Post aus Istanbul

Billiger als eine Raubkopie

Von Constanze Letsch
24.04.2008. Im April wartet man in Istanbul nicht nur sehnsüchtig auf den Frühling, sondern auch auf das Internationale Film Festival. Auch in diesem Jahr erwies es sich wieder als Paradies für Cinephile und nicht zuletzt als Treffpunkt für jene, die türkisches Kino abseits des Mainstreams suchen.
Im April wartet man in Istanbul ungeduldig auf den Frühling. Auf das Blühen der Mimosen. Auf die Eröffnung der neuen Speiseeissaison. Und auf das Internationale Istanbul Film Festival (Website). Schon Wochen vor Beginn reißt man sich Kataloge und Eintrittskarten aus den Händen, viele Filme sind schon ausverkauft, bevor noch das letzte Werbeposter aufgehängt wird.

Die Besucherzahlen wachsen ständig. 150.000 Besucher waren es 2006, 170.000 im letzten und schließlich kamen 190,000 Zuschauer in diesem Jahr, um insgesamt 200 internationale und türkische Filme zu sehen.Jetzt, da das Filmfestival nach zwei aufregenden Wochen vorbei ist, bleibt ein nicht unangenehmes Völlegefühl wie nach dem Genuss von etwas zu viel Schokolade.

Einladung zur Erinnerung

Das Festival wendet sich an ein cinephiles Publikum. Echte Filmstars finden sich nicht oft ein, die Publikumspremieren ausländischer Filme werden hier selten von den Regisseuren oder Regisseurinnen präsentiert. Rote Teppiche gibt es nicht. Dafür bietet das Festival dem Publikum Filme, die in der Türkei aus verschiedenen Gründen keinen Verleiher finden, Retrospektiven und experimentelle Produktionen. Seit dem Militärputsch von 1980 ist die Kinemathek in der Türkei geschlossen und es gibt kaum Möglichkeiten, einem breiten Publikum Filme jenseits des Mainstream zu präsentieren. Die Preise für die Tickets tagsüber sind mit 3,50 Lira für fast alle filmbegeisterten Istanbuler bezahlbar. "Wir wollen", so Azize Tan, seit zwei Jahren die neue Festivalleiterin, "die Preise für raubkopierte DVDs unterbieten." Die liegen zur Zeit bei ungefähr vier Lira.

Mittlerweile ist das Festival, das dieses Jahr in die 27. Runde ging, eine Institution. Es wird von der Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst (IKSV) veranstaltet, die von dem türkischen Familienpharmakonzern Eczasibasi ins Leben gerufen wurde. Sie organisiert auch das Istanbuler Jazzfestival und alle zwei Jahre ein Theaterfestival und die Biennale Istanbul. Alles hatte ganz klein begonnen: 1982, damals noch im Rahmen des "Internationalen Istanbul Festivals" zeigte man sechs Filme, die sich mit Kunst im Allgemeinen auseinandersetzten. Das waren die "Istanbuler Filmtage".
Die Resonanz im Publikum war jedoch so groß, dass das Konzept der Filmtage ausgebaut wurde: 1983 wurden 36 Filme gezeigt, 1984 schon 44 und 1985 schließlich wurden ein internationaler und ein nationaler Wettbewerb ins Leben gerufen.

Den Hauptpreis des Festivals, die Goldene Tulpe, gewann in diesem Jahr der Regisseur Semih Kaplanoglu für den ersten Teil seiner Yusuf-Trilogie "Yumurta / Ei". Der Film feierte seine Premiere letztes Jahr in Cannes in der Reihe "Quinzaine des Realisateurs" und wurde im Ausland und in der Türkei mit Preisen überschüttet. Erzählt wird die Geschichte des Dichters Yusuf, der einen Gebrauchtbuchladen in Istanbul besitzt und nach dem Tod seiner Mutter in sein Heimatdorf Tire an der Ägäis zurückkehrt, um, so hatte es sich seine Mutter vor ihrem Tod gewünscht, einen Hammel zu opfern. "Yumurta", so Semih Kaplanoglu in einem Interview, sei eine Einladung zum Erinnern. Die Trilogie um den Dichter Yusuf bewegt sich chronologisch zurück: Geht es in "Yumurta" um den Tod der Mutter, wird in der Fortsetzung "Süt / Milch" vom Abschied Yusufs aus Tire erzählen und im dritten Teil, "Bal / Honig", mit seiner Geburt. "Yumurta", der mit minimalistischer Narration und wenigen Dialogen auskommt, konzentriert sich auf die wenigen Charaktere, auf die Zeit. Zeit, die stillsteht, Zeit die vergeht. Die Yusuf-Trilogie, erläutert der Regisseur, soll auch helfen, den Schmerz verrinnender Zeit zu ertragen.

