9punkt - Die Debattenrundschau

Sie warteten schon am Flughafen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2023. In der Novaya Gazeta Europe berichtet die Reporterin Elena Milaschina, wie sie und der Anwalt Alexander Nemow in Grosny von einem organisierten Schlägertrupp überfallen wurde. In der SZ ruft Bernard-Henri Lévy das wütende Frankreich auf, dem Wind des Wahnsinns zu widerstehen. In der taz erklärt die Kulturtheoretikerin Catherine Liu die Obsession linker Akademiker mit Kultur und richtigem Sprechen als Folge ihres Angestelltendaseins. Perlentaucher Thierry Chervel erkennt in dem Angriff auf Ahmad Mansour das Muster linker Rufmordkampagnen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.07.2023 finden Sie hier

Europa

Die Novaya Gazeta Europe bringt einen ausführlichen Bericht zum Überfall auf ihre Reporterin Elena Milaschina und den Anwalt Alexander Nemow, die im tschetschenischen Grosny den Prozess gegen eine Menschenrechtsaktivistin beobachten wollten. Sie wurden zusammengeschlagen, Milaschina wurden die Haare geschoren und Nemow mit dem Messer verletzt. Sie selbst schildert die Vorgänge: "Sie warteten schon am Flughafen auf uns. Alexander glaubt, dass einige von ihnen mit uns im Flugzeug saßen ...  Drei Autos holten uns ein, in jedem saßen mindestens vier Personen. Sie warfen den Taxifahrer aus dem Auto. Wir wurden mit dem Kopf nach unten gelegt, sie versuchten, meine Hände hinter meinem Rücken zu fesseln. Anscheinend wurde Alexander dann mit einem kleinen Messer gestochen, er begann zu bluten. Sie zogen uns in einen Graben und fingen an, uns zu verprügeln. Es waren mindestens 10 bis 15 Männer ... Sie drohten, mir die Finger abzuschneiden, und drückten das Messer gegen mich. Dann fingen sie an, mit einem Stock auf meine Finger zu schlagen, einen nach dem anderen, und drohten, sie zu brechen."

"So überaus schrecklich und überaus ungerechtfertigt der Tod des jungen Nahel war: Nichts rechtfertigt diese tobende Wut, die, wie es Hannah Arendt in ihrem Essay über die Gewalt formulierte, zum Albtraum für jeden mutiert", meint Bernard-Henri Lévi in der SZ, fassungslos darüber, "was aus der Tradition der Volks- und Arbeiteraufstände geworden ist." Und doch, schreibt er, "müssen wir dem anderen Wind des Wahnsinns widerstehen - jenem, der von der extremen Rechten her weht. Dort kann man nur mit großer Mühe verbergen, wie sehr man sich insgeheim danach sehnt, endlich jenen Bürgerkrieg zu erleben, vor dem man nur zum Schein warnt. (…) Wie nach einem islamistischen Attentat gilt es, die Pauschalisierung und Vermischung einzelner Gruppen, also der Muslime, der zugewanderten Menschen, der Jugendlichen und Vorstadtbewohner, zurückzuweisen. Denn die jugendlichen Gewalttäter und ihre Opfer bewohnen dieselben Quartiere und ähneln sich, aber sie stehen auf entgegengesetzten Positionen. Diese vielen Menschen nun alle als eine Einheit zu begreifen, dies ist der beste Weg, künftige Unruhen vorzubereiten."

Das was in Paris passiert, ist in Deutschland nicht möglich, glaubt der im Iran geborene und in Bochum aufgewachsene Schriftsteller Behzad Karim Khani ebenfalls in der SZ: "Die Migranten in Frankreich, die zu einem großen Teil längst keine mehr sind, weil sie französische Staatsangehörige sind, die Sprache perfekt beherrschen, sie zu Hause und in ihren Herkunftsländern sprechen, wählen dürfen und in der Armee einem Land dienen müssen, das ihre Herkunftsländer während der Kolonialzeit unterjocht hat und bis zum heutigen Tag ausbluten lässt - sie können den desolaten Zustand ihrer Biografien von den französischen Ghettos zurückverfolgen zu den Slums in Afrika. Zu den Foltergefängnissen in Algerien, den Minen, Arbeitslagern und Plantagen im Kongo und so vielen anderen Ländern. Deutschland kann man Rassismus vorwerfen, Chancenungleichheit und vieles mehr. Deutschland mag an der Ausbeutung unserer Heimatländer, an den Waffenverkäufen und den Kriegen der USA beteiligt sein, aber das ist nicht unmittelbar genug. Man kann Deutschland nicht vorwerfen, dass es uns in unseren Herkunftsländern eine Gewalt angetan hat wie zum Beispiel Frankreich in Algerien. Die Postmigranten Frankreichs leben (...) in einem rassistischen Staat, der sich immer noch als Grande Nation sieht, damit aber nur die weißen, 'echten' Franzosen meint."

