9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kriegsverbrechen sind der Punkt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2023. Im Observer fragt Peter Pomerantsev nach den Gründen für russische Grausamkeit - und kommt zu dem Ergebnis, dass jenseits davon nichts ist. Ebenfalls im Observer fragt Kenan Malik: Wem nützen die apokalyptischen Ängste vor Künstlicher Intelligenz? Bei hpd.de erklärt die Religionswissenschaftlerin Petra Klug, warum in den USA der "Anti-Atheismus" sogar der Trennung von Staat und Religion eingeschrieben ist. In der NZZ macht die Osteuropahistorikerin Nada Boškovska wenig Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts zwischen Serben und Albanern im Kosovo.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2023 finden Sie hier

Europa

Die Gewissheit verdichtet sich, dass die Russen den Kachowka-Damm gesprengt haben, berichtet eine Reportergruppe im Guardian: "Es waren die Russen, die das auf der Dammkrone gelegene Wasserkraftwerk hielten. Unter der Besatzung hatte Nowa Kachowka schon lange aufgehört, Strom zu erzeugen, und war in eine Garnison verwandelt worden, von der aus die Russen jeden Versuch ukrainischer Truppen abwehren konnten, sich dem Damm vom rechten Ufer aus zu nähern. Es gibt weitere Anzeichen dafür, dass Russland den Staudamm als Spielstein in einem militärischen Spiel betrachtete, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein. Die russischen Besatzer hatten zugelassen, dass der Wasserstand im Kachowka-Stausee hinter dem Damm auf ein 30-Jahres-Hoch anstieg und den Stausee mit mehr als 18 Millionen Kubikmetern Wasser füllte, was der Größe des Großen Salzsees in Utah entspricht."

Hinzukommt, dass in Russland just eine Woche vor der Explosion des Damms ein Gesetz über die Sicherheit von Wasserinfrastrukturen in der Ukraine erlassen hat, das Premierminister Mikhail Mishustin unterzeichnete, schreiben Isabel van Brugen und Yevgeny Kuklychev in Newsweek. Laut Keir Giles, Senior Consulting Fellow im Russland- und Eurasien-Programm der Denkfabrik Chatham House folgt die Gesetzgebung vom 30. Mai einem Drehbuch des Kremls, der stets versuche, 'so zu tun, als ob er nach einem gewissen Anschein von Legalität agiert. Russland hat eine perverse Faszination für die performative Legalisierung seiner schrecklichsten Verbrechen... es setzt immer wieder im Voraus Gesetze in Kraft, die präventive Entschuldigungen für seine Handlungen liefern', so Giles gegenüber Newsweek."

Im Observer sucht Peter Pomerantsev nach Gründen für die Begeisterung vieler Russen für sinnlose äußerste Brutalität. Antworten findet er bei Walter Benjamin sowie der ukrainischen Literaturkritikerin Tetyana Ogarkova und ihrem Mann, dem Philosophen Volodymyr Yermolenko: "Russland behauptet, ein mächtiger 'Pol' in der Welt zu sein, um ein Gleichgewicht zum Westen herzustellen - hat es aber nicht geschafft, ein erfolgreiches politisches Modell zu schaffen, dem sich andere anschließen würden. Es hat also nichts weiter zu bieten, als alle in den eigenen Abgrund zu ziehen." Und die Drohung funktioniert, wie man bei der Sprengung des Staudamms sehen kann, meint Pomerantsev: Die Reaktion im Westen darauf "war seltsam verhalten. Die Ukrainer führen bemerkenswerte Rettungsmaßnahmen durch, während Russland weiterhin halb überflutete Städte beschießt, aber sie tun es mehr oder weniger allein ... von den westlichen Regierungen oder der UNO gab es kaum einen Pieps. Die Russen locken mit der seltsamen Verlockung des Todes, des Vergessens und des einfachen Aufgebens. Wie viel Leben haben wir noch in uns?"

