9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2023. Der Tagesspiegel erzählt eine Geschichte der sowjetischen und russischen Giftmorde. Die Jüdische Allgemeine empört sich über den "Hochstapler" Fabian Wolff. In der NZZ  warnt Ayaan Hirsi Ali vor Woken, die einen eigenen Gottesstaat errichten wollten. Die FAZ erkennt auf einer Plantage in Florida, wie der Kampf gegen Wokeismus die Geschichte verfälschen kann. Der neue nigerianische Präsident Bola Tinubu hat Oba Ewuare II. zur Rückgewinnung der Benin-Bronzen beglückwünscht und will ihn beim Bau eines Palastmuseums unterstützen, meldet die Berliner Zeitung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.07.2023 finden Sie hier

Europa

"Putin hat bei Stalin gelernt", sagt Marina Litwinenko, Witwe des ermordeten Nachrichtendienstlers Alexander Litwinenko, zu Tessa Szyszkowitz, die für den Tagesspiegel eine Geschichte der sowjetischen und russischen Giftmorde erzählt: "Auch Stalin hatte eine Vorliebe für Giftmorde. Bereits 1928 ließ er ein Labor im Hauptquartier des russischen Geheimdienstes Lubjanka einrichten, um geruch- und geschmacklose, tödliche Gifte herzustellen. Der Sowjet-Diktator hatte sich die Giftpraxis wiederum von den russischen Zaren abgeschaut. General Michail Skopin-Schuiski verstarb mit 23 Jahren 1610 überraschend nach einem Festessen in Moskau - es hieß, Zar Wassili oder sein Bruder Dmitri hätten den populären Kriegsherren aus Angst um die eigene Macht vergiften lassen. Zu Sowjet-Zeiten kopierte Laurenti Beria, berüchtigter Chef des russischen Geheimdienstes NKWD, die Methode, um lästige Kritiker aus dem Weg zu räumen. 1936 ließ er etwa den abchasischen Kommunistenführer Nestor Lakoba in Tiflis vergiften. Stalins Top-Giftkoch war der Biochemiker Grigori Mairanowski. Er leitete das Giftlabor. Er trumpfte auch gerne mit eigenen Erfindungen auf: zum Beispiel dem Spazierstock mit vergifteter Spitze. Mairanowski testete seine Giftwaffen gerne an politischen Gefangen."
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Gesellschaft

Gestern stellte Zeit online ihrem Autor Fabian Wolff für die Meldung, dass er gar nicht Jude ist, ausgedruckt 19 Seiten zur Verfügung (unser Resümee) - in dem ausufernden Text erzählt er unter anderem, wie er sich auf Ahnenforschung begab, um am Ende festzustellen, dass seine Urgroßmutter mütterlicherseits evangelisch getauft war. Eine kleine Chance, dass sie jüdisch war, besteht natürlich dennoch, merkt er an: "Schließlich hatten sich seit dem 19. Jahrhundert viele Jüdinnen und Juden taufen lassen, ohne wirklich ihre Jüdischkeit zu verlieren". Die Medien schweigen heute, ob aus Schock, Gleichgültigkeit oder weil sie noch recherchieren, sei dahingestellt. Aber auf Twitter und in den sozialen Medien ist einiges los.

Die Schriftstellerin Mirna Funk hatte schon bei der Diskussion über Max Czollek und seinen jüdischen Großvater eine Rolle gespielt (unser Resümee). Auf Fabian Wolffs Bekenntnis reagiert sie mit einer zornigen Insta-Story, hier ein Screenshot:



Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen reagiert in einem Twitterthread: "Schon der Fall Max Czollek war ein sehr unangenehmes Beispiel für kulturelle Aneignung, was nur Dank der Entschlossenheit von Maxim Biller und des Zentralrats der Juden öffentlich wurde. Immerhin hatte Czollek noch einen jüdischen Großvater. Bei Fabian Wolff ist es noch extremer. Er ist ein Hochstapler und Lügner, der sich jahrelang - Zeit-Essay von heute hin oder her - wider besseres Wissens als Jude ausgegeben hat. Und obendrein jeden Nichtjuden, der nicht seine extrem antiisraelischen Position teilte, als 'Kartoffel' et cetera abwertete."

Jene Twitter-Prominenten, die vor zwei Wochen noch mit Hingabe die Rechtschreibfehler auf Ahmad Mansours HU-Diplom überprüften um zu klären, ob es gefälscht sein könnte (mehr hier), schweigen bisher. Manche Twitter-Nutzer stellen sich dennoch verwundert Fragen:


Dass nicht alle Muslime zwangsläufig und pauschal Verbündete Linker oder Liberaler sind, wissen Frauen und Schwule schon lange. Auch im Berliner Columbiabad, das nach Angriffen auf Frauen, Homosexuelle und Bademeister mehrere Tage geschlossen war, konnte man das gerade lernen. "Es ist bizarr", findet Philip Eppelsheim in der FAZ. "Auf der einen Seite kämpfen vor allem linke Kreise für das Recht der Frau, auch oben ohne zu baden, auf der anderen Seite verschließen sie die Augen vor den Problemen mit Milieus, in denen Frauen schon im Bikini als Freiwild gelten und es Mädchen verboten wird, schwimmen zu gehen. Es scheint, als ob der Traum vom Multikulti noch über den Frauenrechten steht."

