9punkt - Die Debattenrundschau

Seine Majestät das Baby

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2023. In der NZZ skizziert Pascal Bruckner das neue Verständnis von Bürgerlichkeit: "Jede Einschränkung oder Behinderung macht mich zum Opfer und legitimiert meine Wut." Ebenfalls in der NZZ bekundet Bora Cosic seine Liebe zum Kosovo. Die FAZ fragt: Was bedeutet Putins Verlegung von Atomwaffen nach Belarus? Zwei Artikel in der SZ befassen sich mit dem Thema Restitution von Kunstwerken. Bei hpd.de erklärt der Ethikprofessor Hartmut Kreß, warum Ethikunterricht besser ist als Religion.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.06.2023 finden Sie hier

Ideen

Emmanuel Macron hatte angesichts des Gewaltklimas in Frankreich bei dem Politologen Jérôme Fourquet eine Studie über die "Verwilderung" der französischen Gesellschaft in Auftrag gegeben, für den in diesem Zusammenhang in Umlauf gebrachten Begriff der "décivilisation" erntete er viel Kritik. "Frankreich ist der kranke Mann Europas", verteidigt Pascal Bruckner Macron heute in der NZZ, glaubt im Gegensatz zu Fourquet aber nicht an die Etablierung einer dem Nationalsozialismus ähnlichen Ideologie: "Die moralische Verwilderung ist nicht auf eine Massenbewegung zurückzuführen, sondern auf einen übersteigerten Individualismus, der gesellschaftliche Notwendigkeiten nicht mehr anerkennen will. (…) Der Bürger der modernen Demokratie ist gleichzeitig ein verwöhntes Kind, das eine antiautoritäre und auf die geringsten Bedürfnisse eingehende Erziehung erhalten hat. Als Kunde ist er ein König, dessen Wünsche auf dem Marktplatz heilig sind. Bis ins Erwachsenenalter bleibt er 'Seine Majestät das Baby', dem man alles schuldig ist. Das Recht, Rechte zu haben, verkehrt sich in das Recht, alle Rechte zu haben, wobei diese mit dem eigenen Wohlbefinden gleichgesetzt werden: Jede Einschränkung oder Behinderung macht mich zum Opfer und legitimiert meine Wut."
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Europa

Putin verlegt taktische Atomwaffen nach Belarus. Der Westen hält still, um ihn nicht zu provozieren, analysiert Nikolas Busse in der FAZ. Die Verlegung verschiebe das atomare Gleichgewicht zwar nicht grundsätzlich. "Ganz so folgenlos, wie es manche Beobachter darstellen, ist sie allerdings auch nicht. Im Westen musste man bisher davon ausgehen, dass die von Russland in Königsberg stationierten Raketen vom Typ Iskander auch nuklear bestückt werden. Das ergibt primär eine Bedrohung für Polen, das Baltikum, auch für Berlin. Durch die Stationierung in Belarus gewinnt Russland zusätzliche Reichweite in Richtung der NATO-Südostflanke. Außerdem werden die Vorwarnzeiten verkürzt, was gerade im Fall von Nuklearwaffen keine Kleinigkeit ist."

Der Autor und Dramaturg Thomas Martin verteidigt in der FAZ die Idee, demokratische Russen, Ukrainer und Belarussen auf gemeinsamen Foren diskutieren zu lassen: "Wenn wir die Kräfte des Widerstands in Russland nicht erreichen, sollten wir die in der Emigration zusammenhalten. Man sollte daran erinnern, dass auch Russen in Russland protestieren und gegen das Terrorregime im Land kämpfen. Dass in Russland und in Belarus jeder der sich den Behörden widersetzt, gedemütigt, geschlagen, gefoltert wird. Umso mehr sollte man mit jedem reden, der sein Land verlassen konnte."

