9punkt - Die Debattenrundschau

Von den Spätis im Schillerkiez

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2023. In der SZ möchte Anne Rabe darüber diskutieren, wie der Osten zum Aufmarschgebiet für Rechtsextreme aus dem Westen werden konnte. Vielleicht weil dort die Moderne keine Zukunft mehr bereithält, sondern vor allem Verlusterfahrungen, meint Andreas Reckwitz in der NZZ. Die Welt hätte auf dem Tempelhofer Feld lieber ein bisschen moderne Stadt als ambitionsloses Rumgehänge. Und die FAZ bringt einen Text von Lars Gustafsson, der schon 1982 staatlich subventionierte Medien für alternative Wirklichkeiten verantwortlich machte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2023 finden Sie hier

Ideen

Dass die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann im Osten so erfolgreich sind, beweist nicht, dass die beiden Recht haben, sondern dass viel schiefgegangen ist in der Debatte seit 1989, schreibt die Autorin Anne Rabe in der SZ: "Der Osten ist nach 1989 Heimat und Aufmarschgebiet für Rechtsextremisten und auch für ihre Eliten aus Westdeutschland geworden. Das intellektuelle Zentrum dieser rechten Bewegung, die sich inzwischen auch in der Bundespolitik fest etabliert hat, liegt nicht ohne Grund in Schnellroda, Sachsen-Anhalt. Der Boden, auf den diese Saat 1990 fiel, war fruchtbar. Und die Ignoranz des Westens gegenüber der Geschichte dieses, unseres Landes fiel darauf wie lauwarmer Regen."

Klar, es gab immer Krisen, meint der Soziologe Andreas Reckwitz im NZZ-Interview, aber mit der Pandemie, der Rezession und vor allem dem Klimawandel hat die Moderne ihr Versprechen eingebüßt, dass sich die Dinge zum Besseren entwickeln. In den USA, in Frankreich und im deutschen Osten habe die Deindustrialisierung enorm viele Modernisierungsverlierer geschaffen: "Da verschwindet die klassische Industriearbeiterschaft. Stattdessen gibt es eine Klasse von Dienstleistern, die oft im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Menschen machen massive Verlusterfahrungen, Statusverluste, Kontrollverluste. Und das hat politische Folgen: die Wahl Donald Trumps, die Gilets jaunes in Frankreich. Diese Bewegungen sind stark von 'Abgehängten' genährt oder von Personen mit Abstiegsängsten. Das ist keine kleine Minderheit. In Deutschland, das hat eine Studie der Universität Bonn gerade gezeigt, gehen heute 84 Prozent der Menschen davon aus, dass es künftigen Generationen schlechter gehen werde, als es uns heute geht."
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Gesellschaft

In der Welt kann Boris Pofalla einen neuen Anlauf zur Bebauung des Tempelhofer Felds nur begüßen. Der jetzige Zustand tue weder dem Berliner Klima gut noch der Stadtgesellschaft: "Eine Ameisenstraße der Wegbierträger zieht sich an jedem warmen Tag von den Spätis im Schillerkiez zum Haupteingang an der Oderstraße. Eine informelle Ökonomie transportiert im Gegenzug die Pfandflaschen in Einkaufswagen ab. Große Mülltonnen st ehen auf der Rollbahn und sind immer überfüllt. Es gibt Toilettenhäuschen, die man, je nach Windrichtung, schon von Weitem riechen kann. Eine Mischung aus Campingplatz, Jugendfreizeit und Dorffest, die nur vom Anblick der endlosen Landebahn und der Silhouette der Stadt gerettet wird. Ist das wirklich alles, was der Architekturmetropole Berlin zu diesem Areal einfällt? Oder hat es vielleicht auch etwas mit einer traditionellen deutschen Skepsis gegenüber der Metropole zu tun, dass man sich immer nach dem Bequemen, Ambitionslosen und Improvisiert ensehnt, nach Schrebergarten, Bierbank und Einweggrills? Die Gegner einer Bebauung des Feldes sind nicht so fortschrittlich, wie sie tun. Sie stehen in der Tradition jener, die in Berlin Babylon erkannten und im Häusermeer das Grauen."
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Stichwörter: Tempelhofer Feld, Tempelhof

