Vom Nachttisch geräumt
Alle Lust ist gesellschaftlich
Von Arno Widmann
04.12.2016. Wunderbar vertrackt dialektisch: Adorno, Zhuangzi und Cavendish in Meiners Philosophischem Kalender 2017 zum Thema Natur.![](https://www.perlentaucher.de/cdata/K2/T13/A9386/natur.jpg)
Es ist die Natur, die uns zu Individuen macht. Nicht die Gesellschaft. Deren Aufgabe ist es, uns einander gleich zu machen. So heißt es im China vor mehr als 2300 Jahren. Wer das im Dezember 2017 lesen wird, der hat vielleicht noch im Ohr, was er im August des Jahres aus Adornos und Horkheimers in den frühen 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstandenen "Dialektik der Aufklärung" gelesen hatte. "Natur kennt nicht eigentlich Genuss: Sie bringt es nicht weiter als zur Stillung des Bedürfnisses. Alle Lust ist gesellschaftlich in den unsublimierten Affekten nicht weniger als in den sublimierten. Sie stammt aus der Entfremdung. Auch wo Genuss des Wissens ums Verbot entbehrt, das er verletzt, geht er aus Zivilisation, der festen Ordnung erst hervor, aus der er sich zur Natur, vor der sie ihn beschützt, zurücksehnt. Erst wenn aus dem Zwang der Arbeit, aus der Bindung des Einzelnen an eine bestimmte gesellschaftliche Funktion und schließlich an ein Selbst, der Traum in die herrschaftslose, zuchtlose Vorzeit zurückführt, empfinden die Menschen den Zauber des Genusses. Das Heimweh des in Zivilisation Verstrickten, die 'objektive Verzweiflung' derer, die sich zum Element gesellschaftlicher Ordnung machen mussten, war es, von der die Liebe zu Göttern und Dämonen sich nährte, an sie als die verklärte Natur wandten sie sich in der Anbetung. Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluss ganz unterjocht wird. Der Genuss ist gleichsam ihre Rache."
So wunderbar vertrackt dialektisch hier das Verhältnis von Lust und Unterwerfung verhandelt wird, so sehr fällt einem auf, dass an dieser Stelle die Lust an der Unterwerfung nicht einmal erwähnt wird. Wie undialektisch Natur und Mensch hier getrennt werden! Wie die beiden kritischen Theoretiker "Gesellschaft" als etwas exquisit Menschliches betrachten! Unfassbar. Die Lust, die springende Delphine ausstrahlen, zeigt, dass auch die Natur - wenn man denn so reden möchte - den Genuss kennt. "Alle Lust ist gesellschaftlich in den unsublimierten Affekten nicht weniger als in den sublimierten". Das könnte auch auf die in Gesellschaftsverbänden organisierten Delphine zutreffen. Auch sie sind "in Zivilisation Verstrickte". Eine kritische Theorie heute wird Natur und Gesellschaft nicht mehr so einander gegenüberstellen können, wie Adorno und Horkheimer es an dieser Stelle - gewissermaßen unter ihrem Niveau - taten.
Am Ende noch ein Zitat aus dem, wenn ich so sagen darf, Science-Fiction-Roman "Die gleißende Welt" von der viel zu wenig gelesenen Margaret Cavendish (1623-1673): "Denn sowohl durch eigene Überlegung als auch durch Beobachtungen, die ich durch vernunftgemäße und sinnliche Wahrnehmung über die Natur und ihre Werke angestellt habe, komme ich zu der Erkenntnis, dass die Natur nur ein einziger unendlicher selbstbewegter Stoff ist, der kraft seiner Selbstbewegung in unendlich viele Teile unterteilt ist, die sich aufgrund ihrer Ruhelosigkeit fortwährend zu unendlichen Zusammensetzungen und Aufspaltungen verändern und umwandeln. Wenn das nun so wäre, wie es doch einem geregelten Sinn und Verstand nicht anders erscheinen kann, dann wäre es sinnlos, nach Urbestandteilen oder Grundprinzipien natürlicher Dinge zu suchen, da es nur ein universelles Prinzip der Natur gibt, nämlich selbst-bewegte Materie, welche die einzige Ursache aller Naturkräfte ist."
Viel Spaß mit
Meiners Philosophischer Kalender 2017, hrsg. von Martin Eberhardt und Andrea Lassalle, Hamburg 2016, Meiner Verlag, 56 Seiten, 21, 90 Euro.
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