"Yumurta" ist Semih Kaplanoglus dritter Spielfilm. Bereits für "Herkes Kendi Evine/ Weg von zu Hause" (2001) erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sein zweiter Film "Melegin Düsüsü / Der fallende Engel" lief im Forum der Berlinale 2005. Die zurückgenommene Handlung, die Konzentration auf die Charaktere, die man bei Kaplanoglu findet, reihen sich ein in die Schule der Meister des zeitgenössischen türkischen Films, in die Erzählstile von Nuri Bilge Ceylan, Reha Erdem oder Zeki Demirkubuz. Nuri Bilge Ceylan, dessen neuer Film "Üc Maymun" auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes zu sehen sein wird und der letztes Jahr in Istanbul für "Iklimler" (mehr) sowohl den Preis für den besten türkischen Film als auch den Publikumspreis erhalten hatte, nahm am diesjährigen Istanbuler Filmfestival nur als Zuschauer teil.

"Tatil Kitabi", der erste Spielfilm des 1977 geborenen Regisseurs Seyfi Teoman, erlebte seine türkische Erstaufführung auf dem Istanbuler Filmfestival und wurde als bester türkischer Film ausgezeichnet. "Tatil Kitabi", ein leiser und minimalistischer Film über Kindheit, väterliche Autorität und den Umgang mit dem Tod, ist der erste Spielfilm der 2006 gegründeten Produktionsfirma Bulut Film, die sich aus Journalisten und Redakteuren der renommierten türkischen Filmzeitschrift Altyazi (Untertitel) rekrutiert. Die ehemalige Festivalleiterin Hülya Ucansu war Projektberaterin bei der Entstehung von "Tatil Kitabi".

Hollywood und Kammerspiel

Der Publikumspreis der Tageszeitung Radikal ging an den aufwendigen Historienfilm "Ulak / The Messenger" des Regisseurs Cagan Irmak, der mit seinem Vater-Sohn-Drama "Babam ve Oglum", bereits 2006 alle Besucherrekorde in der Türkei brach. In "Ulak / The Messenger" geht es um den Geschichtenerzähler Zekeriya, der mit seinen Lehrstücken, die er den Kinder der Orte, in denen er weilt, erzählt, vor allem die Eltern und die Welt zu verbessern sucht. Dabei zieht der Film alle Register eines Richtung Hollywood schielenden Epos'. Prächtige Kostüme, einen Tyrannen, der schließlich gestürzt wird, großartige anatolische Landschaftsaufnahmen, das Gute und das Böse. Obwohl "Ulak" bei den Kritikern auf wenig Gegenliebe stieß, konnte Irmak, was die Publikumsgunst angeht, an seinen letzten Film anknüpfen.

Ganz anders funktioniert das kleine Kammerspiel "Ara" (Trailer) des im Ausland leider noch viel zu unbekannten Regisseurs Ümit Ünal, der mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde. "Ara", auf deutsch "Lücke, Entfernung, Pause" und der Imperativ des Verbs "suchen", spielt ausschließlich in einer minimal eingerichteten alten Wohnung in Beyoglu, in der vier Charaktere über einen Zeitraum von 10 Jahren aufeinandertreffen. In verschiedenen Konstellationen sprechen, streiten und schlafen sie miteinander. Sie belügen sich, verletzen sich, lieben sich, verlassen sich. Der Regisseur Ünal, der in der Türkei schon mit seinem Film "9" und mit seinem Beitrag zu "Anlat Istanbul" überzeugen konnte, drehte "Ara" mit einem sehr kleinen Budget.

"'Ara' ist ein unbequemer Film, jeder Zuschauer wird darin auch etwas von sich selbst wiederfinden", erläutert er.
Gül, die Besitzerin der Wohnung, Tochter einer französischen Mutter und eines türkischen Vaters, fühlt sich weder in diesem noch in jenem Land zu Hause. Die Wohnung hat sie von der lieblosen Großmutter geerbt, jetzt vermietet sie sie an Filmfirmen und Werbeproduktionen, deren Szenen sich in das Leben der vier Hauptcharaktere einschleichen, es zu illustrieren, nachzuerzählen scheinen. Arriviert sind die Charaktere alle, Istanbuler Bobos zwischen dreißig und vierzig, die sich für Design und Rotwein begeistern, aber angekommen ist keiner von ihnen.

