Vom Nachttisch geräumt

Eilend zum Blutvergießen

Von Arno Widmann
15.02.2016. Diskutieren über echte und unechte Religionen: Karl Barth und Katsumi Takizawa im Brief- wechsel 1934-1968
Karl Barth (1886 - 1968) war einer der bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Weltberühmt wurde er spätestens 1922 mit der zweiten Auflage seines Kommentars zum Römerbrief des Apostels Paulus. Diesem Buch verdankt auch dieser Briefwechsel - wenn man ihn denn so nennen darf - seine Entstehung. Nach dem Abschluss seines Philosophiestudiums erwog Katsumi Takizawa (1909 - 1984) nach Deutschland zu gehen, gewissermaßen zu einem Aufbaustudium. Er beriet sich mit Kitaro Nishida (1870 - 1945), der eine Martin Buber sehr ähnliche Ich-Du-Philosophie entwickelt hatte. Der riet ihm, nicht etwa nach Freiburg zu dem von ihm sehr geschätzten Martin Heidegger zu gehen, sondern empfahl ihm den Autor des Römerbriefes. Im April 1934 besuchte Katsumi Takizawa die erste Vorlesung Karl Barths, der damals noch in Bonn lehrte. Natürlich stellte er sich auch dem Professor vor. Ein paar Monate später hatte er nicht nur Griechisch gelernt, sondern hielt auch sein erstes Referat auf Deutsch. 92 Briefe umfasst der Briefwechsel. Sechs Briefe davon stammen von Karl Barth. Dazu kommen noch drei Briefe von Charlotte von Kirschbaum (1899 - 1975), Karl Barths Assistentin, Sekretärin und Geliebter. Alle anderen sind - zum Teil auch ausführliche - Schreiben des japanischen Philosophen, der sich 1958 taufen ließ.


Fragment des Römerbriefs, Chester Beatty Library

Die Briefe wurden gekürzt. Eckige Klammern markieren wo. Es gibt Stellen, da greift der Leser sich an den Kopf und fragt: Musste ausgerechnet hier gestrichen werden? Das liest sich dann so: "Es könnte auch in Japan sehr bald [eine] ähnliche Lage wie in Deutschland [...] [entstehen]". Der Leser kann nur hoffen, dass es hier um nichts als eine kleine Nachhilfestellung bei der Bewältigung der deutschen Syntax geht. Es ist die Stelle, an der der japanische Gelehrte auf Karl Barths Frage antwortet, ob der wieder erstarkte japanische Kaiserkult eine Parallele zu dem des Führers in Nazideutschland sei. Katsumi Takizawa weist auf die lange Tradition des Kaiserkultes hin, lenkt dann aber sofort die Aufmerksamkeit Charlotte von Kirschbaums, an die der Brief gerichtet ist - einer von zehn -, auf die Sekte eines Predigers, der sich als wahren, vergöttlichten Kaiser ausgab und mit diesem Geschäftsmodell 400 000 Gläubige "ausgepresst" habe. "Er sitzt natürlich jetzt im Gefängnis und diese Religion soll von der Polizei ausgerottet werden. Und das Innenministerium will ein neues Gesetz proklamieren, hauptsächlich um diese Abarten zu vernichten. Aber wo will man denn dabei das Kriterium der echten und unechten Religionen setzen?! Es gibt bei uns noch unzählbare solche Religionen, vor deren Grausamkeit ich von neuem erschrecke."

Eine Anmerkung erläutert die erwähnte Sekte Omotokyo: "Neu-Religion aus der shintoistischen Tradition, 1892 begründet von Nao Deguchi; der damalige Führer war ihr Schwiegersohn Onisaburo Deguchi (1871 - 1948). Der Gott von Omotokyo ist universal sowie höher und größer als der Tenno (Kaiser) von Japan, weswegen die Führer dieser Religion während der Kriegszeit unter dem Kaiser-Faschismus viel leiden mussten." Es empfiehlt sich - auch diesmal - ein Blick in Wikipedia. Darin heißt es: "die spirituellen Führer der Bewegung waren immer Frauen". Die Dialektik auch der japanischen Modernisierung!