Die Behauptung, die Ausschreitungen hätten nur mit mit dem Rassismus des französischen Staates zu tun, "stülpt einen angloamerikanischen Diskurs auf eine französische Realität, die anders ist", sagt indes im NZZ-Interview mit Lucien Scherrer die französische Lehrerin und Autorin Barbara Lefebvre, die vor Pauschalisierungen von links und rechts warnt. Beunruhigend findet sie aber vor allem die Tatsache, dass es in ganz Frankreich "nur 5000 Jugendliche" waren, "die draußen waren und alles kaputtgeschlagen" haben: "Wenn 40 000 Polizisten 5000 'gamins' gegenüberstehen, muss man sich fragen, wie das ein Land derart erschüttern kann. Natürlich sind diese sehr mobil, und unsere Regierung ist nicht jene von Iran, die ihre Jugend einfach ermorden lässt. Das Beunruhigende ist: Innenminister Gérald Darmanin behauptet immer, man sei für alles gewappnet, für Attentate, für Ausschreitungen. In Wahrheit wird der macronistische Staat jedes Mal überrumpelt, zuerst von den Gilets jaunes, dann vom linksextremen schwarzen Block, jetzt von Randalierern."

Im Tagesspiegel geht Caroline Fetscher derweil der Frage nach, weshalb es gerade Bibliotheken und Schulen sind, die immer wieder Ziel von Attacken werden: "Der französische Soziologe Denis Merklen hat für sein Buch zu Brandstiftungen an Bibliotheken 70 Fälle zwischen 1996 und 2013 untersucht. Das Phänomen nehme während sozialer Unruhen zu, stellte er fest. Zum Spektrum der Ursachen zählt Merklen Armut und soziales Gefälle, Diskriminierung, Desorientierung und Exklusion. Ihre besondere Attraktivität als Objekte der Brandstiftung erhalten Schulen und Bibliotheken, da sie 'Tempel des Wissens' repräsentieren, die stellvertretend für 'die Macht' attackiert werden. (…) Ein weiteres, weniger beachtetes Element: Die Angst unterprivilegierter Gruppen vor dem Ausstieg und Aufstieg der Ihren."

Ruben Gerczikow, früher ein Vertreter der Jüdischen Studierendenunion, macht in der FAZ deutlich, dass die AfD eine Gefahr für das jüdische Leben in Deutschland ist, woran auch das Feigenblatt einer jüdischen Splittergruppe nichts ändere: "Antisemitismus, Rassismus und Shoah-Relativierung sind Kern dieser Partei. Das nehmen ihre Wähler wissend in Kauf. Die 'Protestwahl' der AfD dauert über zehn Jahre an. Ist das 'nur' Protest? Man wählt die AfD, weil man ihre Positionen gut findet oder darüber hinwegsieht. Dem Mythos der Bedrängten, die keine andere Wahl hätten als die AfD, gilt es zu widersprechen. Um es mit Michel Friedman zu sagen: 'Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen.'"

In der FAZ merkt Patrick Bahners bei einer Parole auf, die der Thüringer CDU-Politker Mario Vogt auf einem Kongress der konservativen Denkfabrik R21 ausgab: "Deutschland ist kein linkes Land mehr." Heißt das, es ist ein rechtes Land?
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Gesellschaft

Perlentaucher Thierry Chervel nimmt einen Artikel des freien Journalisten James Jackson auseinander, der Ahmad Mansours akademischen Titel in Frage stellte, bis er seine Unterstellungen schmählich zurückziehen musste - der Streit tobe gestern den ganzen Tag auf Twitter: "Der Artikel folgt dem üblichen Muster linker Rufmordkampagnen: Man stellt die akademische Reputation von Diskursgegnern in Frage, deren Argumente man unmöglich machen will. So verfuhr schon Bourdieu mit André Glucksmann. So lief es 2006 gegen Necla Kelek, als Mark Terkessides und andere 'Migrationsforscher' in einem 'offenen Brief' in der Zeit Necla Keleks Qualifikation in Frage stellten, um sich nicht mit ihren Befunden über Zwangsverheiratungen zu befassen."