Die Figuren Ender und Veli kommen aus einfachen Verhältnissen und leiten jetzt erfolgreich eine Firma für Grafikdesign, fahren große Autos, sind reich. Doch auch ihnen scheint etwas zu fehlen, weder Geld noch Karriere scheinen die seelische Lücke füllen zu können. In einem Interview (hier, in türkischer Sprache) erklärte Ünal, er wolle die Seelen dieses neuen türkischen Mittelstands, derer, die schnell viel Geld verdient haben, ergründen. "Die Türkei hat in den letzten Jahren einen unglaublichen Klassensprung erlebt. Noch vor kurzer Zeit waren alle arm. Nur drei, vier Leute konnten einen Mercedes fahren. Jetzt sieht es so aus, als wären alle wohlhabend. Aber der Schein trügt. Bei vielen der um die Vierzigjährigen herrscht eine große innere Leere."

Auch politisches Kino fand dieses Jahr wieder seinen Platz im türkischen Programm des Filmfestivals, doch es fand von Seiten der Kritiker nur verhaltenen Zuspruch. Die Preis für die beste Hauptdarstellerin ging an die Theaterschauspielerin Ayca Damgaci für ihre Rolle in Hüseyin Karabeys erstem Spielfilm "Gitmek / My Marlon and Brando", in dem die Geschichte einer Schauspielerin erzählt wird, die sich bei Dreharbeiten im Nordirak in einen Kurden verliebt und nach dem Ausbruch des Krieges aufbricht, ihren Geliebten zu treffen. Dabei führt sie ihre Reise durch den kurdischen Südosten der Türkei, durch Iran und schließlich den Irak. Die sanfte, für Toleranz und Frieden werbende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die Schauspieler spielen sich selbst, Realität und Fiktion werden ineinander verwischt. In der Türkei, in der der Kurdenkonflikt in den letzten Monaten wieder aufgeflammt ist und in der viele den Südosten nur als Konfliktherd, als No-Go-Area sehen, stieß der Film beim Publikum auf großes Interesse.

Nach dem Erfolg des Films "Mutluluk", der Verfilmung einer Erzählung von Schriftsteller und Liedermacher Zülfü Livaneli durch den Regisseur Abdullah Oguz, widmeten sich dieses Jahr zwei Festivalbeiträge dem Thema Ehrenmord. "Havar", der erste Film des Dokumentarfilmers Mehmet Güleryüz, konnte weder Kritik noch das Publikum überzeugen und enttäuschte durch Klischees und romantisierenden Orientalismus, der keinen Raum für Diskussionen ließ. Unentschieden taumelnd zwischen Narration und Betrachtung, erzählt der Film die Geschichte des Mädchens Havar (was auf Kurdisch "Schrei, Revolte" heißt), die aufgrund eines vagen Gerüchts in den Verdacht gerät, einen Geliebten zu haben. Um die Ehre der Familie und des Dorfes wiederherzustellen, beschließt die Familie, Havar hinzurichten. In Rückblicken erfährt der Zuschauer von anderen Mädchen im Dorf, die ein ähnliches Schicksal erleiden mussten und deren Tod teilweise als Selbstmord vertuscht wurde.

Der neorealistische, an die Erzählweise iranischen Kinos angelehnte Ansatz geht nicht auf, der Regisseur scheitert an der Schauspielerführung, an seiner Unentschlossenheit, sich ganz auf die Psychologie der Charaktere einzulassen. "Havar" verlasse sich zu sehr auf den Effekt der Empörung über Ehrenmorde, schreibt Filmkritiker Kerem Akca, ohne kinematografischer Grammatik auch nur die kleinste Beachtung zu schenken.

Zensur und Selbstzensur

Einen anderen Ansatz sucht die Regisseurin Handan Ipekci in ihrem jüngsten Film "Sakli Yüzler / Hidden Faces", der im November 2007 in der Türkei in die Kinos kam. Ipekci wurde in der Türkei und im Ausland mit ihrem Film "Büyük adam, kücük ask" bekannt, in dem sie die Geschichte eines kleinen kurdischen Mädchens erzählt, das durch eine Militäroperation seine Eltern verliert und so im Haushalt eines streng kemalistischen Richters landet, der sie schnell ins Herz schließt und sogar beginnt, Kurdisch zu lernen. In einem Interview erzählt Ikepci, dass sie vorgehabt hatte, einen Dokumentarfilm über Ehrenmorde zu drehen. Einen nach dem anderen wollte sie Männer, die für die Ehre ihrer Familie gemordet hatten, befragen und die Dokumente zu einem Film zusammenfassen. "Aber da hätte niemand die Wahrheit gesagt", begründet sie ihre Entscheidung, das Thema in einem Spielfilm zu verabeiten.

