9punkt - Die Debattenrundschau

Umgebaute Begriffe von Staatlichkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2020. In der Zeit online plädiert der Schweizer Forscher Urs Niggli  für Bio-Landwirtschaft - mit Gentechnik. Ilija Trojanow rät in der taz, in Fragen des Klimawandels nicht auf Optimisten zu hören. Die Ruhrbarone fragen, warum die europäischen Grünen die Erdogan-nahe SETA-Stiftung und ihren Begriff von "Islamophobie" so mögen. In der SZ warnt Katajun Amirpur vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irans. Und Netzpolitik warnt: Clearview verstößt nicht unbedingt gegen den europäischen Datenschutz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.01.2020 finden Sie hier

Überwachung

Die New York Times berichtete vorgestern über das Start Up Clearview, das Milliarden öffentliche Bilder von Personen aus dem Netz zum Abgleich für die Gesichtserkennung nutzt (unsere Resümees). Fast jeder Mensch kann so durch Überwachungskameras erkannt werden. Auch das strenge europäische Datenschutzrecht bietet dagegen keine wirkliche Handhabe, berichtet Chris Köver auf Netzpolitik, der unter anderem  mit dem Richter und Experten Malte Engeler gesprochen hat: "Clearview nutzt für seine Datenbank schließlich Bilder und Informationen, die öffentlich im Netz verfügbar sind. Nichts anderes täten Google und Startpage auch, wenn sie Suchergebnisse ausspuckten. Clearview hatte die Bilder zwar ohne Erlaubnis von Facebook, Twitter und anderen Websites herunter geladen und damit gegen deren Nutzungsbestimmungen verstoßen. Das an sich ist aber noch keine Gesetzesverletzung, sondern zunächst nur ein Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen der Plattformen. Dass eine Strafverfolgungsbehörde in der EU, die Clearview einsetzen wollte, dafür die nötigen rechtlichen Grundlagen hätte oder jedenfalls bekommen könnte, ist nach Einschätzung von Engeler nicht auszuschließen. Googeln sei den Ermittler:innen schließlich auch nicht untersagt."

Gesichtserkennungstechnologie an deutschen Bahnhöfen und Flughäfen, wie Horst Seehofer es gern hätte, wäre in Deutschland nicht legal, meint dagegen im Interview mit der FR der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber: "Losgelöst von der Frage, wie effektiv diese Art der Überwachung überhaupt ist, fehlt es für eine flächendeckende biometrische Videoüberwachung nach wie vor an einer konkreten gesetzlichen Rechtsgrundlage. Dabei ist sogar fraglich, ob eine solche überhaupt verfassungskonform ausgestaltet werden kann. Bevor hier keine Klärung erfolgt ist, sollten vorhandene Ressourcen besser anderweitig investiert werden. Ich würde es begrüßen, wenn in Europa die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum untersagt würde."
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Wissenschaft

Im Interview mit Zeit online plädiert der Schweizer Forscher Urs Niggli für einen Ausbau der biologischen Landwirtschaft, ohne ideologische Scheuklappen. Denn das Dilemma dabei sieht er auch: "Wenn wir weltweit gleich viele Menschen ernähren wollen, braucht der Biolandbau mehr Flächen, es müssen Wälder abgeholzt oder Naturschutzgebiete entwässert werden, also zusätzliche Flächen unter den Pflug genommen werden. Angesichts der Klimakrise wäre das der helle Wahnsinn, weil dadurch gigantische Mengen an CO₂ freigesetzt würden. Es ist die große Leistung der konventionellen Landwirtschaft, dass in den vergangenen hundert Jahren die Ackerfläche nur marginal vergrößert werden musste, um statt zwei fast acht Milliarden Menschen ernähren zu können." Niggli plädiert deshalb für "so viel Bio wie immer möglich, aber daneben eine Kombination von Biolandbau und Hightech", was auch den Einsatz von Gentechnologie bedeutet.

