9punkt - Die Debattenrundschau

Das Problem der veralteten Software

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2019. Die Europawahlen sind gelaufen. Die traditionellen gemäßigten Parteien sind geschwächt (wenn nicht pulverisiert), die Grünen gestärkt. Die Rechtsextremen leider auch. Erste Reaktionen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien. Die NZZ bringt Eva Menasses Börne-Preisrede, in der die Autorin erklärt, warum sie die Zeitungsöffentlichkeit vermisst. Die SZ verteidigt dagegen die Freiheiten im Internet. Und Reuters macht am chinesischen Beispiel klar, was eine Klarnamenpflicht im Internet bedeutet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.05.2019 finden Sie hier

Europa

Verhalten erleichtert klingt der erste Satz im Aufmacher von Le Monde zu den Europawahlen: "Proeuropäische Parteien haben es geschafft, den Druck der Euroskeptiker einzudämmen, aber die Stimmverteilung verheißt schwierige Verhandlungen im EU-Parlament, um Fraktionen zu bilden."

Genau umgekehrt akzentuiert der Guardian: "Der seit vierzig Jahren bestehende Zugriff der gemäßigten politischen Gruppen auf die Hebel der Macht in Brüssel scheint gebrochen zu sein - europäische Wähler stützten mit einer rekordverdächtigen Wahlbeteiligung radikale Alternativen wie die Grünen und die extreme Rechte."

Das italienische Online-Magazin Linkiesta kommentiert im Modus des "Es war einmal". "Vorbei ist es mit der italienischen Anomalität der Fünf Sterne, einer neuartigen Partei, die von einem ehemaligen Clown geführt wurde und auf einem Algorithmus und einer Software namens Meetup basierte, welche die Repräsentanten über eine Lotterie bestimmte. Es hat fünf Jahre gedauert und kulminierte im Jahr 2018. Der Aufstieg schien unaufhaltsam. Heute ist er es nicht mehr: Im Laufe einer Nacht hat die italienische Anomalität ihr Signet gewechselt: Zusammen mit Ungarn sind wir der einzige Teil Europas... wo sich der gemäßigte Schwerpunkt völlig aufgelöst hat und wo sich eine unvorhergesehene und überraschend klare Wende zu einer extremen Rechten vollzog, denn zu dem Triumphwagen der Lega Nord mit ihren 34,3 Prozent gesellen sich die 6,4 Prozent der Fratelli d'Italia, so dass die Rechten nur knapp von der Mehrheit entfenrt sind."

Liest man Bernd Ulrich in Zeit online, denkt man, die Wahl hätte nur in Deutschland stattgefunden: "An diesem Sonntag hat die erste Klimawahl in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden. Und eines kann man schon jetzt sagen: Es wird nicht die letzte gewesen sein."

Die Europawahlen dürfen in vielen Ländern als ein Triumph der Grünen gelten. Für Deutschland analysiert Stefan Reinecke in der taz recht nüchtern: "Die Sozialdemokratie ist nicht nur in Bremen in einer Krise, die im Kern nicht reparabel ist. Es gibt keinen Weg zurück zur Rolle der führenden Volkspartei. Die SPD ist eine Partei, die von 10 bis 25 Prozent gewählt wird, und hat mit den Grünen Konkurrenz auf Augenhöhe. Die Grünen verdanken ihren Erfolg der Opposition - würden sie mit Merkel und Seehofer regieren, wäre ihre Lage schwieriger."

Verloren hat auch die Linkspartei, die kein erkennbares Konzept hatte, ärgert sich Sebastian Puschner im Freitag. Man hätte viel mehr EU-Kritik à la Wolfgang Streeck gebraucht, findet er: "Solche Analysen zu popularisieren und radikale Schlussfolgerungen daraus zu ziehen - ja, sogar 'weniger Europa' zu fordern, wenn es etwa um die Hoheit über kommunal organisierte Daseinsvorsorge geht -, das hätte diesen Europa-Wahlkampf in Deutschland beleben können, hätte Stiche setzen können gegen den großen schwarz-rot-grün-gelben Luftballon, der laut Selbstbezeichnung 'mutigen' Freunde eines sich selbst genügenden Europas." Und damit grenzt man sich von rechts genau wie ab?