Zu einem Weltgott gehört nicht nur, dass er andere Götter in sich aufnimmt, sondern auch eine Weltsprache: in diesem Fall das Esperanto. Der Begründer des Aikido war ein Gefolgsmann der Bewegung. Und noch einmal Wikipedia: "Von 1925 bis 1933 unterhielt Ōmoto in Paris eine Mission. Von hier aus reisten Missionare durch Europa, um die Nachricht zu verbreiten, dass Ōnisaburō Deguchi ein Messias oder Maitreya sei, der die Welt vereinigen werde." Heute soll die Bewegung 45 000 aktive Mitglieder haben.


Katsumi Takizawa

Pardon, wir sind weit abgeschweift von Karl Barth. Nein, in Wahrheit sind wir mitten drin in einem der zentralen Themen, die Katsumi Takizawa bewegen: das Verhältnis des Göttlichen zur Welt. Der allgegenwärtige Gott ist gleichzeitig das ganz Andere, das zutiefst Fremde. Ähnlich bei Karl Barth. Gott ist für ihn das erschütternd Unbegreifliche, das uns mitten im Leben trifft. Niemand verfügt über ihn, auch kein christlicher Theologe. Gott "ist die absolute Krisis für die Welt des Menschen, der Zeit und der Dinge". Genau dadurch aber ist er "mitten unter uns". Was ist der Unterschied zwischen einem Mann im heutigen Japan, mag sich Katsumi Takizawa gefragt haben, der sich für den Erlöser hält, und einem Jesus, der vor zweitausend Jahren am See Genezareth Jünger für seine Lehre warb?

Barths Römerbrief gehört zur am Expressionismus geschulten Nachkriegsliteratur. Darin ist er Ernst Bloch sehr ähnlich. Die Zerstörung Europas, ja der ganzen "Welt von gestern" prägt diese Denker. Bart schreibt in seinem Römerbriefbuch, wie es sich für einen Theologen gehört, Paulus zitierend: "'Eilend ihre Füße zum Blutvergießen, Verwüstung und Jammer ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens erkennten sie nicht', das ist's, was von der Menschen Taten und Werken zu sagen ist." Das ist die Erfahrung des Ersten Weltkrieges - wohl überall. Das war die Stimme, die Katsumi Takizawa hörte und die, geben wir es zu, wir immer noch hören. Sie kommt in diesem Briefwechsel leider kaum vor. Barth musste Bonn verlassen und fand an der Universität Basel eine neue Heimstätte. Wir lesen von den Auseinandersetzungen um und innerhalb der Bekennenden Kirche, aber es gibt keine Zeile, die das Entsetzen über die Menschheit noch einmal so klar artikuliert wie der junge Karl Barth es getan hatte.

Man wird die Auseinandersetzungen Katsumi Takizawas mit dem Christentum, vor allem in seiner Interpretation durch Karl Barth, noch einmal viel genauer lesen müssen, wenn man beginnt sich darüber klar zu werden, dass das Christentum gerade im 20. Jahrhundert eine der missionarisch erfolgreichsten Religionen der Welt war. Wer sich sofort abwendet von den theologischen Auseinandersetzungen und sich einzig und allein auf die soziologischen, politischen, gar militärischen Aspekte stürzt, der übersieht, dass der Religionswechsel Einzelner immer der von Menschen ist, die sich für die Götterwelt, fürs Transzendente und seine Einwirkung auf Geschichte und Gegenwart, interessieren.

Karl Barth, Katsumi Takizawa - Briefwechsel 1934 - 1968, herausgegeben von Susanne Hennecke und Ab Venemans, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 307 Seiten, 100 Euro.