Die Osteuropahistorikerin Nada Boškovska macht in der NZZ wenig Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts zwischen Serben und Albanern im Kosovo. Zu praktisch ist der Konflikt für die Politiker beider Seiten, meint sie: "Die Hoffnung der EU, Serbien schrittweise zu einer De-facto-Anerkennung zu bewegen, scheint wenig realistisch, für den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić ist es durchaus von Vorteil, die Kosovofrage offenzuhalten, das lässt ihm Manövrierraum nach vielen Seiten. Auf der anderen Seite ist Albin Kurti kein geduldiger Pragmatiker, sondern ein Nationalist und Ideologe, der die Staatsmacht von Kosovo endlich auf dem ganzen Territorium durchsetzen will und für die Lage der Kosovo-Serben wenig Verständnis aufbringt. Er delegitimiert ihre Anliegen, indem es sie als bloße Marionetten Serbiens darstellt, das mithilfe Russlands Kosovo destabilisieren wolle; die Protestierenden sind für ihn 'faschistische Milizen'. ... Kurti will dem Heimpublikum Stärke zeigen; nicht weniger Vučić, der im Dezember letzten Jahres die Krise kräftig anheizte, indem er die serbische Armee in höchste Alarmbereitschaft versetzte."
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Ideen

Die Religionswissenschaftlerin Petra Klug hat ein Buch über "Anti-Atheismus" in den USA geschrieben. Im Gespräch mit Oranus Mahmoodi von hpd.de erklärt sie, dass sogar die Trennung von Staat und Religion in den USA von dieser Ideologie untergraben ist: "Die Erfahrung der religiösen Verfolgung in Europa hat auch zu einer Skepsis gegenüber der staatlichen Regulierung von Religion geführt. Daher kommt der säkulare Charakter der Verfassung der Vereinigten Staaten. Allerdings wurden in den Verfassungen der Bundestaaten Menschen, die nicht an Gott glauben, oft explizit diskriminiert. Da gibt es mitunter eine Klausel, die besagt, kein Mensch soll aufgrund seiner Religion von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden, es sei denn, er glaubt überhaupt nicht an Gott."

Robert Habeck hat den Ludwig-Börne-Preis erhalten, die Laudatio hielt FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, Edo Reents berichtet im Aufmacher des FAZ-Feuilletons. Habeck versucht in seiner in der FAZ abgedruckten Rede einen Konnex zwischen Börnes Zeit der beginnenden Industrialisierung und der heutigen Klimawende herzustellen: "Wir verbrennen keine Wälder mehr. So verändern wir die Grundlagen unserer Wertschöpfung - und erneuern damit unseren Wohlstand, unsere Freiheit, unseren Zusammenhalt."

Nele Pollatschek (SZ) spielt nach einem Diskussionsabend mit Habeck und Sloterdijk auch mal kurz mit den ganz großen Thesen: "Das Individuum ist ein Nebenprodukt der Aufklärung. Das Individuum ist ein Nebenprodukt der athenischen Demokratie. Das Individuum ist ein Nebenprodukt lyrischer Poesie. Das ist alles gleich richtig, man kann das alles mit Verve erklären, was tatsächlich großen Spaß macht. Zuletzt kürzt man die austauschbaren Elemente einfach weg. Das Individuum, denkt man, ist ein Nebenprodukt. Und dann regeneriert man. Man läuft zum Rhein. Man macht sich ein Kölsch auf."
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Geschichte

Der Historiker Bert Pampel schildert den 17. Juni 1953 auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ aus sowjetischer Sicht: "Heinz Brandt, der Auschwitz-Überlebende und als SED-Funktionär Zeitzeuge der Ereignisse, bezeichnete den Aufstand rückblickend als Tragödie, denn die Massen 'bewirkten das Gegenteil von dem, was sie bezweckten'. Das SED-Regime unter Walter Ulbricht ging paradoxerweise gefestigt aus dem Geschehen hervor. Die sowjetische Deutschlandpolitik orientierte sich fortan an der Realität zweier deutscher Staaten. Die gesamtdeutsche Option unter der Bedingung der Neutralität, die in der sowjetischen Führung mehr Fürsprecher als nur Berija hatte, war vom Tisch."
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Religion

