Post aus Ramallah

Optimistische Vorwärtsgerichtetheit

3. und 4. Brief. Von Uta Ruge
19.04.2006. Adapterprobleme. Verspätete Schockreaktionen. Und warum man Jura studieren sollte, wenn man arabischen Schülern helfen will.
3. Brief

Einen Tag fast gänzlich im Hotel verbracht. Schlage mich mit Kabeln und Steckeradaptern, mit Kleincomputern und Internetzugang herum. Nichts funktioniert auf Anhieb. Zusätzlich Kopfschmerzen und schlechter Schlaf, Umzug von einem Raum in den anderen, weil ich bei der Planung einen Tag übersah und zu kurz gebucht hatte. Und dieses Zimmer geht direkt auf die Dizengoffstreet hinaus, ist unendlich laut, die Fenster kann man schon gar nicht öffnen. Telefonat mit Amira, die sich amüsiert: Du bist doch sonst so jekkisch, so genau und organisiert. Was ist los mit dir?

Mein Interview gestern abend mit Avia in Ramat Aviv lief nicht so gut. Ich bin nämlich auch hier, weil Avia mich im letzten Sommer in Berlin besucht und gemeint hatte, ich solle alle Frauen, die ich 1982 in Israel interviewte, noch einmal aufsuchen und befragen. Zuerst wollte ich nicht, - keine Zeit. Und jetzt machen sich die fehlende Vorbereitung und Planung bemerkbar.

Avia erzählte munter drauf los, bis ich nachts um halb Eins fast vom Stuhl fiel vor Müdigkeit. Die Aufnahmen mit dem neuen Gerät sind, wie so oft, zu leise, weil ich den Leuten so ungern das Mikrophon direkt vor den Mund halte. Finde wieder einmal meinen Verdacht bestätigt, dass ich mir eigentlich nur gerne von Menschen ihre Geschichte erzählen lasse, dass Artikel oder Sendungen nur ein Alibi sind.

Allerdings hatte Avia, die aus einer jemenitischen Familie stammt und als Lehrerin ihr Leben lang arabische Kinder in Jaffa unterrichtet hat, mich mit ihrem Berlinbesuch sehr beeindruckt. Sie hatte gesagt: " Ich habe Deutschland immer gehasst, aber ich war nie dort. Ich fand, dass ich endlich mein Vorurteil bekämpfen sollte." Es habe ihr in Berlin gut gefallen, nur frage sie sich jetzt, wohin "das alles" gegangen sei. In der nächsten Woche feiert sie ihren sechzigsten Geburtstag und hat gerade begonnen, Jura zu studieren, um ihren ehemaligen Schülern zu helfen. "Sie sind inzwischen fast alle mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es geht kaum anders, ihr Leben ist so."

Heute das Gespräch mit Gilberte, die aus Paris stammt. Sie ist Reisekauffrau und erzählt, dass sie während der zweiten Intifada klinisch depressiv wurde, dass einmal ein Selbstmordattentat nur wenige hundert Meter von ihrem Büro entfernt stattfand, dass sie völlig ruhig blieb und Leuten half, zwei Wochen danach allerdings mit verspäteter Schockreaktion für eine Woche ins Krankenhaus musste. Sie erzählt vom ersten Golfkrieg und dass ihr damals klar wurde, dass Israel jetzt, 18 Jahre nach ihrer Einwanderung, wirklich ihr Zuhause geworden sei, "for better or worse". Seither engagiere sie sich noch intensiver gegen die Besatzung. Sie bewundere, was Amira tue, ihr mutiges Eintreten für die Rechte der Palästinenser, aber frage sich auch: "Kann man so leben? Wie lebt sie?"

Wir gehen zum Kaffeetrinken hinunter in ein Cafe. Befriedigt zeigt sie auf den lärmenden Verkehr: Jetzt lebt die Stadt wieder. Vor vier Jahren war sie tot, keine Busse, keine Autos, ein Geschäft nach dem anderen schloss. Jetzt kommen die Touristen wieder.

Abends noch Tonaufnahmen vom Straßenlärm. Danach Fernsehversuche, die ich schnell aufgebe. Gehe stattdessen doch noch einmal nach draußen, kaufe Mispeln und frische Datteln vom arabischen Gemüseladen ein paar Häuser weiter. Sah den jungen Mann von dort, kompakt und groß und dunkel, einer kleinen weißhaarigen Frau den Einkauf nach Hause tragen, neben ihr hergehend und sich im Gespräch fast zärtlich zu ihr hinunter beugend. Die Freundlichkeit gegenüber alten Menschen ist mir hier noch öfter aufgefallen.

4. Brief

Wenigstens setzt der Lärm spät ein. Morgens um sieben ist es fast noch still, selbst um neun kann man noch die Fenster öffnen.
Genuss eines terminfreien Tages. Vielleicht rufe ich Rachel Karni an, eine meiner Gesprächspartnerinnen von damals. Vielleicht auch Judith oder Daphna. Vielleicht auch niemanden.