Außerparlamentarische Bewegungen haben in Britannien die Politik verändert, schreibt Daniel Zylbersztajn ebenfalls in der taz: "Die Grünen haben bisher nur eine Abgeordnete im Unterhaus. Farages Vorgängerpartei Ukip, die 2014 die Europawahl gewonnen hatte, erzielte bei den Parlamentswahlen 2015 trotz über 12 Prozent der Stimmen ebenfalls nur einen Sitz. Beide, Grüne wie Ukip, fordern eine Reform des Wahlsystems. Aber wozu eigentlich, wenn es auch ohne parlamentarische Vertretung gehen könnte, wie das Brexit-Referendum und auch die Extinction Rebellion beweisen?"

Herfried Münkler kritisiert in einem Essay im politischen Teil der FAZ das Taktieren Angela Merkels und AKKs gegenüber Emmanuel Macrons europäischen Impulsen. Die deutsche Politik sei auf ihre Führungsrolle in Europa nicht vorbereitet gewesen: "Nur zögerlich und mitunter fast widerspenstig hat sie sich auf die mit ihr verbundenen Herausforderungen eingelassen. Erkennbar wünschte man sich Verhältnisse zurück, in denen die großen Initiativen von Frankreich ausgingen und man ihnen, mal begeistert, mal zögerlich, nur folgen musste. Aber seitdem der französische Präsident Macron die vormalige politische Führungsrolle Frankreichs in der EU wieder an sich ziehen will, ist man damit in Berlin auch nicht einverstanden. Man hat sich daran gewöhnt, dass man selbst das Tempo vorgibt, und befürchtet, die französischen Initiativen würden wesentlich von Deutschland finanziert werden müssen."
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Politik

In Baltimore wurde die gesamte Stadtverwaltung durch eine Erpressersoftware lahm gelegt, die eine ungesicherte Lücke im System von Microsoft nutzte, berichtet Kai Biermann auf Zeit online. Die Sicherheitslücke war der NSA bekannt und wurde jahrelang von den Geheimdiensten genutzt, ohne Microsoft in Kenntnis zu setzen: "Der Fall entbehrt nicht einer gewissen Absurdität: Geheimdienste wie die NSA bekommen Milliarden Dollar, um Sicherheitslücken auszunutzen, gleichzeitig fehlen regionalen Behörden wie eben der Stadtverwaltung von Baltimore die Mittel, um ihre Computersysteme aktuell zu halten. Zumindest legt die Baltimore Sun nahe, dass auf den städtischen Rechnern in den vergangenen zwei Jahren keine Sicherheitsupdates eingespielt wurden. Das Problem der veralteten Software scheint in vielen amerikanischen Städten zu bestehen. Auch bei Angriffen auf Allentown in Pennsylvania und San Antonio in Texas habe EternalBlue eine Rolle gespielt, so die NYT."
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Internet

Cate Cadell schildert für Reuters die bisher nie gesehene Intensität, mit der in China im Vorfeld des 4. Juni das Internet zensiert wird - vor genau dreißig Jahren wurden die Demonstrationen am Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen. Zugleich mag Cadells Bericht jenen zu denken geben, die eine Klarnamenpflicht im deutschen Netz verfechten: "In China sind Konten in den sozialen Medien gesetzlich an Klarnamen und Personalausweisnummern gebunden, und die Firmen sind verpflichtet, Informationen über die Nutzer zu liefern, wenn es von den Behörden verlangt wird. 'Es ist normal geworden, dass man Dinge weiß, aber gleichzeitig weiß, dass man sie nicht teilen kann', sagt der User Andrew Hu. 'Es sind geheime Fakten.' Hu musste 2015 in seiner Heimatregion Innere Mongolei drei Tage im Gefängnis verbringen, nachdem er einen Kommentar über Luftverschmutzung zu einem damit nicht verbundenen Bild stellte, das auf das Tien-an-Men-Massaker anspielte."

