9punkt - Die Debattenrundschau
So ein dunkles Blubb-blubb
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Ideen
Amerika fliegt auseinander, die tribalen Primaten in uns brechen wieder durch. In der NZZ macht der Sozialpsychologe Jonathan Haidt in einem zweiseitigen Essay deutlich, dass rechte Medien wie Fox News und die Republikaner die destruktive Aggression in die politische Arena eingeführt haben. Aber er gibt auch der Linken an den Universitäten eine Mitschuld an der Polarisierung der Gesellschaft, besonders der von Kimberlé Crenshaw eingeführten Intersektionalität: "Was passiert, wenn junge Leute Intersektionalität studieren, wie das heute in vielen Fächern Usus ist? Da geht es nicht nur um das Verhältnis von privilegierten Weißen und unterdrückten Schwarzen, privilegierten Männern und benachteiligten Frauen; es geht um Heterosexualität gegen andere sexuelle Orientierungen, gesund gegen behindert, jung gegen alt, attraktiv gegen unattraktiv, sogar fruchtbar gegen unfruchtbar. Was immer eine Gruppe an Gutem oder Wertvollem besitzt, wird als eine Art Privileg betrachtet, das automatisch als Unterdrückungsfaktor gegen all jene wirkt, die diese Sache nicht haben. Wenn man nun den tribalen Primaten in uns mit solchen binären Vorstellungen füttert, wo immer eine Seite gut und die andere böse ist, dann versetzt man ihn fast automatisch in Kampfmodus."
Sieht so das Ende aus?, fragt Sonja Zekri in der SZ angesichts der vielen Bücher, die in diesem Herbst der Demokratie das Totenglöckchen läuten. Doch so leicht lässt sich Zekri nicht bange machen. Mag sein, dass die Autokratien auf einmal wirtschaftlich so erfolgreich und außenpolitisch so schön aggressiv auftreten dürfen. Aber von Dauer werden sie nicht sein: "Unübertroffen ist die Demokratie beispielsweise in allen Angelegenheiten des Machtwechsels. In jeder Autokratie ist dies ein krisenhafter, sogar systemgefährdender Moment. Stirbt der Despot, fallen ähnlich üble Prätendenten übereinander her. Einen Herrscher zu Lebzeiten abzulösen ist nicht leichter. Da ein politischer Neustart nach ein paar Jahren ausgeschlossen ist, und der Gefallene die politische oder juristische Rache der Rivalen fürchten muss, bleibt ein freiwilliger Machtverzicht Selbstmord - mit der Folge schier unendlicher, immer verbissener verteidigter Regentschaften. Keiner der vermeintlich so fest installierten Autokraten - weder Orbán noch Erdoğan noch Putin - hat diesen heiklen Übergang bislang gemeistert."
Politik
Die FAZ bringt im Feuilleton den Aufruf des Sozialwissenschaftlers Wolfgang Streeck für eine neue linke Sammlungsbewegung, unter Sahra Wagenknecht, die mehr über soziale Ungerechtigkeit oder die Schuldenbremse reden soll und weniger über Migration: "Dazu wäre es nötig, aus einem Diskussionsmodus auszubrechen, der im Namen von 'Weltoffenheit' umstandslos Mitbürger, mit denen man gestern noch friedlich zusammengelebt hat, zu Nazis und Rassisten erklärt, nur weil sie ihre politisch erstrittenen, mit ihren Steuern finanzierten Kollektivgüter vielleicht teilen, aber nicht für moralisch enteignungspflichtig erklären lassen wollen."
Erstaunlich entschieden kritisiert Christian Weisflog im Aufmacher der NZZ die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu dafür, die vom Iran ausgehende Gefahr aus politischem Kalkül zu übertreiben: "Die Gefahr ist real und ist durch Teherans Erfolge in Syrien noch gewachsen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie existenziell die Bedrohung wirklich ist und ob sie sich wie in Netanyahus Verständnis einzig mit militärischen Mitteln oder einem erzwungenen Regimewechsel aus der Welt schaffen lässt."