Politik

Die verqueren Fantasien, die unter dem Schlagwort Klimaverschwörung kursieren, kann der Historiker Volker Weiß in der SZ irgendwie gar nicht lachhaft findet. Diesen Wahnideen zufolge, die auch die AfD-Frau Beatrix von Stroch verbreitet, haben "globale Finanzkapitalisten" die Klimakrise erfunden, um Geschäfte mit "grünen" Fonds machen zu können: "Eine in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisierte Weltanschauung, politisches Kalkül und Geschäftsinteressen haben eine selbst für Fachleute kaum mehr überschaubare Publizistik hervorgebracht. Autoren und Verlage vom rechten Rand oder esoterischen Nebelinseln finden ihren Markt mit von Paranoia getriebenen Thesen, die eigentlich schallendes Gelächter hervorrufen müssten. Längst existieren Milieus, die das früher nur Geraunte begierig aufnehmen und lautstark weiterverbreiten. Mit der AfD steht eine Partei bereit, all das voranzutreiben und politisch auszubeuten, selbst von finanzstarken Förderern, Kampagnen- und Fundraising-Netzwerken unterstützt. Schamloser hat selten jemand 'Haltet den Dieb' gerufen."
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Internet

KI kann optimierte Prozesse hervorragend automatisieren, erklärt die Oxforder Forscherin Sandra Wachter im taz-Interview mit Svenja Bergt, aber sie kann die Dinge nicht verbessern. Eine Gefahr für die Demokratie muss sie nicht unbedingt sein: "Das Verbreiten von Falschinformation, um den politischen Diskurs zu beeinflussen, hat ja nicht erst gestern angefangen, das gibt es seit Jahrhunderten. Was sich nun verändert, sind Qualität, Quantität und Verbreitungswege von Falschinformation... Wir müssen also an beiden Seiten ansetzen: Zum einen müssen wir herausfinden, warum heute so viel Unzufriedenheit in der Gesellschaft ist, die Falschinformation auf fruchtbaren Boden fallen lässt, und wie wir das ändern können. Zum anderen müssen wir uns um die Technik kümmern, sie sicherer machen. Dazu gehören Bias-Tests und Transparenz, aber zum Beispiel auch verpflichtende Wasserzeichen für KI-generierte Inhalte."

Weiteres: Klaus Kornwachs und Nico Stehr in der FAZ einen grundsätzlichen Forschungsantrag: "Ob der Ernüchterung eine unauffällige Nutzung folgt oder ob wir weitere Überraschungen erleben, sollten wir nicht allein der Dynamik der Geschäftsmodelle überlassen."
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Stichwörter: Ki, Ki-Generierte Inhalte

Geschichte

Einer der letzten noch lebenden Résistance-Kämpfer, der 89-jährige Edmond Réveil, hat sein Schweigen gebrochen und ein Massaker an deutschen Soldaten vom Juni 1944 enthüllt, über deren Schicksal bisher nichts bekannt war, wie Jürg Altwegg in der FAZ berichtet. Sie waren bei einem Überfall in Tulle gefangengenommen worden, die Deutschen hatten gerade ihre Terrorkampagne begonnen und das Dorf Oradour ausgelöscht: "Die weniger als dreißig Partisanen waren überfordert. 'Wenn einer pinkeln wollte, wurde er von zwei Männern begleitet', erzählt Réveil: 'Wir mussten ihnen zu essen geben und sie bewachen. Wir waren ständig unterwegs, wir konnten sie nicht mehr länger mitnehmen.' Rund sechzig Kilometer waren sie zu Fuß gegangen. Sie machten in einem Stall im Weiler Le Vert halt. Der Befehl kam von oben: 'Unser Chef musste ihn umsetzen. Er war Elsässer und wurde Hannibal genannt. Er hatte in Meymac Deutsch unterrichtet und weinte wie ein Kind. Hannibal sprach zu jedem Deutschen. Es ist nicht lustig, Menschen zu töten.'"
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Kulturpolitik

Die FAZ bringt in ihrer Beilage Bilder und Zeiten einen Text von Lars Gustafsson von 1980, in dem der schwedische Schriftsteller die staatliche Subventionierung von Medien und Kultur in Frage stellte. Seine Horrorvorstellung ist das Modell Nachrichten von der Steuerbehörde': bei dem die Medien nur noch bestätigten, was das Sozialamt als Problem formuliert habe - und umgekehrt: "Die einzige Möglichkeit, diesen zirkulären Prozess zu durchbrechen, bestünde darin, dass die Medien in ihrer Rolle als bestätigendes Organ an irgendeiner wichtigen Stelle derart versagen, dass sie gezwungen wären, ihre Inhalte zu überprüfen. Und der einzige Weg, den ich mir vorstellen kann, damit solch ein Misslingen Gestalt annehmen kann, ist, dass das Publikum sich abwendet und damit neue Subkulturen hervorlockt. Oder mit einer vereinfachten Formulierung: Wenn eine Zeitung wie Dagens Nyheter nicht mehr von einer Broschüre der Sozialverwaltung unterschieden werden kann, wird das Gekritzel an der Wand deren bisherige Rolle übernehmen. Denn die intensivste Stimulanz kommt immer durch ein alternatives Wirklichkeitsbild zustande."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Gustafsson, Lars, Subkultur