Efeu - Die Kulturrundschau

Angesprochen, berücksichtigt, geschont

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03.07.2023. Die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina ist bei einem Raketenangriff auf Kramatorsk ums Leben gekommen. Die NZZ vermutet, dass das Restaurant, in dem sie gerade den kolumbianischen Autor Hector Abad traf, gezielt beschossen wurde. In Klagenfurt gewann die Berliner Autorin Valeria Gordeev den Bachmannpreis in einem starken Jahrgang, wie FR und Standard mit Freude bemerken. Die SZ stellt allerdings fest, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen Autor und Erzähler. Die Nachtkritik lauscht derweil beim Theater der Welt dem Chor der Milchkühe. Die taz bewundert in Dresden die kreidige-cremige Pudrigkeit in den Porträts der Venezianerin Rosalba Carriera.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.07.2023 finden Sie hier

Literatur

(Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)
Die ukrainische Schriftstellerin und Kriegsverbrechen-Forscherin Victoria Amelina ist bei einem Raketenangriff der russischen Seite auf Kramatorsk ums Leben gekommen, berichtet Annette Werberger in der NZZ. Amelina hatte sich mit einer Delegation aus Kolumbien, darunter der Schriftsteller Héctor Abad Faciolince, in einem Restaurant getroffen, das mutmaßlich gezielt beschossen wurde. Amelina ist es zu verdanken, dass das Tagebuch des ebenfalls im Krieg gestorbenen Autors Wolodymyr Wakulenko (mehr dazu hier) gerettet werden konnten: Sie "grub das Tagebuch nach der Befreiung Isjums gemeinsam mit Wakulenkos Vater unter einem Kirschbaum aus und brachte die Manuskripte nach Charkiw. Sie wurden erst vor wenigen Wochen von ihr publiziert. Im Vorwort schreibt sie über den Tag der Suche, dass sie noch am Abend in einem Dorf mit dem Handy jede einzelne Seite des Tagebuchs fotografiert und die Bilder an den ukrainischen PEN versandt habe: 'Danach fühlte ich mich leichter: Wolodymyrs Botschaft war gerettet, selbst wenn ich am nächsten Tag auf eine Mine treten sollte. Solange ein Schriftsteller gelesen wird, ist er am Leben.'" Auf Twitter beschrieb Amelina ihre Arbeit und dokumentierte Kriegsverbrechen Russlands.



Der Ingeborg-Bachmann-Preis geht an Valeria Gordeev, weitere Preise gehen an Laura Leupi, Martin Piekar und Anna Felnhofer. Alle vorgetragenen Texte finden sich hier. "Weitgehend logisch" findet Judith von Sternburg in der FR die Entscheidungen und freut sich über zahlreiche interessante Texte: "Das Verhältnis zwischen ernstzunehmenden und ernstlich uninteressanten Beiträgen lag nach privater Auszählung bei 10 : 2, und nicht einmal das ließ sich die Jury anmerken. Sie fiel - wenn überhaupt - lieber übereinander her als über die Lesenden." Auch Michael Wurmitzer vom Standard kommt satt aus Klagenfurt nach Hause: "Es war ein überzeugender Jahrgang auf allen Ebenen: formal gut erzählt, zugänglich, auch inhaltlich stark. Luxusprobleme und Blasentexte? Fehlanzeige. Da war viel Welt vorhanden."

"Stilistisch hat im Jahr 2023 das Ich lautstark die Bühne erobert", schreibt Marie-Luise Goldmann in der Welt angesichts der Fülle von Ich-Perspektiven. Die Jury stellte sich drauf ein, konstatiert Felix Stephan in der SZ: "Die Zeiten, in denen die Jury in Klagenfurt die Trennung zwischen Autor und Erzähler so robust ausgelegt hat, dass der Text vor ihr lag wie ein urheberloses Artefakt, sind jedenfalls unübersehbar vorbei. Diese Trennung war einst die Voraussetzung dafür, über einen missratenen Text in Anwesenheit des Autors auch mal herzlich lachen zu können. Jetzt werden die Autoren angesprochen, berücksichtigt, geschont und haben nach jeder Diskussion stets die Möglichkeit, noch einmal das Wort zu ergreifen, was die Autorin Jacinta Nandi zum Beispiel dafür nutzte, beim Bachmannpreis eine bessere Kinderbetreuung anzumahnen."

