Post aus Istanbul

"Wenn es um Freiheit geht, gibt es keine Ausnahmen"

Von Constanze Letsch
10.03.2008. In der Türkei ist der Streit um das Kopftuch an den Universitäten neu entbrannt. Dabei führen Säkularisten den Koran ins Feld, Islamvertreter ihre Bürgerrechte. Doch wie sollen Universitäten die Freiheit vertreten sein, wenn sie selbst nicht frei sind?
"Ein Satz genügt, um das Kopftuchverbot aufzuheben", hatte Premierminister Recep Tayyip Erdogan während seiner Madridreise im Januar gesagt. Das war ein Irrtum, dessen ganzes Ausmaß sich jetzt zeigt. Denn selbst die Verfassungsänderung, die bereits von Parlament und Präsident abgesegnet wurde, wird dem Kopftuch vermutlich nicht den Weg in die Universitäten ebnen können.

Die politische Lage

Die Debatte um das hochpolitische Stück Stoff hat die Spaltung der türkischen Gesellschaft in zwei Lager vertieft. Für die Kemalisten hat sich der Verdacht erhärtet, die islamisch-konservative Regierungspartei AKP werde das Land in einen Gottesstaat nach iranischem Modell umwandeln. Für sie ist die Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten nur der erste Schritt in diese Richtung. Die Bilder und die Rhetorik erinnern an die Situation vor den Parlamentswahlen im letzten Jahr, als Tausende kemalistische Türken auf die Straße gingen, um gegen die AKP und die Ernennung Abdullah Güls zum Präsidentschaftskandidaten zu protestieren (Post aus Istanbul: Die Republik als Fetisch).

Doch die Karten sind nach dem Wahlerfolg der AKP neu gemischt. Seit August 2007 ist Abdullah Gül Präsident der Türkei. Die Armee, die noch im April 2007 in ihrem legendären "e-Memorandum" mit einem Putsch gedroht hatte, verhält sich diesmal still. Seit die Regierung letztes Jahr den ausgedehnten Militäroperationen gegen die PKK im Nordirak zugestimmt hat, ist eine Entspannung zwischen der AKP und dem türkischen Militär eingetreten, aus der beide Seiten Nutzen zu ziehen verstehen.

Die nationalistische MHP, die bei der Wahl 2007 Seite an Seite mit der Oppositionspartei CHP gegen die AKP angetreten war, hat sich im Kopftuchstreit auf die Seite der Regierung geschlagen, die im Gegenzug weitere Änderungen - etwa des umstrittenen Artikels 301, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt - nur zu gern auf Eis legte.

Der neue Status quo gab Premierminister Erdogan genug Rückendeckung, um die Angst vieler Türken vor zunehmender Islamisierung stur zu übergehen. Praktisch im Alleingang arbeitete eine Kommission der AKP in Zusammenarbeit mit der MHP die Änderung der Verfassung und des Hochschulgesetzes aus. Zu zwei Verfassungsartikeln wurden Zusätze vorgeschlagen: Zum einen für Artikel 10, der die Gleichheit vor dem Gesetz regelt, und zum anderen für Artikel 42, der das Recht auf Bildung garantiert. Außerdem wurde ein Zusatz zum Appendixartikel 17 des Hochschulgesetzes (YÖKY) formuliert, der genau festlegen sollte, wie das Kopftuch gebunden werden müsse, um als "legal" zu gelten. Dieser Zusatz sollte verhindern, dass auch junge Frauen mit Gesichtsschleiern (pece) Zugang zu den Universitäten erhielten. Er wurde jedoch in letzter Minute von Seiten der AKP fallengelassen, was vor allem bei der MHP für harsche Kritik sorgte.

Am 9. Februar diesen Jahres akzeptierte das türkische Parlament mit eindeutiger Mehrheit den Änderungsentwurf, zwei Wochen später bestätigte Präsident Abdullah Gül die Verfassungsänderung. Sofort darauf beantragte die Oppositionspartei CHP die Annullierung durch das Verfassungsgericht.

Die politischen Parteien diskutieren kräftig aneinander vorbei: Die Oppositionspartei CHP führt zwar den gefährdeten Säkularismus ins Feld, diskutiert jedoch auf Parteisitzungen über Koransuren und einen Islam, der das Tragen des Kopftuches eigentlich nicht vorschreibe. Und die Regierung und ihre Unterstützer geben vor, mit der Legalisierung des Kopftuches an Universitäten Demokratie und persönlicher Freiheit Vorschub zu leisten, weigern sich aber, andere dringende Punkte in diesen Kategorien in Angriff zu nehmen und zeigen damit, dass nur die Demokratie, die die eigenen Freiheiten gewährleistet, für sie interessant ist.