Oder ein Spaziergang am Meer? Aber die Beton-Bettenburgen und die elend laute Straße am Strand entlang laden wenig dazu ein. Entscheide mich am Ende für einen Gang zur Alexander-Yanai-Straße. Dort entwickelte und unterrichtete Mosche Feldenkrais fast zwanzig Jahre lang seine Lektionen, die schließlich von Tonbändern transkribiert und übersetzt auf Englisch erschienen. über 600 Bewegungssequenzen von je einer knappen Stunde Dauer sind seither erschienen. Sie werden von den Profis die Yanai-Lektionen genannt: Seit zwei Jahren bin ich für die deutsche Fassung zuständig. Also: ein Fototermin fürs Straßenschild, auf dem der Name in hebräischen, arabischen und lateinischen Lettern steht.

Auf dem Weg dorthin viele kleine Läden mit Designerklamotten: hübsches Zeug, viel Abendgarderobe, viele Kleider in Weiß, bestickt, gerafft, mit Perlen besetzt, teils mit durchsichtigen Stoffen, kokett und lässig zugleich. Alles Brautkleider? Oder ist Weiß die Modefarbe der Saison? Bunte Taschen, Schuhe, origineller Schmuck, alles mehr oder weniger bezahlbar. Auch Bettler gesehen, Straßenmusikanten, ärmlich gekleidete Menschen, russische Gesichter, einmal zwei Männer auf einem von einem Pferd gezogenen, offenen Wagen. Per Lautsprecher der Ruf nach Lumpen, Eisen, Knochen und Papier - nein, was sie wirklich rufen ist "Alte Sachen", auch Palästinenser, sagt man mir, rufen es, auf Jiddisch.

Kaum ein Geschäft hat noch einen Sicherheitsmann am Eingang stehen, Ausnahmen sind Banken und große Supermärkte.

Mehrmals fallen mir junge Frauen, manchmal auch ein Mann aus den Philippinen auf, die mit ihren Schützlingen, alten Frauen und Männern auf Bänken an der Straße sitzen oder in langsamem Tempo und Einkaufstüten schleppend mit ihnen aus den Geschäften kommen. Sie lassen mich an den Dokumentarfilm "Bubot Niyar" (Papierpuppen) denken, der auf den Berliner Filmfestspielen in diesem Jahr den Publikumspreis gewann. Er zeigt die anrührende Geschichte einer Gruppe transsexueller Philippinos, die als Altenpfleger in Israel arbeiten und an Wochenenden auf irgendeiner Kleinbühne in Tel Aviv stehend ihren Traum von der Glamourwelt besingen und betanzen. Sobald sie ihre Arbeit verlieren, ihre Alten sterben, werden sie zu Illegalen und zurück geschickt, es sei denn, sie finden sofort wieder Arbeit.

Zwischen zwei heruntergekommenen Hausern führt ein schmaler Pfad zu einem kleinen Park. In ihm sitzen statt junger Frauen mit Kinderwagen, die ich erwartet hatte, junge Männer mit großen Hunden. Neben dem Kinderspielplatz eine Bronzeskulptur, optimistische Vorwärtsgerichtetheit. Sie erinnert mich an die DDR. Am Ende des Ausflugs Kaffee, Zigaretten, Zeitung.

Die Herald Tribune erscheint hier mit einem täglichen Digest von Haaretz auf Englisch. Ihre Titelseite zeigt das Foto eines Autos, aus dem gerade zwei Jugendliche mit panisch verzerrten Gesichter steigen, beide halten ein blutendes Kind im Arm. Bildunterschrift: "Palästinenser bringen zwei verletzte Kinder ins Krankenhaus, nachdem Artilleriebeschuss ihr Haus gestern im nördlichen Gazastreifen getroffen hat". Der Artikel berichtet über den Beschuss unter der Überschrift: "Israelische Verteidigungskräfte fahren trotz ziviler Opfer mit Beschuss fort." Ein zwölfjähriges Mädchen wurde getötet.
Dieses Kind, dessen Tod die Armee "bedauert", ist seit Freitag, also seit meiner Ankunft in Tel Aviv das 17. palästinensische Todesopfer, 60 Kilometer von hier.

Zurück im Hotel rufe ich Amira an. Sie klingt müde, schreibt an mehreren Texten gleichzeitig. Sonntag will sie ein Abschiedsfest für einen Freund ausrichten, der aufgrund der verrückten Passgesetze für Palästinenser sein Mathematikstudium in Haifa nicht fortsetzen kann. Die neueste Hoffnung ist ein Einreisevisum für Großbritannien. Aber man weiß nicht, ob sie ihn über die Allenby-Brücke ausreisen lassen. Rechtsanwälte warnen vor dem Versuch der Ausreise über Jordanien, er könnte nach Gaza ausgewiesen werden, nur für dort hat er Papiere.

Morgen holt sie mich ab. Ich hasse es, nach Tel Aviv zu fahren, sagt sie. Ich kann da gar nicht mehr sein. Dort würde ich verrückt werden.