9punkt - Die Debattenrundschau

Entkoppelter Sonderdiskurs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2019. In der Zeit macht der Kriminologe Christian Pfeiffer der katholischen Kirche in Deutschland, namentlich den Bischöfen Reinhard Marx und Stephan Ackermann, schwere Vorwürfe in der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Der Staat wird Zeitungen künftig subventionieren, man weiß nur noch nicht, wie, berichtet die taz. In FR und Tagesspiegel wird ernstlich darüber debattiert, ob man um Notre Dame trauern darf. In der SZ fordert die Lehrerin und Autorin Julia Wöllenstein den Verzicht von Religionsunterricht an Schulen und ein Kopftuchverbot bis zum 16. Lebensjahr.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.04.2019 finden Sie hier

Religion

Giovanni di Lorenzo führt für die Zeit ein ziemlich Aufsehen erregendes Gespräch mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer, der erzählt, wie er für die Katholische Kirche in Deutschland Missbrauchsvorfälle aufarbeiten sollte und scheiterte. Die Kirche habe Kontrolle über die Forschungen verlangt und hätte seine Ergebnisse zensieren wollen, wirft er unter anderem dem Bischof Reinhard Marx und dem Missbrauchsbeauftragten der Kirche, Bischof Stephan Ackermann, vor. Plastisch schildert er eine Sitzung im Wissenschaftsministerium von Niedersachsen, wo es um die Auflösung des Vertrags zwischen Pfeiffers Institut und der Kirche ging: "Auf einmal verkrampfte Bischof Ackermann - körperlich und von der Sprache her. Er redete mich mit 'Professor Pfeiffer' an und erklärte mir, wenn ich mich weigere, den Vertrag zu unterschreiben, und der Zensurvorwurf nach draußen dringe, dann sei ich ein Feind der katholischen Kirche - und das wünsche er niemandem. Er erklärte weiter, dass sie meinen guten Ruf öffentlich massiv attackieren würden und offenlegen müssten, welche Schwierigkeiten es mit dem Institut gegeben habe. Er sagte, dass mir das schaden würde, dass ich es bereuen und einen schweren Fehler begehen würde, wenn ich nicht unterschriebe." Die später herausgegebene und weithin diskutierte Studie habe dann unter Kontrolle der Kirche stattgefunden und thematisiere etwa nicht, dass es der Zölibat selbst sei, der wahrscheinlich zu massivem Kindesmissbrauch geführt habe.

Ähnlich deutlich liest sich auch der FR-Gastbeitrag des Dogmenhistorikers Michael Seewald, der die jüngsten Einlassungen des emeritierten Papstes Benedikt XVI. "gehässig", aber durchaus aufschlussreich für das Verständnis des kirchlichen Macht- und Schweigesystems nennt (Der Ko-Papst hatte neulich die 68er für die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche verantwortlich gemacht, unsere Resümees). Die katholische Kirche führe einen "von jeder Wissenschaft entkoppelten Sonderdiskurs" schreibt er und legt das System in sieben Punkten offen: "Diese Hierarchie ist sehr begabt darin, Dinge unter der Decke zu halten, von denen sie nicht will, dass sie öffentlich werden. Dazu bedient sie sich auch heute noch Zwangsmaßnahmen. Es gibt Themen, wie die Frage nach den Rechten von Frauen in der Kirche, über die aufgrund kirchenamtlicher Sprechverbote nicht diskutiert werden darf. Wer es dennoch tut, bekommt Ärger - bis hin, dass versucht wird, das Erscheinen von Büchern zu verbieten. Die freie Benennung von Missständen in der Kirche ist nur dort möglich, wo die Hierarchie es erlaubt. Eine solche Institution, in der Tabus weiterhin zum Alltag gehören, hat wenig Grund, sich ihrer Selbstkritik und Aufklärungsbereitschaft zu rühmen."
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Europa

Und was ist mit dem Jemen?, schallt es ziemlich erwartbar heute aus den Zeitungen, nachdem bekannt wurde, dass in kürzester Zeit 880 Millionen Euro für den Wiederaufbau von Notre Dame gespendet wurden. "Schon das Wort 'Trauer' klingt wie Hohn für echte Verluste und echtes Elend", schreibt Sabine Thomas etwa in der FR und ergänzt: "Diese unverhältnismäßige 'Trauer' um ein Gebäude, lässt tief in die Seele unserer Gesellschaft blicken. Ein Steingebäude ruft mehr Emotionen hervor, füllt mehr Zeitungsseiten, führt zu mehr Spenden, als es die im Elend lebenden Menschen dieser Welt tun." Während Sabine Thomas wahrscheinlich auch sonst den ganzen Tag lang weint.

