller, Kritiker und Literaturübersetzer auf der Prinzeninsel Burgazada." Dort steht das Haus des in Deutschland leider immer noch viel zu unbekannten türkischen Schriftststellers Said Faik Abasiyanik. Er gilt als Vater der türkischen Kurzgeschichte und wurde vor allem mit Darstellungen der ethnischen Minderheiten und der ärmeren Schichten Istanbuls bekannt. In der zweiten Etage des Hauses sind zwei Wohnungen renoviert worden, die den Stipendiaten zur Verfügung gestellt werden könnten.

"Dieses Jahr haben wir vielleicht 10 Prozent unserer Vorstellungen von einem Literaturfestival verwirklichen können", sagt Nermin Mollaoglu. "Dieses Jahr hat die Ausgabe Null des Tanpinar Literaturfestivals stattgefunden. Wir lernen noch. Nächstes Jahr haben wir Größeres vor."