Der gerade zu Ende gegangene Evangelische Kirchentag war nicht nur wegen der geringen öffentlichen Wahrnehmung für die Kirche ein Einschnitt, sondern vor allem, weil er sich vom alten Pazifismus der Friedensbewegung verabschiedete, meint Reinhard Bingener in der FAZ: "Die Vertreter der alten Friedensbewegungen aus West und Ost waren in Nürnberg zwar weiter präsent, erfuhren dort aber keine große Resonanz mehr. Die Solidarität mit der Ukraine überwog ihre Bedenken gegen Waffenlieferungen deutlich. Der Kirchentag hat sich damit in Nürnberg von seinem pazifistischen Sonder- und Sendungsbewusstsein verabschiedet." "Wir sind in der überwältigenden Mehrheit für das Recht auf Selbstverteidigung", hatte auch die Theologin Kerstin Söderblom schon am Samstag in der taz gesagt. In der taz kommentiert Jan Feddersen, dass der Respekt für die alten Kämpen aber dennoch weiter gepflegt wurde: "Kirchentag ist offenbar, wenn minoritär Gewordenes dennoch Rang behält."
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Internet

In der NZZ möchte die Juristin Monika Pfaffinger Künstliche Intelligenz gern mit rechtlichen Mitteln bändigen: "KI ist ein Werkzeug und sollte auch eines bleiben. Sie darf den Menschen nicht ersetzen - sie hat ihn zu unterstützen und seine Handlungsoptionen zu erweitern. Die entscheidende Frage wird also lauten, welche Anwendungen gesellschaftsdienlich und welche problematisch oder gar gefährlich sind. Die Antworten darauf werden offenkundig Konsequenzen für das künftige Recht haben. Und dem Recht kommt im Umgang mit neuen Technologien seinerseits eine entscheidende Rolle zu. Denn es sind nicht Ethik und Technologie, sondern es ist das Recht, das die Nutzung von KI effektiv in ethisch vorgegebene und demokratisch legitimierte Bahnen lenken kann und muss."

Im Observer gehen Kenan Malik die Fantasieängste vor KI zunehmend auf die Nerven. Wem nützen diese apokalyptischen Visionen eigentlich, fragt er, wo es doch ganz reale Gefahren gibt, wie das Beispiel von Randal Quran Reid zeigt, einem Afroamerikaner, der wegen fehlerhafter Gesichtserkennung als Krimineller inhaftiert wurde. Aber nicht KI ist dafür verantwortlich, sondern Menschen: "Die Menschen, die die Software entwickelt und trainiert haben. Die Menschen, die sie einsetzten. Die Menschen, die den Gesichtserkennungsabgleich unhinterfragt akzeptierten. Die Menschen, die einen Haftbefehl erwirkten, indem sie behaupteten, Reid sei von einer 'glaubwürdigen Quelle' identifiziert worden. Die Menschen, die sich weigerten, die Identifizierung in Frage zu stellen, selbst nach Reids Beteuerungen. Und so weiter. Wenn wir über das 'Problem' der KI sprechen, lassen wir allzu oft den Menschen aus dem Spiel. Wir praktizieren eine Form dessen, was der Sozialwissenschaftler und Technologieentwickler Rumman Chowdhury 'moralisches Outsourcing' nennt: Wir geben Maschinen die Schuld für menschliche Entscheidungen."
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Gesellschaft

Rechtspopulismus ist normal, da er in ganz Europa blüht, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid zu den Umfrage-Erfolgen der AfD, die man also nicht isoliert betrachten soll. Im Grunde sei die AfD nichts weiter als eine Nostalgiepartei: "Sie verteidigt und beschwört die alte, die ganz alte Bundesrepublik. Die Republik der Kohle, der Ölheizungen und der nicht quotierten Institutionen. Die Mehrheit der AfD-Wähler will nicht die starke, die selbstbewusste Nation. Sondern die kleine, nach innen gewandte Nation, die sich aus den Streitereien der Weltpolitik heraushält. Die Ihre Grenzen schützt, als wäre das Land ein Gutshof. Die den allgemeinen Wohlstand, der heute nicht mehr ganz sicher ist, am liebsten im Grundgesetz festschreiben würde."
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Stichwörter: AfD, Rechtspopulismus, Grundgesetz