"Gibt es nicht gravierendere Probleme als Steine?", fragt auch Fabian Löhe im Tagesspiegel und meint: "Wer gibt, kann auch wieder nehmen." Die Spendenbereitschaft französischer Milliardärsfamilien sieht er kritisch: "Die Grundlage dafür bilden ihre persönlichen Werte, die nicht mit denen der Allgemeinheit zusammenfallen müssen. Oftmals können sie es sogar gar nicht, weil das Geben von persönlichen Erfahrungen geprägt ist. Reiche aber machen völlig andere Erfahrungen als die Feinmechanikerin und der Mann hinter der Supermarktkasse."

Im Aufmacher der SZ denkt Sonja Zekri über Wiederaufbau im Allgemeinen nach: "Eine Rekonstruktion, und sei es die gelungenste, kann die Tatsache einer Beschädigung oder Zerstörung nicht zum Verschwinden bringen. Die intakte neue Fassade kann im schlimmsten Fall sogar wie ein Vertuschen wirken, das hat die Debatte um die Frauenkirche in Dresden gezeigt."

Außerdem zu Notre Dame: FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube mokiert sich böse über die AfD, die es "nicht gewundert hätte, wenn Notre-Dame von Muslimen in Brand gesteckt worden wäre". Sascha Lobo zitiert in seiner Spiegel-online-Kolumne ähnliche verschwörungstheoretische Äußerungen von Rechtsextremen, notiert aber auch hämische Reaktionen von einigen Muslimen.

Der Komiker Wolodimir Selenski wird in der Ukraine wohl die Präsidentschaftswahlen gewinnen, glaubt der ukrainische Schriftsteller Nikolai Klimeniouk in der NZZ, dem dabei nicht ganz wohl zumute ist. Von Gesetzen halte wohl auch Selenski nicht viel, immerhin forderte er Poroschenko zu "Debatten in einem Stadion auf, kam aber selbst nicht. Dabei sind Debatten zwischen Präsidentschaftskandidaten im ukrainischen Gesetz verankert, und allein schon diese demonstrative Missachtung der Gesetze ist kein gutes Zeichen. Die Ukraine ist wahrlich nicht zu beneiden. Es gibt dort zwar freie Wahlen, aber von einer Demokratie ist sie noch weit entfernt."
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Internet

Gestern tagte das EU-Parlament zur Frage terroristischer Inhalte und beschloss, dass soziale Medien solche Inhalte innerhalb einer Stunde löschen müssen, berichtet Tomas Rudl  in Netzpolitik. Uploadfilter wurden von den Abgeordneten aber abgelehnt. "Im Gesetzentwurf verblieben sind jedoch schwammige Terrorismus-Definitionen. Je nach Auslegung könnte dies dazu führen, dass Aufrufe zu bestimmten Protestformen, etwa Straßenblockaden bei Öko-Protesten, als 'terroristische' Aktionen gewertet und künftig geblockt werden."
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Geschichte

Die Historiker Stéphane Michonneau und Thomas Serrier haben eine Menge Kollegen aus europäischen Ländern zusammengetrommelt, um in einem international publizierten Aufruf einen neuen Blick auf die Geschichte Europas zu fordern. Der Aufruf ist im Tagesspiegel (Deutschland), in The Guardian (Großbritannien), Le Monde (Frankreich) , El Pais (Spanien) und der Gazeta Wyborcza (Polen) publiziert. Ziel des leicht schwammig-französisch formulierten Aufrufs ist es wohl, einen offeneren Blick auf die Spaltungen in Europa zu werfen, um eine neue Geschichtsschreibung zu entwickeln: "Wenn wir unsere gespaltenen Erinnerungen reflektieren und uns an neuen Formen der Auseinandersetzung mit der 'gemeinsamen Erinnerung' beteiligen, glauben wir, dass es möglich ist, die Geschichte eines Europas zu erzählen, das gegen alle Widerstände kämpft, um eine neue Art von Beziehung zu sich selbst und zum Rest der Welt aufzubauen."

Und die SZ übersetzt den heute im Nouvel observateur erschienenen, sehr wehmütigen Brief "Chère Europe" des französischen Schriftstellers Olivier Guez, der einen ähnlichen Ton anschlägt.
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Stichwörter: El Pais

Medien

Voilà, nun ist es so weit. Zeitungen müssen für ihre Zusteller neuerdings Mindestlohn bezahlen. Natürlich jammern sie darüber - und nun läuft es auf eine staatliche Subventionierung der Presse in Deutschland hinaus, berichtet Yannic Walther in der taz. Ein Vorschlag ist es, dass der Staat einen großen Teil der Beiträge zur Rentenversicherung bei Zustellern übernimmt. "Laut dem Arbeitsministerium werden noch bis Juni weitere Optionen geprüft, mit denen die Verlage unterstützt werden könnten. Dabei sollen auch Beispiele aus anderen Ländern als Inspiration dienen. Dem Fachmagazin Horizont zufolge befinden sich Verlegerverbände und Arbeitsministerium derzeit in Verhandlungen über einen direkten Zuschuss je zugestellter Zeitung."