In der SZ berichtet Moritz Baumstieger. In der Berliner Zeitung äußert sich Mansour selbst.

Brav haben fast alle Medien in der letzten Woche die Ergebnisse einer Studie zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland nachgebetet, die von einem "Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit" im Auftrag des BMI erstellt und von der Politologin Saba-Nur Cheema vorgestellt wurde (unsere Resümees). An der Studie haben ein paar Verbände mit Beiträgen mitgewirkt, die auch vom Verfassungsschutz als islamistisch beobachtet werden, berichtet Lennart Pfahler in der Welt: "Für den Bericht sprachen die Forscher auch mit Vertretern der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschland (IGS). Die Interviews sollten dazu dienen, eine Betroffenenperspektive einzufangen. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz befindet sich die IGS unter der Kontrolle des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH). Der Dachverband diene als 'wichtiges Element für die Steuerung der Interessen des IZH'. Das IZH wiederum sei 'ein bedeutendes Propagandazentrum Irans in Europa'. Laut Hamburger Verfassungsschützern strebe das IZH nach einem 'Export der islamischen Revolution'." Auch andere als islamistisch geltende Verbände trugen zu den für die deutsche Bevölkerung nicht besonders schmeichelhaften Befunden bei, so Pfahler.
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Im taz-Interview mit Caspar Schaller erklärt die amerikanische Kulturtheoretikerin Catherine Liu, warum sie aus dem Kulturkampf aussteigt und wie auch linke Akademiker zu Verwaltern des Kapitalismus wurden: "In einer Fabrik müssen alle Arbeiter für alle anderen Arbeiter Verantwortung übernehmen, weil am Fließband sonst jemand seine Hand verliert. Dazu will der Boss, dass alles schneller geht, du hingegen willst weniger arbeiten, eure Interessen sind also grundsätzlich verschieden. Selbst wenn du die anderen nicht magst, zwingt dich die Produktionsweise dazu, miteinanderzustehen, um eure Position zu verbessern. Im Gegensatz dazu gibt es E-Mail-Jobs. Für viele PMS (die Professional Managerial Class) spielt es gar keine Rolle, wie gut sie ihre Arbeit verrichten. Es geht nur darum, wie man sich präsentiert, nämlich als gut vernetzt, freundlich und hilfsbereit. Es geht also darum, der oberen Hierarchiestufe vorzuspielen, dass man gut ist. Es geht um Schein. Daraus fließt ihre Obsession mit Kultur und individuellem Verhalten, mit emotionaler Regulierung, individuellen Konsumentscheiden, Expertenwissen, mit Tugend. Man muss das Richtige sagen, um die Autorität zu befriedigen, nicht einander zu helfen. Es gibt keine liberale Sprache der Solidarität."

Die parlamentarische Linke hat sich zu sehr von Identitätspolitik ablenken lassen und darüber die soziale Frage vernachlässigt, meint auch der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer, mit Blick auf die Umfrage-Erfolge der AfD im FR-Gespräch. Aber "das gilt nicht nur für die Linke. Wir haben es seit den 90er Jahren mit einer Entwicklung zu tun, in der sich ein autoritärer Kapitalismus entwickelt hat, der riesige Kontrollgewinne aufweist, ob nun bei Standortfragen, sozialen Standards oder Wohlfahrtsfragen. Im Gegenzug hat die nationalstaatliche Politik in diesen Feldern riesige Kontrollverluste erlitten. Die Politik verlor also die Kraft oder auch den Willen, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen und das wird in der Bevölkerung natürlich wahrgenommen. Dem haben zurückliegende Regierungen und durchaus auch die parlamentarische Linke nichts entgegengesetzt."

Außerdem: In der NZZ hält der Schriftsteller Giuseppe Gracia die Konzepte des Kulturrelativismus für "destruktiv": "Die Idee, dass alle Kulturen relativ seien und die darin enthaltenen Normen nur ihre eigene, innere Gültigkeit haben dürften, so dass kein Kulturraum einen anderen beurteilen könne, weil es keine kulturübergreifenden Normen gebe, stellt selber eine kulturübergreifende Norm dar." Und: "Eine Kultur der Toleranz kann gar nicht überleben, wenn sie ihre eigene Voraussetzung, dass nämlich alle tolerant sein müssen, nicht absolut setzt."
Archiv: Ideen