Die juristische Lage

Auch die juristische Lage ist verworren, denn die neuen Zusätze zur Verfassung formulieren keine positive Erlaubnis, das Kopftuch an der Universität zu tragen. Sie erklären nur, dass niemandem "das Recht auf höhere Bildung" verweigert werden dürfe, es sei denn durch ein Gesetz.

Andererseits gibt es in der Türkei auch kein gesetzliches Verbot des Kopftuchtragens an einer Universität. Das Verbot, auf das man sich zur Zeit beruft, geht auf zwei Urteile des türkischen Verfassungsgerichts aus den Jahren 1989 und 1991 zurück. Damals war gegen einen Zusatz für das Hochschulgesetz geklagt worden, in dem es heißen sollte: "Das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen ist erlaubt". Das Verfassungsgericht sah jedoch die religiös motivierte Kopfbedeckung für unvereinbar mit den säkularen Prinzipien des Landes und mit dem Gleichheitsprinzip an. 2005 bestätigte der Europäische Menschengerichtshof, dass diese Urteile die Grundrechte nicht einschränken.

Rechtsexperten warnen jetzt vor einer möglichen Zementierung des Kopftuchverbots, selbst wenn das Verfassungsgericht die Änderung der Regierung akzeptieren würde. Da es auch jetzt kein positiv formuliertes Gesetz gebe, sagen sie, wird sich an der juristischen Lage selbst nichts ändern, der Oberste Gerichtshof könnte Klagen von Studentinnen weiterhin mit einem Verweis auf die Beschlüsse von 1989 und 1991 abschmettern.

Der Weg über Gesetze führt momentan offenbar in die Sackgasse - juristisch wie politisch. In der Tageszeitung Cumhuriyet erklärt der Präsident der Türkischen Börsen-und Kammerunion (TOBB), Rifat Hisarciklioglu: "Es ist merkwürdig zu sehen, dass die Verfassung jetzt zu einer Art Modemagazin werden soll. Das Kopftuchproblem kann nur auf politischem, nicht aber auf juristischem Wege gelöst werden."

Was neu diskutiert werden müsse, schreibt der Chefredakteur von Radikal, Ismet Berkan, sind die kemalistischen Grundpfeiler der Republik. Der Parlamentspräsident Toptan Köksal kommentiert: "Die Säkularität ist nicht in Gefahr. In unserem Land haben wir die Säkularität seit 1937. Aber es gibt Probleme mit der Toleranz."

Die antidemokratische Verfassung

Viele liberale Intellektuelle und Politiker sehen das größte Problem nicht im Kopftuch, sondern vor allem in der antidemokratischen Verfassung, die 1982 inkraft trat, nachdem das Militär im September 1980 in einem Putsch die Regierung abgesetzt hat. Deshalb lagen große Hoffnungen auf dem Vorhaben der neugewählten AKP-Regierung, eine demokratische und zivile neue Verfassung auszuarbeiten. Im Oktober 2007 hatte Erdogan in einer Rede gesagt: "Wir werden (den Verfassungsentwurf) an alle Parteien, an alle Medien, an alle NGOs und an alle Universitäten schicken. Wir werden ihn vollständig auf Internetseiten veröffentlichen. Wir werden jede Art von Kritik akzeptieren. Wir sind offen. Wenn etwas hinzugefügt werden soll, werden wir es hinzufügen. Wenn etwas entfernt werden soll, werden wir das machen. Wir schreiben hier die Verfassung der Republik Türkei."

Doch jetzt, im März, wartet man immer noch auf den angekündigten Entwurf, das versprochene Mitsprachesrecht ist vergessen. Nicht-Regierungsorganisationen zum Beispiel, die sich für die Rechte von Homo-und Transsexuellen einsetzen, hatten Entwürfe für einen Antidiskriminierungsartikel, der die sexuelle Orientierung betrifft, im Parlament präsentiert (siehe Post aus Istanbul: Regenbogen überm Taksimplatz). Burhan Kuzu (AKP), Präsident der Verfassungskommision, erklärte in einer Pressekonferenz am 29. Januar auf die Frage, ob die Regierung bereit wäre, auch Homosexuellen Gleichberechtigung einzuräumen: "Natürlich nicht."

