Vom Nachttisch geräumt
Bevor die Musik ihren Zauber entfaltet
Von Arno Widmann
27.02.2017. Hat seine ganz eigene Magie: John Eliot Gardiners Bach-Biografie.![](https://www.perlentaucher.de/cdata/K2/T13/A10042/back.jpg)
So erging es mir. Schon aufgrund meiner Ahnungslosigkeit. So habe ich diesen Hinweis nicht noch vor Weihnachten schreiben können. Ich kann ihn auch jetzt noch nicht so schreiben, wie ich wollte. Ich muss so schreiben, wie ich es kann. Viel zu oberflächlich, viel zu dumm.
Jede Zeile dieses Buches ist eine Lust zu lesen. Verstand und Gefühl, Begeisterung und Analyse verbinden sich wie selten in einem Text. Bleiben wir bei der Johannespassion. Gardiner schreibt: "Die Lichter im Saal verlöschen, der Dirigent betritt den Orchestergraben, die Musiker warten auf den ersten Einsatz. In der Luft liegt jene einzigartige Spannung, die man nur in einem abgedunkelten Opernhaus antrifft, bevor die Musik ihren Zauber entfaltet und die dramatische Handlung ihren Lauf nimmt. Ich kenne keine Opernouvertüre aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der die Stimmung der Ouvertüren zu 'Idomeneo' oder zu 'Don Giovanni' besser vorweggenommen würde als im Eingangssatz von Bachs 'Johannespassion'; ebenso wenig gibt es einen direkteren Vorfahren von Beethovens drei Leonoren-Ouvertüren." Das hat doch nichts mit Bach zu tun! rufen die Puristen empört. Bach saß nicht im Orchestergraben, sondern in der Kirche. Kein Licht ging aus. Alles trug sich in jedem Augenblick vor aller Augen ab.
Gardiner weiß das natürlich auch, und er beschreibt es uns auch. Aber er macht uns auch klar, dass Bach nicht allein verstanden werden kann als ein Produkt der Welt, aus der er kam, in der er lebte, sondern begriffen werden muss auch von der Zukunft her, in die er führte. Gardiner beschreibt sehr genau, wie Bach sein Musikdrama entwickelt, wie er aber gleichzeitig niemals wirklich hinüberwechselt in die Oper. "Gut möglich, dass diese einzigartige Verquickung von Musik, Exegese und Dramatik das ursprüngliche, bibelfeste Publikum ebenso verblüffte, wie sie über die Köpfe vieler heutiger, mit der Bibel oft wenig vertrauter Konzertbesucher wohl hinwegrauscht; und doch können auch Letztere sich ihrem Bann nicht entziehen." Gardiners Buch ist ganz wesentlich auch ein Versuch, sich darüber klar zu werden, wie Bachs Kunst, die aus sehr speziellen religiösen und musikalischen Voraussetzungen hervorging, so etwas wie "Weltmusik" werden konnte.
Für die Generation der Großeltern der Leser dieser Hinweise war Karl Richters Einspielung das Modell, so hatte es zu sein. Wer mit von Gardiners gerade zitiertem Text gespitzten Ohren Richter hört, der hört das Opernhafte deutlicher als bei Gardiner selbst, der ja davon gerade weg wollte. Aber er wollte nicht weg, um es nicht mehr spüren zu lassen. Sondern es sollte durchscheinen, nicht die eigentliche Botschaft sein. Bei Richter aber ist die Überwältigung das Ziel der Performance. Das ist seit der Wiederentdeckung der Alten Musik anders geworden. Der Zuhörer ist involviert in das Drama. Aber er ist Akteur darin, nicht Opfer. Das hat, Gardiner erinnert daran, mit dem Charakter des lutherischen Gottesdienstes zu tun. Er ist keine Schauveranstaltung, sondern eine gemeinsame Handlung. Publikum und Chor und Orchester sind nicht eins, aber sie sind alle Akteure. Verbunden im Gottesdienst. In dem mitgedacht wird.
Dieser kleine Hinweis möge genügen, Sie in die Buchhandlung eilen zu lassen und eines der klügsten und schönsten Bücher des Jahres 2016 - die Originalausgabe erschien schon 2013 -zu kaufen. Lesen Sie es! Oder lesen Sie mindestens darin. Tun Sie es, bevor die Musik ihren Zauber entfaltet. Und danach. Das Buch, werden Sie merken, hat seine eigene Magie.
John Eliot Gardiner: Bach - Musik für die Himmelsburg, aus dem Englischen von Richard Barth, Carl Hanser Verlag, München 2016, 735 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 34 Euro.
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