In der NZZ bekundet der serbische Schriftsteller Bora Cosic seine Liebe zum Kosovo, wo er vor sechzig Jahren einige Monate als Offizier verbrachte und dessen Unabhängigkeit er außer Frage stellt: "Die meisten Serben können das nicht verstehen, weil sie sich an eine bornierte mythomanische Version halten, nach der sie meinen, sie seien als Alleinbesitzer dieses Bodens in die ewigen Grundbücher eingetragen. (…) Die Serben neigen außerdem dazu, aus ihren Niederlagen ein Epos zu machen, ihr größter emotionaler Gewinn liegt in einer verlorenen Schlacht gegen die Osmanen auf dem Amselfeld im 14. Jahrhundert. Dieser Niederlage sind sie verhaftet, als hätten sie durch sie die Besitzurkunde für dieses Feld erhalten, aber auch ihre Eigenart, ihren besonderen Platz in der Geschichte. So begannen sie ein ewiges Klagelied zu singen, mit dem sie dem eigenen Groll und Zorn Nahrung geben, und dazu trägt in vielerlei Hinsicht auch ihre heute überbetonte Religiosität bei."
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Kulturpolitik

Anfang Juni forderte Catrin Lorch in der SZ mit Blick auf Max Pechsteins "Selbstbildnis, liegend", das von dem Arzt Walter Blank 1936 angeblich an einen Kölner Sammler verkauft wurde und dessen Erben nun Restitutionsansprüche geltend machen, ein Raubkunst-Gesetz, das auch Private Kollektionen in Deutschland zur Rückgabe verpflichtet. (Unser Resümee) Kein Land in Europa hat bisher eine gesetzliche Regelung für Raubkunst in nicht-öffentlichen Sammlungen gefunden, schreiben heute ebenfalls in der SZ die auf Kunstrecht spezialisierten Anwälte Peter Raue und Felix Stang. Aber: "Im Gegensatz zu anderen Ländern verfügt ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland über gesetzliche Regelungen, die zugunsten des 'Rechtsfriedens' die Erwerber von Raubkunst privilegieren. Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat, ist die Bundesrepublik Deutschland mit dem 'Dritten Reich' juristisch 'identisch'. (...) Immer wieder versuchte der Gesetzgeber, die geltenden Regelungen abzuändern. Doch das scheitert stets unter anderem an dem verfassungsrechtlichen Verbot der 'echten Rückwirkung', nach dem Gesetze nicht mit einer Wirkung für die Vergangenheit geändert werden dürfen." Sie fordern daher einen Fonds, der rechtmäßigen Eigentümern den einst gezahlten Kaufpreis erstattet.

Außerdem zum Thema Restitution: Der Wissenschaftsausschuss des Bayerischen Landtags lehnt es ab, den Fall von Picassos "Madame Soler" vor eine Schiedskommission zu bringen, meldet Catrin Lorch ebenfalls in der SZ: "Das bedeutet, dass der Streit um das wertvolle Gemälde von Pablo Picasso, das zur Sammlung der Pinakotheken in München gehört, nicht als Raubkunst vor der sogenannten Limbach-Kommission verhandelt wird. Darum hatten die Erben der ursprünglichen Eigentümer, die Nachfahren der jüdischen Bankiersfamilie Paul von Mendelssohn-Bartholdy, in ihrer Petition gebeten. Die Fraktionen der CSU und der Freien Wähler lehnten das Ersuchen gemeinsam ab, begründeten allerdings gleichzeitig eine Initiative, mit der man den Bund in die Pflicht nehmen will, ein verbindliches Raubkunst-Gesetz zu schaffen."