Außerdem zum Bachmann-Wettbewerb: Neu und spannend für tazlerin Susanne Messmer ist "der Streit der Juror*innen um weniger perfekte Texte": Insbesondere Insa Wilke und Mithu Sanyal fallen ihr auf, die sich nicht bloß für gedrechselt-subversive Sprache, sondern für Haltung interessieren. Beispiel Yevgeniy Breyger und sein Text "Die Lust auf Zeit": "Wie zu erwarten findet Philipp Tingler den Text zu gängig und 'beinahe etwas beliebig'. Da platzt Insa Wilke fast der Kragen und überaus erfrischender Klassenhass bricht sich Bahn. ... Es ist eine große Enttäuschung, dass nicht Breyger den Ingeborg-Bachmann-Preis erhält, sondern Valeria Gordeev mit ihrem kunstvollen, aber letztlich sehr sauberen Text." Gerrit Bartels rezensiert im Tagesspiegel die beiden Jury-Mitglieder Insa Wilke und Mithu Sanyal: "Die Literaturkritik sei patricharchal geprägt, ereiferte Wilke sich, 'Kategorien wie Körper, Empathie und Ethik' würde es im Feuilleton nicht geben, noch weniger als in der Wissenschaft." Sanyal argumentiere "emotional ('Ich kann keinen emotionalen Kontakt zu den Figuren aufbauen'), mit Tränen gar, also mit purer Empathie. Ob Wilke diese Art von Literaturkritik wirklich gut findet? ... Der Literaturkritik letzter Schluss kann Sanyals Zugang nicht sein, nicht ihre Zukunft." Auch Jan Wiele kommt in der FAZ auf die Clashs in der Jury zu sprechen. Er hat "immer stärker den Eindruck, dass gewisse Texte vor allem nominiert werden, um darüber theatralisch zu streiten. Mit der Begleiterscheinung, dass andere Texte dadurch zu Unrecht in den Schatten gestellt werden."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Standard dokumentiert Raoul Schrotts Tagebuch einer archäologischen Reise nach Algerien. In der FAZ bringt Leonhard Schulz den Schriftsteller Fikri Anıl Altıntaş (Debütroman: "Im Morgen wächst ein Birnbaum") mit dessen Vater über Männlichkeitsklischees ins Gespräch (siehe dazu auch 9punkt).

Besprochen werden unter anderem Nell Zinks "Avalon" (Standard), Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück" (Tsp), Christophe Boltanskis "Die Leben des Jacob" (Standard), Zoran Drvenkas "Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück" (Tsp) und neue Krimis, darunter Yves Raveys "Taormina" (FAZ).
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Kunst

Sarah Sasani: Monotony. Bild: Willy-Brandt-Haus

Die iranische Protestbewegung ist aus unseren Nachrichten verschwunden, weil es keine Bilder mehr gibt, weiß Gunda Bartels im Tagesspiegel. Auch die Ausstellung "Iran inside out" im Berliner Willy-Brandt-Haus muss ohne aktuelle Arbeiten auskommen, aber das nimmt der Schau nichts von ihrer Brisanz, versichert Bartels: "Die Serie 'Monotony' (2021) von Sarah Sasani, die im Iran lebt, lässt an gesellschaftskritischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sasani setzt sich mit der Rolle der Frau und der Definition ihres Körpers im Land auseinander. Ihre in entsättigten Farben inszenierten Szenen von Müttern und Ehefrauen, die Einkaufstüten schleppen, im Auto auf dem Beifahrersitz hocken oder am Herd stehen und dem am Tisch sitzenden kleinen Sohn aufwarten, sind Verzweiflungsmotive des Hausfrauenlebens. Was die Erdhaufen noch verstärken, in denen die Füße der in bleiernen Rollenklischees gefangenen Frauen stecken."