Weiteres: In der NZZ warnt Gunnar Heinsohn davor, das Europa immer weiter zurückfällt - besonders, weil mit dem Brexit das Land austritt, das sechs Universitäten unter den dreißig besten weltweit hat, der Rest Europas keine einzige. Und Wolfgang Kessler warnt vor den digitalen Technologien als Klimakiller.
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Politik

Man sollte die Proteste gegen die Regierung im Iran auf keinen Fall als Aufforderung zur Einmischung begreifen, meint Katajun Amirpur in der SZ, ohne allerdings zu sagen, an wen sich diese Warnung genau richtet. "Mögen viele Iraner die Herrschaft der Mullahs ablehnen und sie am liebsten verschwinden lassen, so sollte man sich durch die regierungskritischen Demonstrationen nicht täuschen lassen: Jede iranische Regierung ist den Iranern lieber als eine Einmischung von außen. Iraner sind große Nationalisten."

Offenbar wurde das Handy von Jeff Bezos auf Geheiß des saudiarabischen Prinzen Mohammed bin Salman gehackt, berichtet  Stephanie Kirchgaessner  im Guardian. Die Aktion fand einige Monate vor dem Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi und vor einer Mobbing-Kampagne gegen Jeff Bezos durch den National Inquirer statt. Bezos gehört die Washington Post, für die Khashoggi Kolumnist war. Diese Enthüllung "könnte auch zu neuen Nachforschungen darüber führen, was der Kronprinz und sein innerer Kreis in den Monaten vor der Ermordung von Jamal Khashoggis im Oktober 2018 - fünf Monate nach dem angeblichen 'Hack' des Zeitungsinhabers - getan haben."
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Ideen

Der moderne westliche Staat steckt in einer Legitimationskrise, wieder mal, meint Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ. Obwohl er das nicht dramatisieren will, sieht er doch Diskussionsbedarf: "Neue, nicht nur umgebaute Begriffe von Staatlichkeit sind bisher - selbst auf der vorpolitischen Ebene von Diskussionen - diffus und formlos geblieben. Wie soll man sich einen grünen Zukunftsstaat vorstellen, der zum Ziel hat, die nachhaltige Existenz der Menschheit auf dem Planeten zu sichern - und doch nicht in eine Art moralisch erhabener Ökodiktatur abdriften will? Existiert eine Möglichkeit, libertäre Phantasien von der Privatisierung vieler Staatsfunktionen umzusetzen, ohne dass sie zur Aushöhlung von Staatlichkeit als solcher und also zu chaotischen Verhältnissen führen?
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Europa

Mit der türkischen und der europäischen Flagge: der "European Islamophobia Report".
Die europäischen Grünen scheinen eine Vorliebe für die Erdogan nahestehende SETA-Stiftung zu haben, vermutet Nina Scholz bei den Ruhrbaronen. Die Stiftung war duch einen umstrittenen "Islamophobie"-Report (Website) in die Diskussion geraten (unser Resümee) und richtet sich mit Vorliebe gegen kritische europäische Journalisten. Nun will sie im europäischen Parlament zum Thema "Countering Anti-Muslim Racism in Europe" diskutieren: "Diese Veranstaltung geht auf eine Initiative der Grünen Fraktion im EU-Parlament zurück und auf dem Plakat der Veranstaltung ist im Kleingedruckten oben rechts zu lesen, dass dieses Plakat mit Geldern der EU finanziert wurde. Die Eröffnungsrede hält der britische grüne EU Abgeordnete Magid Magid. Er ist, ebenso wie Farid Hafez, einer der Herausgeber des 'European Islamophobia Reports'."