Europa
In der Welt schreibt der britische Kolumist Nick Cohen über den anschwellenden Antisemitismus bei Labour, die Vorwürfe gegen Jeremy Corbyn und die Entfremdung linker Juden von der Partei. Cohen vermutet Taktik hinter Labours ungutem Schwenk: "In Großbritannien sind Juden eine winzige Minderheit, genauso wie in Deutschland. Die viel größere muslimische Minderheit ist jetzt eine zentrale Wählerbasis für Labour. Auch wenn es üble Nachrede wäre, britische Muslime rundheraus als antisemitisch zu bezeichnen: Es ist eine Tatsache, dass die islamistischen Vereinigungen, die pro Corbyn sind, auch antijüdisch sind."
Im Guardian verspricht Jeremy Corbyn jetzt allerdings, die antisemitisichen Tendenzen in Labour zu bekämpfen, deren Existenz er nicht länger leugnet: "I do not for one moment accept that a Labour government would represent any kind of threat, let alone an 'existential threat", to Jewish life in Britain, as three Jewish newspapers recently claimed. That is the kind of overheated rhetoric that can surface during emotional political debates. But I do acknowledge there is a real problem that Labour is working to overcome. And I accept that, if any part of our national community feels threatened, anxious or vulnerable, not only must that be taken at face value but we must all ensure those fears are put to rest."
In der NZZ warnt Roman Bucheli davor, Trumps gefeuerten Politstrategen Steve Bannon zu unterschätzen, der sich mit einer neuen Brüsseler Stiftung daran macht, die EU von innen zu zerstören: "Zum einen hat er erkannt, dass die rechtspopulistischen Parteien schlecht vernetzt und schwach finanziert sind und dass sie zudem ohne gemeinsame Strategie operieren. Zum anderen glaubt er in Europa ein enormes Protestpotenzial auszumachen. Als schlagendes Beispiel dafür sieht er das Brexit-Referendum, da eine politische Splittergruppe mit geringem Budget die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt aus den Angeln gehoben habe. Bannon meint damit in Europa die besten Voraussetzungen zu finden, um mit kleinem Einsatz die rechtsnationale Wende herbeizuführen."
Gesellschaft
Die Rapperin Lady Bitch Ray, mit bürgerlichem Namen Reyhan Şahin, kann sich in der taz überhaupt nicht mit Mesut Özil identifizieren, der sich über Rassismus beklagte, nachdem er für seine Bilder mit Erdogan kritisiert worden war: "Obwohl ich weiß, dass es Rassismus und Diskriminierung in Deutschland gibt. Doch entscheidend ist der Umgang damit - und die Differenzierung. Unsere Eltern der ersten Einwanderergeneration haben damals rassistische Erfahrungen höchstens mal mit der Gegenbemerkung 'Alman işte!' abgetan: 'Deutsche (eben)!' Danach haben sie weitergeschwiegen. Vielleicht aus Dankbarkeit für ihre Arbeit, vielleicht aus Demut. Vielleicht aber auch, weil sie die Ausgrenzung in Europa weniger bedrohlich fanden als die in ihren Herkunftsländern. Alevit*innen zum Beispiel werden in der Türkei und in der türkisch-muslimischen Community in Deutschland bis heute benachteiligt, sie gelten als Häretiker und werden teilweise verfolgt. Man beschwerte sich damals also nicht, man ging arbeiten und nahm die Dinge so hin."
In einem großen Gespräch in der taz sprechen vier Frauen über die siebziger Jahre, als sie in einer Gruppe illegale Abtreibungen organisierten und auch selbst vornahmen. Eine von ihnen erzählt auch, wie sie selbst für einen Abbruch ins Ausland gefahren, allerdings gab es die Option Holland noch nicht, sondern nur Jugoslawien: "Ljubljana war wirklich crazy. Der Typ hat uns im Dunkeln vor der Klinik getroffen und wollte als Erstes das Geld. Ich sollte am nächsten Tag ohne meine Mutter wiederkommen, hat er gesagt, und das Gesicht von dem Menschen, der den Abbruch macht, dürfe ich nicht sehen. Der trage so eine Art Maske. Meine Mutter hat gleich gesagt, das machen wir nicht. Wir hatten noch eine zweite Adresse in Zagreb, wo ein Paar in seiner Praxis Abtreibungen gemacht hat. Ich hatte eine Vollnarkose, aber hab noch was mitbekommen. Mir ist die ganze Zeit irgendwas unten rausgetropft, vielleicht war es Gewebe, das ausgeschabt wurde. Ich hab das Geräusch noch im Ohr, das war so ein dunkles Blubb-blubb."