Rosalba Carriera: Caterina Sagredo Barbarigo, um 1735/40. Bilde: Gemäldegalerie Dresden

taz
-Kritikerin Renata Stih reist zur nach Dresden, um sich in der Gemäldegalerie die "fulminante" Schau zu Rosalba Carriera anzusehen, die im Venedig des 18. Jahrhunderts eine begehrte Porträtmalerei war, war man auch in ihrem Selbstporträt sieht: "Die farbliche Dichte, die Pudrigkeit - Carrieras Pastellmalerei muss noch 150 Jahre später auch Impressionisten wie Auguste Renoir beeindruckt haben. Wie schwierig die Restaurierung ihrer fragilen Werke ist, wird in Dresden anhand von zwei stark beschädigten Bildern vermittelt. Ebenso werden die langwierige Herstellung von Pastellfarben und die damit verbundenen Maltechniken erklärt. Diese waren gar nicht weit entfernt von der Mode des 18. Jahrhunderts, wie in der Schau zu sehen ist. Denn die kreidig-cremige Oberfläche der Pastelle entsprach dem Schönheitsideal des Rokoko, den makellosen, blass rosa geschminkten Gesichtern mit viel Wangenrouge, den gepuderten Haaren und gelockten Perücken."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Hochsicherheitsgesellschaft" der amerikanischen Künstlerin Julia Scher im Museum Abteiberg in Mönchengladbach (FAZ).
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Bühne

Der Chor der Milchkühe in Satoko Ichiharas "Bakchen". Foto: Theater der Welt

Mit großer Begeisterung erzählt Esther Boldt in der Nachtkritik vom Festival Theater der Welt, das in diesem Jahr in Frankfurt und Offenbach Station macht. Zum Auftakt ließ die Regisseurin und Autorin Satoko Ichihara in ihrer Euripides-Version "Die Bakchen - Holstein-Milchkühe" Monströses ausbrüten, und Boldt freut sich über eine "überwältigende, strapaziöse und mutige Festivaleröffnung": "Protagonistin des Abends ist eine Frau, die nicht mehr arbeiten wollte und darum heiratete, um den Rest ihres Lebens in einem schönen Haus und materieller Sicherheit zu verbringen - im Gegenzug für saubere, gebügelte Hemden, Essen und Sex. Zuvor hat sie jahrelang als Besamungstechnikerin von Milchkühen gearbeitet, die bekanntlich jährlich kalben müssen, um den menschlichen Bedarf an Milchprodukten zu stillen. Mit grandioser Überdrehung, oft direkt ins Publikum sprechend, spielt Yurie Nagayama diese einsame Hausfrau in Kittelschürze, die sich irgendwie eingerichtet hat in ihrer kleinen Welt. Doch das konventionell wirkende Setting kippt überraschend, als jenes Wesen vor der Tür steht, das die namenlos Bleibende einst bei ihrer Tätigkeit als Samentechnikerin erzeugte: Da besamte sie, aus einer Laune heraus, eine Kuh mit menschlichem Sperma." In der FR berichtet Marcus Hladek von weiteren Inszenierungen, während sich Lisa Berins den Performances widmet, die Festival-Kuratorin Chiaki Soma im Museum für Angewandte Kunst präsentiert.

Weiteres: In der FAZ berichtet Simon Strauss von der Abschiedsfeier für den scheidenden Intendanten des Deutschen Theaters Ulrich Khuon, auf der unter anderen Ulrich Matthes bewegende Worte sprach: "Das Entscheidende, was Matthes sagte, war, dass Khuon als Intendant stets auch Interesse an einem Theater gehabt habe, das seinem eigenen Geschmack nicht entsprach. Diese bescheidende Liberalität war es, die ihn als Intendanten auszeichnete und einen Besuch im DT in vielen Fällen unvorhersehbar machte."