Rebecca Hillauer resümiert unterdessen im Deutschlandfunk den Streit um den von der SETA-Stiftung erstellten "European Islamophobia Report", der von der EU mit über 120.000 Euro finanziert wurde. Die Kommission zu den Vorwürfen: "Eine Sprecherin weist gegenüber dem Deutschlandfunk jegliche Verantwortung für den Inhalt des Berichts zurück. Verantwortlich sei allein der Empfänger der Fördergelder, also das türkische Außenministerium. Wobei sich die Kritiker des Islamophobie-Berichts grundsätzlich fragen, wie es sein konnte, dass die EU Steuergelder vergibt - und eine Nicht-EU-Regierung frei darüber verfügen kann."
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Medien

Der Chef der BBC, Tony Hall, tritt zurück. Die Anstalt sieht sich Attacken von den Torys ausgesetzt. Steffen Grimberg beschreibt in der taz ihren Status, der nicht so behaglich ist wie der der hiesigen öffentlich-rechtlichen Sender: "Die sogenannte Royal Charta, die das Existenzrecht der Sendeanstalt festschreibt, gilt jeweils für zehn Jahre. Sie regelt die Finanzierung, die Aufgaben und die Rechte der BBC. Alle zehn Jahre, wenn dieses Papier neu verhandelt wird, kann also theoretisch auch das Ende oder ein kompletter Neuanfang der BBC beschlossen werden - ganz anders als bei den deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern ARD, ZDF und Deutschlandradio."

Mitarbeiter der Hamburger Morgenpost demonstrieren, berichtet Jan Kahlcke, ebenfalls in der taz. Die Zeitung gehört zu den Titeln, die die Dumont-Gruppe verkaufen will: "Als aussichtsreichster Bieter wird derzeit die Funke-Mediengruppe gehandelt, die bereits das Hamburger Abendblatt besitzt. Die Essener möchten aber offenbar weder die Zeitung übernehmen, noch ihre Mitarbeiter*innen. Dem Vernehmen nach bietet sie lediglich auf die Web-Domain mopo.de. Das löst in der Mopo-Belegschaft große Sorge aus."
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Gesellschaft

Ilija Trojanow will in seiner taz-Kolumne den optimistischen Bilanzen und Prognosen von Autoren wie Steven Pinker nicht glauben und empfiehlt eher apokalyptische Autoren wie David Cay Johnston ("It's Even Worse Than You Think") und David Wallace-Wells ("The Uninhabitable Earth"). Werden wir den Klimawandel aufhalten? "Tief im Inneren glauben wir nicht, dass sich unsere Krisen zur Katastrophe auswachsen werden. Anders ist unser Langmut nicht zu verstehen, ebenso wenig die völlige Stagnation der Politik: Man vergleiche nur die bedrohlichen Nachrichten der letzten zehn Jahre mit den politischen Reaktionen in derselben Zeit. Wir tun seit einer Generation so, als könnten wir alles haben, endloses Wachstum und nachhaltiges Wirtschaften, ein waches Bewusstsein bei gleichzeitigem Verschließen der Augen. Die Spannung zwischen der Lethargie vor dem drohenden Kollaps und dem Gefühl eines möglichen und notwendigen Aufbruchs ist mit allen Sinnen greifbar, sie ist gewaltig, sie wird sich in nächster Zeit mit Sicherheit entladen."

Die Mitarbeiter in Ausländerbehörden haben oft einen nicht so guten Ruf, aber der Buchpreisträger Sasa Stanisic erinnert sich gern an seinen Sachbearbeiter Werner Fontius, der es ihm ermöglicht hat, in Deutschland zu bleiben. 1998 nahmen die Amerikaner ein Kontingent bosnischer Flüchtlinge auf, zu denen auch die Stanisics gehörten. Sasa aber wollte hier bleiben, um Schriftsteller zu werden. "Ich habe überlegt und in Unterlagen geforstet, das war ja noch vor dem Internet, und habe dann in den Tiefen der Verordnungen etwas gefunden: Er muss sich immatrikulieren und Student werden. Darin habe ich die einzige Chance gesehen. Es gab keinen Rechtsanspruch darauf, dass, wer immatrikuliert ist, bleiben darf, verstehen Sie mich nicht falsch. Es war einfach ein Versuch", sagt Fontius im Interview mit der SZ.
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