Alan Rusbridger, einst Chefredakteur des Guardian, hat mehrmals mit Julian Assange zusammengearbeitet. Heute verteidigt er ihn gegen die Versuche der amerikanischen Regierung, Assange mit 17 Klagen als Spion zu verurteilen und lebenslang einzusperren. Ohne Julian Assanges und Chelsea Mannings Leaks, wären einige Kriegsverbrechen der amerikanischen Armee im Irak nie bekannt geworden: "Ich fand ihn launisch, unzuverlässig und unsympathisch: Er war auch nicht gerade scharf auf mich. Alle Redakteure, die mit ihm arbeiteten, missbilligten, dass er im September 2011 unveröffentlichtes Material aus dem Manning-Fundus veröffentlichte. Dennoch finde ich die Anwendung des Spionagegesetzes durch die Trump-Administration gegen ihn zutiefst beunruhigend."

Auf sueddeutsche.de zieht Helmut Martin-Jung nach einem Jahr DSGVO Bilanz und die ist nicht gerade brillant: "Die DSGVO ist zwar besser als ihr Ruf. Aber sie ist viel zu bürokratisch. Und viele wissen bis heute nicht, wie sie sich zu verhalten haben, weil die Regeln oft schwammig formuliert sind." Als sei das für einen Rechtsstaat nicht der größtmöglich GAU.
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Urheberrecht

Ausgerechnet die Polen wollen gegen die Urheberrechtsreform der EU klagen, weil sie "vorbeugende Zensur" befürchtet, meldet Zeit online. Nun ja, ein blindes Huhn findet bekanntlich auch mal ein Korn.
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Ideen

"Wir hatten etwas gemeinsam, zumindest in diesem Land, zumindest in diesem Sprachraum, wir wussten so ungefähr voneinander und wie es uns ging", und das zerfällt gerade, klagt Eva Menasse (NZZ) in ihrer Rede zum Börne-Preis. Gemeint ist die Öffentlichkeit, die früher durch die Massenmedien hergestellt wurde und sich jetzt digitalen Raum fragmentiert. "Heute ist es schwer, Erwachsenen zu erklären, was ein Kompromiss ist und wozu man ihn braucht. Fast unmöglich, für ein zeitweiliges taktisches Nachgeben zu werben. Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen. Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiß, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich personalisiert. Das aber ist, nach allem, was man bis jetzt sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit." Hoffnung gibt ihr aber die Fridays-for-Future-Bewegung.

In der SZ würden Theresa Hein und Quentin Lichtblau widersprechen. Massenmedien, das waren früher die Medien, in der die Masse zuhörte, was einige Auserwählte ihr predigten. Das Netz war auch von dem Traum geprägt, einen Raum zu schaffen, in dem jeder Gehör finden kann, und den nutzen die jungen Menschen gerade: Hier "ist ein Kommunikationsraum entstanden, in dem junge Menschen sich massentauglich und unvermittelt zu Wort melden können, ohne den Umweg über eine Parteikarriere oder Redakteursstelle nehmen zu müssen und damit im Zweifelsfall sogar mehr Menschen erreichen, als auf dem traditionellen Weg. Diese Deutungsmacht schwappt nun gerade in die reale Welt: Wenn der Youtuber Rezo mit seinen Beiträgen Millionen von Zuschauern im Netz findet, noch bevor Medien und Politik eine Ahnung von diesem Vorgang haben, verschafft ihm dass eine Art Schock-Relevanz, mit der sich auch analoge Hierarchien infrage stellen lassen."
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