Besprochen werden Johann Nestroys "Einen Jux will er sich machen" bei den Reichenauer Festspielen (Standard), Christian Stückls Inszenierung von Shakespeares "Julius Ceasar" mit LaienspielerInnen in Oberammergau (SZ) und Florentina Holzingers Performance "Kranetude" am Müggelsee (von der taz-Kritikerin Verena Harzer schöne und verstörende Bilder im Kopf mitnimmt, mehr im Efeu von Samstag).
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Film

Katrin Hillgruber (Tsp) und Jörg Seewald (FAZ) resümieren das Filmfest München. Stefan Stileto führt im Filmdienst durch die philosophischen Tiefen der Pixar-Animationsfilme. Elmar Krekeler plaudert für die Welt mit dem Schauspieler Tom Wlaschiha. Marion Löhndorf schreibt für die NZZ einen Nachruf auf den Schauspieler Alan Arkin. Besprochen wird die Apple-Serie "Hijack" (Zeit).
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Stichwörter: Filmfest München

Architektur

In der taz schöpft Andreas Hartmann auf einem Symposium in der Berlinischen Galerie neue Hoffnung für den Mäusebunker, jenes bizarre Bauwerk in Berlin-Lichterfelde, das bisher wegen Asbest und anderer Belastungen abgerissen werden sollte. Jetzt soll daraus gleich was ganz Großes werden: "Eine Transformation des Mäusebunkers, das wurde auf dem Symposium immer wieder herausgearbeitet, würde die Botschaft aussenden: Wenn man selbst diesen vermeintlich so unbrauchbaren Gebäudebestand weiterverwenden kann, wäre das ein bedeutsamer Schritt weg vom veralteten Denken, alles abzureißen und dann neu zu bauen: Wegen der immensen Emissionen, die dabei anfallen, kann man sich dieses Prinzip in Zeiten der Klimakrise einfach nicht mehr leisten. Noch ist, wie gesagt, überhaupt nicht klar, wie diese Umnutzung konkret aussehen soll."
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Musik

FAZ-Kritiker Jan Brachmann schmilzt bei Grigory Sokolovs Purcell-Konzert beim Klavierfestival Ruhr dahin: "Sokolovs Verzierungen bei Purcell sind je und jäh Ausdruck einer lustvoll empfundenen Schönheit und Zerbrechlichkeit. Die Synkopen im Ground in G-Dur (über dem gleichen Bass wie Bachs Goldbergvariationen) federn singend nach; die Oberstimme in den Akkorden der Schlussvariation schimmert silbern wie auf einem Virginal des siebzehnten Jahrhunderts. In der Corant der g-Moll-Suite entsteht aus dem Wechselspiel von Trillern und perlend herabtropfenden Achteln das Bild von zitterndem Laub im Regen. Und die Praller in der Hornpipe der d-Moll-Suite imitieren in einer abenteuerlichen Balance aus Drastik und Delikatesse das Flattern der Lippen eines blasenden Hornisten."

Außerdem: Livia Sarai Lergenmüller fragt sich in der SZ, warum Clubmusik aktuell einfach nur völlig stulle und stumpf klingt, und glaubt: "Die gegenwärtige Polykrise aus Krieg, Inflation und Klimawandel bringt dazu genug Gründe, den Club als Ort des Eskapismus wiederzuentdecken." Vor 30 Jahren erschien das Debütalbum von Wu-Tang Clan, erinnert sich Karl Fluch im Standard.

Besprochen werden ein gemeinsamer Auftritt von Serhij Zhadan und Yuriy Gurzhy in Potsdam (taz, FAZ), Bob Dylans Auftritt beim Jazzfestival in Montreux (NZZ), ein von François-Xavier Roth dirigierter Ligeti-Abend mit dem Boulez Ensemble (Tsp), ein Pink-Konzert in Wien (Standard), ein Zürcher Coldplay-Konzert (NZZ, TA) und Indigo De Souzas Album "All Of This Will End" (FR).
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