Das politische und kulturelle Erbe des Militärputsches von 1980 lastet schwer auch auf den Universitäten. Die Militärjunta hatte sie als Nester von kommunistischen und aufrührerischen Bestrebungen identifiziert, Orte, den man zukünftig schärfstens kontrollieren müsse. 1981 wurde der Hochschulrat YÖK (Yüksek Ögretim Kurulu) gegründet, dem sämtliche Universitäten und Hochschulen unterstellt wurden. Damit wurden die ehemals autonomen Universitäten zu straff und militaristisch organisierten Institutionen, für die man statt freier Lehre und Forschung Vaterlandstreue und Disziplin propagierte.

Im Hochschulgesetz, das die Grundlagen akademischen Schaffens in der Türkei bestimmt, heißt es in Artikel 4: Ziele: Studenten sollen zu Bürgern ausgebildet werden, "die sich a) den ATATÜRK-Prinzipien und dem ATATÜRK-Nationalismus verbunden fühlen, b) die glücklich sind über die Ehre, Türken zu sein und die die Werte, Moralvorstellungen, Kultur und Ethik der türkischen Nation in sich tragen, c) die die Liebe zu Familie, Land und Nation über die Liebe zu sich selbst stellen, d) die sich der Pflichten und der Verantwortung der Türkischen Republik gegenüber bewusst sind." Wissenschaft, freie Lehre, Forschung rangieren hinter diesen diesen Grundsätzen.

In seiner Kolumne in der Zeitung Radikal fordert daher Murat Belge: "Damit Demokratie wirklich Demokratie ist, müssen auch diese ganzen 'schriftlichen Regeln' weniger werden. Wenn ich jedes Mal die Verfassung aufschlagen muss, um zu sehen, wie ich meine Nase zu putzen oder wie ich eine Hand zu schütteln habe oder was ich anziehen darf oder nicht darf, heißt das, dass wir von echter Demokratie noch weit entfernt sind."

"YÖK ist der nationale Sicherheitsrat der Universitäten", erklärte der Journalist und Politikwissenschaftler Ahmet Insel in einem Interview mit der Tageszeitung Zaman, "Universitäten im eigentlichen Sinne gibt es in der Türkei überhaupt nicht." Radikal-Chefredakteur Ismet Berkan bemerkte: "Universitäten, die nicht frei sind, können auch nicht freiheitlich sein."

Chaos an den Universitäten

In der Zwischenzeit herrscht an den Universitäten Chaos. Während an einigen Universitäten kopftuchtragenden Studentinnen Zugang gewährt wird, protestieren an anderen zahlreiche Rektoren und Dozenten gegen die in ihren Augen verfassungswidrige Gesetzesänderung. An manchen Universitätstoren kam es zu tumultartigen Szenen, vielerorts demonstrieren Studierende für und gegen das Kopftuch auf demselben Campus. Lehrkräfte geben Petitionen heraus, die sich für und gegen das Kopftuchverbot aussprechen, die Unterschriftenlisten wachsen täglich.

Der von Abdullah Gül neu ernannte Präsident des Hochschulrates, Yusuf Ziya Özcan, forderte die Rektoren auf, der neuen Regelung Folge zu leisten, was die Entrüstung auf die Spitze trieb. Mustafa Yurtkuran, Rektor der Uludag Universität Bursa sagte in Radikal: "Wir akzeptieren die persönliche Meinung (Özcans) nicht als Befehl. Wenn wir etwas Rechtswidriges tun, gehen wir dafür gern ins Gefängnis." Lehrkräfte an der Ege-Universität Izmir haben bei der Staatsanwaltschaft des Berufungsgerichts Klage gegen den Präsidenten des Hochschulrates erhoben, andere seine Absetzung gefordert.

Wie eine Versöhnung der zerstrittenen Lager aussehen könnte, zeigte Ende Februar eine Gruppe kopftuchtragender Studentinnen. Unter der Überschrift "Wenn es um Freiheit geht, gibt es keine Ausnahmen" veröffentlichte sie einen kurzen Aufruf in der Zeitung Radikal: "Wir werden nicht glücklich darüber sein, mit dem Kopftuch eine Universität betreten zu dürfen, bevor nicht auch die kurdischen Mitbürger zu ihrem Recht kommen, bevor die antidemokratische Verfassung nicht ersetzt wurde, bevor endlich die Verfahren aufgrund des Artikels 301 eingestellt werden, bevor es keine gleichen Rechte für Minderheiten gibt, bevor es kein neues freiheitliches Gesetz für Stiftungen gibt, bevor nicht auch Alewiten ihre Religion in Freiheit ausüben können, bevor nicht die politisch motivierten Morde sämtlich aufgeklärt sind. (...) Als Menschen, die wissen, was es heißt, in ihren Freiheiten beschnitten zu werden, werden wir auch künftig gegen jede Art von Diskriminierung und Druck protestieren."