Ähnliches erlebte die homosexuelle Community im Städtchen Hamtramck, in Michigan, USA. Dort war man sehr stolz, als 2015 erstmals ein Stadtrat mit muslimischer Mehrheit gewählt wurde. Doch die Freude der Liberalen währte nicht lange. Letzte Woche hat der Stadtrat, inzwischen ausschließlich mit muslimischen Männern besetzt, beschlossen, keine Regenbogenflaggen mehr auf öffentlichem Grund flattern zu lassen, berichtet Tom Perkins im Guardian: "Die muslimischen Einwohner, die das Rathaus füllten, brachen nach dem einstimmigen Votum des Stadtrats in Jubel aus, und auf den Social-Media-Seiten von Hamtramck war der Spott unerbittlich: 'Fagless City', hieß es in einem Beitrag, unterstrichen mit Emojis eines angespannten Bizeps. In einem angespannten Monolog vor der Abstimmung rief Stadtrat Mohammed Hassan den LGBTQ+-Anhängern seine Rechtfertigung zu: 'Ich arbeite für die Menschen, für das, was die Mehrheit der Menschen will.'"

In der Welt würde der Germanist Horst Haider Munske, der als Experte an der Rechtschreibreform beteiligt war, mit dem Gendersternchen am liebsten auch gleich die Rechtschreibreform einkassieren: "Die entscheidende Parallele zwischen Rechtschreibreform und Gendern: die Festlegung auf sprachwidrige Regeln, begründet mit vermeintlichen sozialen Verbesserungen. Solche Missachtung der gemeinsamen Sprache hat den Widerstand in der Bevölkerung ausgelöst." In der FR bricht Arno Widmann indes eine Lanze für den Genderstern: "Wer sich heute über das * aufregt, der wird später einmal, wenn wieder die regieren, die alles in Schwarz und Weiß einteilen wollen, der Zeit nachtrauern, in der er/sie/* bereit gewesen war, nicht nur die Vielfalt der menschlichen Sexualität, sondern auch seine/ihre/* eigenen 'überkonträren und ambivalenten Empfindungen' zu akzeptieren."

In der NZZ hält Ayaan Hirsi Ali den Wokeismus für eine ebenso große ideologische Gefahr für die westliche Zivilisation wie den Islamismus: "Ihre größte Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie die westliche Zivilisation verachten und durch etwas noch Unbekanntes ersetzen wollen. Diesen zerstörerischen Utopismus und vieles andere mehr teilen die Anhänger des Wokeismus mit den Islamisten. Für Klima-Apokalyptiker, Gender-Fanatiker und Vertreter der Critical Race Theory war und ist der Westen ein unterdrückerisches Gebilde, das die Schwachen ausbeutet und darum zerstört werden muss. (…) Der moderne Nationalstaat besteht auf der Trennung von Kirche und Staat, während die Woken ihren eigenen Gottesstaat anstreben."
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Geschichte

Frauke Steffens hat für die FAZ die Gamble-Plantage in Florida besucht, und ist einigermaßen fassungslos über das Geschichtsbild, das die Daughters of the Confederacy, eine Lobbyorganisation von Soldaten-Nachfahren der Konföderierten Armee, dort verbreiten. Über Sklaverei erfährt man auf der Plantage praktisch nichts: "Die Skizze einer Hütte und eine Liste mit Namen erinnern an die Unterdrückten. Doch nach der Tour durch die Villa wissen die Besucher mehr über das Baumaterial der weißen Säulen - ein Gemisch aus Austernschalen, Muscheln, Asche und Sand, das man 'Tabby' nennt - als über das Leben der Menschen, die sie bauten." Gouverneur Ron DeSantis unterstützt diese Art der Geschichtsverfälschung: "Der sogenannte 'Stop Woke Act' und weitere Gesetze sollen die Verbreitung von Theorien verhindern, nach denen 'systemischer Rassismus, Sexismus, Unterdrückung und Privileg den Institutionen der Vereinigten Staaten inhärent' seien. Im Frühjahr blockierte DeSantis einen College-Vorbereitungskurs in afroamerikanischer Geschichte, weil darin linke 'ideologische' Theorien thematisiert würden. Fast 200 Bücher sind laut Presseberichten zeitweise aus Schulen, Schulbezirken oder Bibliotheken in Florida verbannt worden, darunter auch Toni Morrisons 'Sehr blaue Augen', das Debüt der Nobelpreisträgerin über die Frage, was es heißt, als Schwarze in einer weißen Welt der Ausgrenzung zu leben. Schulbehörden gehen dabei selbständig vor, um den neuen Regeln zu entsprechen. Kritiker sehen in dem Verbot einen Angriff auf Meinungsfreiheit, Wissenschaft und Lehre."
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Politik