Die Dokumentarfilmidee taucht in "Sakli Yüzler" jedoch wieder auf. Erzählt wird von Ali, der seit fünf Jahren in einem Dönerrestaurant in Deutschland arbeitet und durch einen Dokumentarfilm über Ehrenmorde in der Türkei davon erfährt, dass seine Nichte Zühre, die er für tot gehalten hatte, noch lebt. Ali beschließt, in die Türkei zurückzukehren, um Zühre zu töten. Sie hatte die Ehre der Familie beschmutzt, als sie von ihrem heimlichen Geliebten geschwängert wurde.

"Sakli Yüzler" zeigt dabei erbarmungslos die Gewalt und die Verletzungen derjenigen, die darunter zu leiden haben. Es ist schade, dass der Film sich trotzdem in zu verworrenen Erzählsträngen verliert und am Ende Realismus und Psychologie der Figuren einem effektheischenden Spannungsaufbau weichen müssen. Es gelingt dem nur im Ansatz politischen Film auch nicht, die Diskussion über die Handlung selbst hinauszuheben.
Politisches Kino hat in der Türkei immer noch einen schwierigen Stand. Handan Ipekci hat die Absurdität türkischer Zensur und Selbstzensur erlebt. Ihr vom türkischen Kultusministerium geförderter Film "Büyük adam, kücük ask" war aufgrund einer Anzeige von der Polizeidirektion, die behauptet hatte, der Film lasse die Gendarmerie in einem schlechten Licht erscheinen, 2002 für fünf Monate verboten worden. Der Regisseurin selbst drohte damals eine Haftstrafe. Obwohl "Büyük adam, kücük ask" auch in der Türkei mit Preisen überschüttet worden war, findet sie bis heute keinen Käufer dafür. "Es ist, als ob eine unbenannte Zensur stattfindet", sagt Ipekci. "Wie gerecht ist es, unter diesen Bedingungen einen politischen Film zu erwarten?"

Auf der offiziellen Internetseite des Festivals ist zu lesen: "Seit 1988 ist das Festival frei von jeder Zensur." Vorher kontrollierte ein eigens dafür eingerichtetes Gremium die Filme, die gezeigt wurden. Nach dem Militärputsch von 1980 wurde die kulturelle und mediale Landschaft der Türkei streng überwacht. 1988 wurden fünf der vom Festival ausgewählten Filme zum Teil aus politischen, zum Teil aus moralischen oder religiösen Gründen aus dem Programm genommen oder erheblich beschnitten. Man probte daraufhin den Aufstang gegen die Zensur aufzulehnen. Der damalige Direktor der Filmtage, Vecdi Sayar, verurteilte die Entscheidung der Filmwächter als "unzeitgemäß". Nicht einmal in faschistischen Regimes verbiete eine Regierung für ein Festival eingereichte Filme einfach so, zitierte ihn die Zeitung Cumhuriyet.

Es wurden Protestmärsche organisiert. Türkische und ausländische Filmemacher, darunter auch der Vorsitzende der Jury des Internationalen Wettbewerbs von 1988, der Regisseur Elia Kazan, forderten die türkische Regierung auf, endlich auf die Zensur von Filmen zu verzichten. Der Kultur - und Tourismusminister der Türkei zu diesem Zeitpunkt, Tinaz Titiz, gab schließlich nach - zumindest das Verbot von Filmen aus dem Ausland schien ihm ein unvorteilhaftes Bild von der Türkei zu zeichnen. 1989 war schließlich das erste Jahr in der Geschichte des Festivals, in dem ausländische Beiträge weder gekürzt noch verboten wurden.

Türkische Filme waren jedoch auch nach 1989 und auch im Rahmen des Filmfestivals von Zensur und Verbot betroffen. Doch seitdem hat sich einiges geändert. Dennoch darf längst noch nicht alles gemacht, gezeigt oder gesagt werden. Der umstrittene Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine "Beleidigung des Türkentums und öffentlicher Ämter und Institutionen", und damit ist auch das türkische Militär gemeint, mit hohen Gefängnisstrafen ahndet, führt oft zu strenger Selbstkontrolle. Das Internationale Filmfestival Istanbul hat dennoch einen wichtigen Beitrag zur Rede- und Meinungsfreiheit geleistet.