Glaubt man den umständlichen Erwägungen Patrick Bahners' in der FAZ, so lösen sich die Vorwürfe Marcel Leppers gegen die Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung (unsere Resümees) in nichts auf. Ein von Lepper behauptetes Fortwalten rechtsradikalen Geistes kann Bahners trotz der eindeutigen Vergangenheit von Leppers Vorgängern nicht dingfest machen. Auch die von Lepper als Beweis angebrachte große Deutschlandkarte (Bild) von 1934, die in den Gängen des Instituts hing, sei kein Dokument nationalsozialistischer Gesinnung, sondern ein Stück Buchkunst des Schriftkünstlers Rudolf Koch, das mit seinem Waldweben und Hölderlin-Zitaten eher "Wandervogeltöne der Landschaftsästhetik" anschlage. "Die Bereitschaft von Teilen der Öffentlichkeit, lieber an eine Intrige zu glauben als an eine Panne, einen Zusammenstoß der Temperamente oder unterschiedlicher Gestalten des guten Willens, hat mit der schauerromantischen Voreinstellung unserer Debatten über das Nachleben des Nationalsozialismus zu tun. Man malt sich das Schlimmste aus, erst recht, wenn der Schauplatz München heißt. In dem akademischen Milieu, dem die Stiftung schon vor dem Skandal bekannt war, kommt Neid auf die um Abendvorträge gebetenen Auserwählten hinzu."
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Politik

"Alles spricht dafür, dass der Westen diesen Konflikt - wieder - massiv unterschätzt", kommentiert Arne Perras in der SZ den Krieg im Sudan: "Politisch dürfte sich die Gleichgültigkeit Europas rächen, weil fortschreitender Staatszerfall und Flüchtlingsströme drastische Auswirkungen auf die EU haben werden - künftig noch mehr als bisher. Angesichts der Aussicht auf einen langen anarchischen Krieg im Sudan, in dem bald jeder gegen jeden kämpft, ist es gespenstisch, wie wenig die Eskalation Europas Hauptstädte beschäftigt."
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Stichwörter: Sudan

Religion

Ralf Sotschek erzählt in der taz die Geschichte von "Baby John" einem von vielen toten Säuglingen, die in den achtziger Jahren in Irland gefunden wurden, getötet meist von Müttern, die in dem damals rigide katholischen Land ihre Schwangerschaft verborgen hatten. Bei "Baby John" sind die  möglichen Eltern nun durch Genanalysen gefunden wurden. Aber das düstere Erbe der drakonischen katholischen Sexualmoral ist nach wie vor präsent, schreibt Sotschek: "Irland hat zwar in kürzester Zeit den Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert geschafft und durch Volksentscheide Homosexualität entkriminalisiert, den Tatbestand der Blasphemie abgeschafft, gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibung legalisiert, aber die Sache ist noch nicht ausgestanden. Es laufen immer noch mehrere Untersuchungen, zum Beispiel zu den katholischen 'Mütter-und-Baby-Heimen', wo unverheiratete Frauen ihre Kinder zur Welt brachten, die ihnen sofort weggenommen und an US-Paare verkauft wurden. Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit dem Fund von Hunderten Kinderskeletten in einem Abwassertank eines katholischen Kinderheims. Und dann sind da auch die sogenannten Magdalenen-Mädchen, die für die Nonnen schuften mussten."

Eine der Kuriositäten der Bildung in Deutschland ist der konfessionelle Religionsunterricht, den die Kirchen 1949 im Grundgesetz durchsetzten. Nun gibt es zwar immer weniger Gläubige, aber immer noch dieses Angebot des Religionsunterrichts. Der Ethikprofessor Hartmut Kreß erklärt im Gespräch mit Ernst-Günther Krause bei hpd.de, warum ein Ethikunterricht für alle besser wäre. Eines der Argumente zeigt auf, wie weit der Einfluss der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei den vom Staat bezahlten Lehrern reicht: "Auf der Basis von Artikel 7 des Grundgesetzes haben Kirchen und Religionsgesellschaften das Recht, Lehrkräfte mit der Erteilung von Religionsunterricht zu beauftragen; sie dürfen ihnen diese Lehrerlaubnis auch entziehen. Bis vor kurzem hat sich die katholische Kirche sogar in das Privatleben der Religionslehrkräfte eingemischt. In dieser Hinsicht wird auch von muslimischen Verbänden Hochproblematisches berichtet. Demgegenüber ist 'Ethik' ein unabhängiges Fach. Ethik-Lehrkräfte sind solchen außerschulischen Einflussnahmen nicht ausgesetzt."
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