Die taz wird heute übrigens vierzig - vom Datum des ersten regelmäßigen Erscheinens gerechnet - und hat ihre heutige Ausgabe jungen Leuten überlassen, die damals noch nicht mal geboren waren.

Arno Luik, einst Chefredakteur der taz, später auch beim Stern, stimmt bei Kontext ein kultur- und kapitalismuskritisches Klagelied über die Presse an, die auch nicht mehr die Vierte Gewalt sei, die sie angeblich mal war. Deutlich wird das für ihn immer beim Bundespresseball: "Wer darf am Tisch der Kanzlerin sitzen? Wenn man da sieht, wie bollestolz die Chefredakteure oder Herausgeber der wichtigsten Zeitungen oder anderer Medien dann sind, wenn sie da, direkt bei der Macht, Wange an Wange sitzen dürfen - da kann man den Glauben an die Vierte Gewalt verlieren."
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Stichwörter: Zeitungskrise, Medienwandel

Gesellschaft

hpd.de dokumentiert die Intervention des Philosophen Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung im Prozess des Bundesverfassungsgerichts zum Sterbehilfegesetz der Bundesregierung (Paragraf 217), das "geschäftsmäßige" Beihlife zum Suizid bekanntlich verbietet. Damit habe der Staat seine weltanschauliche Neutralität verletzt, so Schmidt-Salomon: "Denn dieser Paragraf privilegiert die Sittlichkeitsvorstellungen einer religiösen Minderheit und diskriminiert all jene, die diese Vorstellungen nicht teilen. Man mache sich diese Ungeheuerlichkeit bewusst: Während 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für mehr Selbstbestimmung am Lebensende plädierten, beschlossen deren parlamentarische Vertreter die massive Beschneidung dieses Selbstbestimmungsrechts, indem sie kompetente Freitodbegleitungen unter Strafe stellten."

Im SZ-Interview mit Susanne Klein fordert die Gesamtschullehrerin und Autorin Julia Wöllenstein den Verzicht von Religionsunterricht an Schulen und ein Kopftuchverbot bis zum 16. Lebensjahr: "Das wäre ein klares Zeichen dafür, dass wir hier Staat und Religion trennen. Bei der Herkulesaufgabe, sich in einem fremden Land zu integrieren, braucht man Orientierung. Ich frage mich manchmal, wie es wäre, wenn ich mit meinen drei Kindern nach Iran ziehen würde. Welchen Rahmen bräuchte ich, um reinzukommen in die Kultur?" Und: "Mädchen bekommen mit dem Kopftuch die Verantwortung für Sexualität aufgelastet. Das spüren sie auch, sie sagen zum Beispiel: Wenn ich ohne Kopftuch rausgehe und mir dann etwas passiert, bin ich selber schuld. Mädchen sollten aber nicht durch Verhüllen signalisieren müssen, dass sie sexuell nicht verfügbar sind."

Weiteres: 2018 wurde insgesamt 1083 antisemitische Vorfälle in Berlin erfasst, 14 Prozent mehr als 2017, zitiert Frank Jansen im Tagesspiegel die Bilanz der "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias). Projektleiter Benjamin Steinitz "betonte, es gebe 'eine zunehmende Bereitschaft, antisemitische Aussagen mit Gewaltandrohung zu verbinden oder auch Gewalt folgen zu lassen'."
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Kulturpolitik

Zwischen allen Erfolgsmeldungen vernimmt Christiane Peitz im Tagesspiegel bei Klaus Lederers Halbzeitbilanz doch einige Misstöne, etwa mit Blick auf die Diskussion um freien Eintritt im Humboldt-Forum: "Da fühlt sich Lederer von Kulturstaatsministerin Monika Grütters über den Tisch gezogen. Das Schloss gratis zugänglich, das bedeutet auch freien Eintritt bei der vom Land finanzierten Berlin-Ausstellung. Die Einnahmeverluste sollten bei den Betriebskosten ausgeglichen werden, so habe der Bund es in Aussicht gestellt. Als 'erhebliches Entgegenkommen', sagt Lederer. Vor vier Wochen wurde dem nun eine Absage erteilt." In der Berliner Zeitung ergänzt Harry Nutt, Lederer verfolge stattdessen die Idee "sozial Unterprivilegierten generell den Zugang zu Kultur zu erleichtern. Das Humboldt-Forum muss demnach in ein Gesamtkonzept Berliner Kultureinrichtungen einbezogen sein."
Archiv: Kulturpolitik