"Afghanistan gehört derzeit zu den sechs schlimmsten Hunger-Hotspots der Welt", sagt im FR-Gespräch mit Philipp Hedemann die Agrarwissenschaftlerin und Regionaldirektorin der Welthungerhilfe für Asien, Elke Gottschalk, die gegen eine Isolation und für Friedensverhandlungen mit den Taliban plädiert, "denn die Taliban gibt es nicht. ... Es gibt bei den Taliban unterschiedliche Strömungen. Wir haben kaum Einblick, was in Kandahar passiert, aber ich gehe davon aus, dass sehr viele Taliban gegen ein Bildungs- und Arbeitsverbot für Frauen sind. ... Mit der radikalen Einschränkung der Frauen- und Mädchenrechte geben die Taliban Deutschland und anderen Gebern ein Argument, die begrenzten Mittel eher in Ländern einzusetzen, in denen Frauen mehr Rechte haben. Da Frauen und Mädchen in Afghanistan zu den vulnerabelsten Gruppen gehören, leiden sie am stärksten unter den Mittelkürzungen. So erreicht man also genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen möchte. Darum sollte humanitäre Hilfe sich nach der Bedürftigkeit, nicht nach politischen Prinzipien richten."
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Stichwörter: Afghanistan

Religion

"Fast drei Viertel der befragten Deutschen haben jetzt in einer repräsentativen Umfrage erklärt, sie hielten die Kirchensteuer für nicht mehr zeitgemäß", schreibt Alexander Kissler in der NZZ. Aber: "Im vergangenen Jahr sprudelte diese Quelle mit insgesamt über 13 Milliarden Euro reichlich. Das Plus gegenüber 2021 betrug 247.000 Euro, ein neuer Gipfel wurde erreicht Allein bei den Katholiken stiegen die Steuereinnahmen seit 2010 dank einer florierenden Wirtschaft um über 40 Prozent, während im selben Zeitraum die Mitgliederzahl um etwa 15 Prozent zurückging."

Matthias Kamann macht sich in der Welt trotzdem große Sorgen. Trotz Denkmalschutzmitteln und staatlicher Zuschüsse würden historische Kirchen oder christliche Museen zu einem großen Teil von Kirchen und deren Mitgliedern finanziert, schreibt er, und fragt sich, wie die Finanzierung religiöser Kulturtraditionen angesichts des Mitgliederschwunds künftig vonstatten gehen soll. Die Staatsleistungen will er zwar beenden, schlägt aber gleich auch eine neue Form der Subvention vor. Es sei zu überlegen, "ob man die Staatsleistungen vom Kopf der Enteignungstheorien auf die Füße gesamtgesellschaftlicher Aufgaben stellt, die von den Kirchen nicht mehr zu erfüllen sind. Anders gesagt: Die Länder zahlen weiterhin Geld, aber dafür wird eine nachvollziehbare Grundlage geschaffen, die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben entspricht."
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Kulturpolitik

Der neue nigerianische Präsident Bola Tinubu hat sich am Wochenende erstmals zu den Benin-Bronzen geäußert, meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Anlass war der Antrittsbesuch des Oba Ewuare II. bei Tinubu, der seit Ende Mai im Amt ist. Offenbar ist Tinubu gewillt, den Oba beim Bau eines Palastmuseums zu unterstützen, in dem die Bronzen dann ausgestellt werden sollen. Damit düpiert er Deutschland, das bereits vier Millionen in ein anderes Museum für die Benin-Bronzen in Benin-Stadt gesteckt hat. 'Wir werden an dem Museum arbeiten', sagte er laut der Zeitung Premium Times Nigeria und zahlreicher anderer nigerianischer Medien. Tinubu beglückwünschte den Oba hinsichtlich der Wiedergewinnung der Bronzen. 'Wir sind froh, dass wir sie zurückhaben, und wir sind froh, dass Sie glücklich sind', sagte er zu Ewuare II. Das bedeutet wohl, dass er den Oba als deren neuen Eigentümer nicht infrage stellt."
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Stichwörter: Benin-Bronzen, Nigeria, Benin

Ideen

Erst eine der von uns ausgewerteten Zeitungen hat Peter Frankopans Globalgeschichte des Klimas "Zwischen Himmel und Erde" besprochen. Stattdessen wird in wenigen Wochen bereits das vierte Interview mit Frankopan geführt - heute von Jörg Häntzschel in der SZ, der von dem Historiker erfährt, was ihn noch mehr sorgt als der Klimawandel: "die Gefahr einer nuklearen Eskalation, Vulkanausbrüche, Pandemien, die schlimmer sein werden als Covid 19. Aber eines ist klar: Wir leben in einer fragmentierten Welt. Wir Europäer sollten darüber nachdenken, wie wir unseren Mitmenschen jetzt helfen können."
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Stichwörter: Frankopan, Peter, Klimawandel