9punkt - Die Debattenrundschau

Dopamin-getriebene Feedback Loops

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2017. Die Politologin Renata Mienkowska ist sich in Zeit online sicher, dass die polnische Regierung mit dem Abbau des Rechtsstaats fortfahren wird. Außerdem fordert sie die Bevölkerung auf, endlich wieder mehr Kinder zu machen, berichtet die taz. Der Politikwissenschaftler Stefan Luft fürchtet in der SZ, das die Flüchtlinge dem Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte schaden. Im Tagesspiegel attackiert Necla Kelek Grüne und Linkspartei beim Thema Integration. In der NZZ sieht Bora Cosic die Oktoberrevolution als Peripetie in einem Zerfallsprozess.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2017 finden Sie hier

Europa

Die polnische Regierung wird nicht einlenken und den Abbau des Rechtsstaats weiter vorantreiben, meint im Zeit-Interview die Politologin Renata Mienkowska. Wer sollte sie auch daran hindern? Die Opposition ist völlig zerfasert und die EU hat keinen Biss. Selbst die Schulen werden nicht verschont: "Mit Beginn des Schuljahrs 2017/18 hat die Regierung eine neue Schulreform umgesetzt, mit dem Ziel, Kontrolle über die Lehrinhalte zu bekommen und Direktoren sowie Lehrer nach politischer Loyalität auszuwählen. So zieht man eine Generation heran, die weniger aufgeschlossen und stattdessen katholisch-patriotisch geprägt ist. Eventuell bleibt das Internet als Korrektiv. Aber nicht einmal darauf können wir vertrauen. Die PiS erkennt die Wichtigkeit der sozialen Medien und schickt ihre Trolle in alle wichtigen Debatten."

In Ländern mit populistischen Regierungen wird die Bevölkerung aufgerufen, sich zu mehren. In Polen sorgt ein Clip in Teletubbies-Ästhetik mit fröhlichen Hasen für Aufregung, schreibt Philipp Fritz in der taz: "Vieles an dem Clip löst beim Betrachter Schmerzen in der Brust aus. Hasen immerhin sind im Tierreich ganz weit vorn, zehn oder sogar zwölf Tiere können sie hintereinander werfen und das mehrere Male im Jahr. Sollen hier Frauen zu Gebärmaschinen degradiert werden? Die Sprache in Verbindung mit Hasen sei negativ, kommentierte der bekannte Sprachwissenschaftler Jerzy Bralczyk. 'Eine fatale Idee.'" Über die Türkei berichtet im selben Artikel Canset Icpinar.

Die Flüchtlinge in Deutschland werden auf dem Arbeitsmarkt erstmal den Geringqualifizierten Konkurrenz machen, fürchtet der Bremer Politikwissenschaftler Stefan Luft in der SZ. Was dann geschieht, könne man in den USA beobachten: "Der Zustrom billiger Arbeitskräfte - vor allem aus Mexiko - wurde genutzt, um gewerkschaftliche Organisationsmacht zu schwächen, Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, Arbeitszeiten zu verlängern und Löhne zu senken. Die wirtschaftliche Ungleichheit hat in den USA auch aus diesen Gründen zugenommen... Wer die Tür zum Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte in großer Zahl öffnet - aus welchen ehrenwerten Motiven auch immer - muss mit Nebenwirkungen rechnen, die die Gerechtigkeitsfrage neu aufwerfen und Verteilungskonflikte provozieren. Ausweichen lässt sich ihnen nicht."

Wenn die EU auf die Briten verzichten muss, muss sie auch auf ein überlegenes Modell der Integration verzichten, schreibt Ginger Hervey in politico.eu, die das britische Modell gegen das französische stellt und Sarah Chander vom "European Network Against Racism" zitiert: "Im Vereinigten Königreich ist es leichter als in anderen Ländern, über 'Rasse' und ethnischen Hintergrund zu sprechen, sagt Chander. Sie führt dies zum Teil auf die 'Political Blackness'-Bewegung in Britannien in den Siebzigern zurück, als ethnische Minoritäten gemeinsam gegen Rassismus protestierten und ein Gespräch über 'Rasse' im Mainstream erzwangen. Als Antwort wurde im Jahr 1976 ein 'Race Relations Act' erlassen, um Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe zu bekämpfen. In der selben Zeit wurde in Frankreich ein Gesetz erlassen, dass die Sammlung von Statistiken über Hautfarbe und ethnischen Hintergrund untersagte." Doch eine solche Sammlung, so Hervey, mache Diskriminierung erst sichtbar.
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Internet

Der frühere hohe Facebook-Manager Chamath Palihapitiya hat bekannt, "tiefe Schuld" dafür zu empfinden, dass er an Werkzeugen mitgearbeitet hat, "die die Gesellschaft  zerreißen", berichtet Julia Carrie Wong im Guardian. "Die kurzfristigen, Dopamin-getriebenen Feedback Loops, die wir geschaffen haben, zerstören die Gesellschaft. Kein ziviler Diskurs, keine Kooperation, nur Desinformation und Misstrauen. ... Es geht hier nicht um die russischen Anzeigen, das ist ein globales Problem ... Es unterminiert die Grundwerte, auf denen Verhalten anderen gegenüber beruht." Die Äußerungen sind zuerst in Verge am Montag publik geworden. Auch Facebook-Mitbegründer Sean Parker hat sich laut Wong sehr kritisch über Facebook geäußert.

Außerdem: Adrian Daub stellt in der NZZ fest, dass viele Rechtsextreme in Amerika "überdurchschnittlich starke Verbindungen in die Technologiebranche haben. Sie sind durch Technologie groß geworden".
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Politik

(Via FAZ.Net) Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Angelina Jolie rufen in einem gemeinsamen Text im Guardian dazu auf, das die Nato Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe wesentlich stärker als bisher bekämpfen solle: "Wenn solche Gewalt als Kriegsakt ausgeübt wird, zerreißt sie Familien, führt zu massenhaften Vertreibungen und macht Frieden und Versöhnung wesentlich schwerer erreichbar. Tatsächlich ist genau dies häufig das Ziel dieser Kriegsstrategien."
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Geschichte

Die Historikerin Katrin Steffen greift in der taz den Streit um ein mögliches Mahnmal für die polnischen Opfer der Nationalsozialisten auf, gegen das sich ihr Kollege Stephan Lehnstaedt mit dem Argument gewandt hatte, es gebe bereits ein solches Mahnmal, denn die Mehrheit der ermordeten Polen sei jüdisch gewesen (unser Resümee): "Es geht gerade nicht darum, das Andenken an die polnischen Juden geschichtspolitisch zugunsten eines Gedenkens an nichtjüdische Polen zu 'entsorgen', sondern darum, in Deutschland aller Opfer der Besetzung in Polen zu gedenken und das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass dazu auch nichtjüdische Polen gehören."

Eine ganz eigene Interpretation der Russischen Revolution liefert Bora Ćosić in der NZZ: Er sieht sie als Endpunkt einer Dekadenz und eines sozialen Verfalls: "Nur dass diese Tat keine Typen durchführen werden, die unversöhnliche Wahnsinnige, Sucher nach künstlichen Seligkeiten sind, angefangen bei Baudelaire über Joris-Karl Huysmans bis hin zu Oscar Wilde, sondern ein weit resoluteres Bataillon der Dekadenz, das des gefährlichen Umstürzlers Pjotr Stepanowitsch Werchowenski aus dem Roman von Dostojewski."
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Gesellschaft

Im Mai hat der Bundestag die Ehemündigkeit auf 18 Jahre heraufgesetzt, seltsamerweise wehrten sich gerade Grüne und die Linkspartei dagegen. Necla Kelek sagt dazu im Tagesspiegel-Interview mit Johannes C. Bockenheimer: "Bei dem Thema haben wir bei Terre des Femmes seit Jahren auch gegen Widerstände aus diesem politischen Milieu kämpfen müssen. Das ist eine traurige Realität: Die deutsche Linke fordert zwar seit Jahren, dass die Gesellschaft bunter und vielfältiger werden soll. Sie übersieht dabei aber, dass in den Gruppen, die das Land bunter machen sollen, Menschenrechte permanent verletzt werden, besonders auf Kosten der Mädchen und Frauen."
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Medien

Es geht darum, gemeinsam zu überleben! Im Deutschlandfunk-Interview mit Stefan Koldehoff erklärt WDR-Intendant Tom Buhrow, warum er die Texte in den Onlinepräsenzen des Senders reduziert. Aus dem wörtlich zitierten Gespräch: "Ich will ein Signal an die Verleger setzen. Wir wollen nicht die ganze Zeit uns vor Gericht oder anderswo die Köpfe einschlagen, auch in der Zeitung, sondern lass uns gucken, dass wir auskömmlich miteinander auskommen. Wir werden noch weiter Text haben, ja, es wird aber weniger sein." Den Verlegern wird das allerdings nichts bringen, meint Buhrow auch: "Ich glaube, dass auch eine Textreduktion bei uns kein bisschen ändert an ihren Schwierigkeiten."

Deniz Yücel ist fast ein Jahr in Haft. Doris Akrap schreibt in ihrer taz-Kolumne darüber, wie schwierig es ist, ein solches Thema "oben" zu halten: "Ich will mich aber heute vor allen Kollegen und Redaktionen tief verbeugen, die sich fast das ganze Jahr 2017 dafür eingesetzt haben, dass Deniz und alle anderen inhaftierten und angeklagten Journalisten in der Türkei nicht aus den Nachrichten verschwinden."

Weiteres: Einige Internetmedien schaffen es tatsächlich, sich aus Spenden zu finanzieren, wie Markus Beckdahls Transparenzbericht in Netzpolitik zeigt.
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