9punkt - Die Debattenrundschau

Ein unbestimmtes Dagegensein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2023. Die Politologin Natascha Strobl warnt in der SZ davor, die Bedeutung der AfD "ins Unermessliche" zu überhöhen. Die FAZ zieht Bilanz nach einem Jahr RBB-Skandal: Leute aus der zweiten Reihe müssen es jetzt richten. "Fabian Wolff ist eigentlich der Antisemit, der er nicht sein will", sagt die Historikerin Barbara Steiner in der Jüdischen Allgemeinen. Ebendort antwortet Michael Wolffsohn auf Eva Menasse.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2023 finden Sie hier

Europa

Es gibt in Deutschland die Tendenz, die AfD ins "Unermessliche" zu erhöhen, meint in der SZ die Politologin Natascha Strobl, dabei sei es sinnvoller aus den Fehlern jener Länder zu lernen, in "denen die extreme Rechte auf Parteienebene längst tonangebend ist", schreibt sie. Etwa indem hierzulande darauf geachtet wird, dass die Grenzen des Sagbaren nicht immer weiter nach rechts verschoben werden: "Wenn es keinen Konsens mehr darüber gibt, dass die extreme Rechte die größte Gefahr für das friedliche Zusammenleben ist, dann beginnt Normalisierung. Dann ist Rechtsextremismus nur noch eine Meinung wie jede andere. Dieser Punkt ist in Deutschland noch nicht in einem Ausmaß wie in den umliegenden Ländern erreicht. Der Kardinalfehler liegt darin, dass man der extremen Rechten über Jahrzehnte die Rolle als Stimme der Unzufriedenen exklusiv überlassen hat. Die Wählerzusammensetzung und deren Motivation ist komplex und multikausal. Ein unbestimmtes 'Dagegensein' wird von der extremen Rechten nicht nur eingesammelt, es wird auch evoziert und rassistisch und verschwörungsideologisch geframt. Diesen Vertretungsanspruch müssen demokratische Parteien nicht nur als falsch entlarven, sondern sie müssen ihn konterkarieren."
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Medien

"Die AfDler müssen genau so befragt werden wie die Vertreter anderer Parteien auch", antwortet Birgit Wentzien, Chefredakteurin des Deutschlandfunks, im FR-Gespräch mit Bascha Mika auf die Frage, weshalb die Partei im Dlf regelmäßig zu Wort kommt. Die Öffentlich-Rechtlichen seien kein "Tendenzbetrieb", sondern der Meinungsvielfalt verpflichtet, fährt Wentzien fort: "Dabei müssen wir uns immer vergegenwärtigen - Meinungsfreiheit beginnt, wo die Fakten klar sind. Das vergisst die AfD gern." Und: "Viele Vertreter der AfD sind Demokratieverächter. Sie wollen dieses Land und seine Zivilität kaputt machen. Aber sie kommen damit nicht durch. 'Systempresse' genannt zu werden, ehrt uns da fast schon. Wir dürfen sie einfach nicht davonkommen lassen."

Es ist gar nicht so leicht, einen Intendanten des RBB nicht zu gut zu bezahlen, stellt Michael Hanfeld in der FAZ fest, wo er den Skandal um die Ex-Intendantin Patricia Schlesinger, der vor einem Jahr ans Licht kam, nochmal resümiert. Nebenbei erklärt er, warum die Interimsintendantin Katrin Vernau nicht verlängert wurde, obwohl sie gern wollte, und auch der Bremer-Radio-Mann Jan Weyrauch nicht zum Zuge kam: "Das lag entscheidend an der Leitplanke, die der neue RBB-Verwaltungsratschef Benjamin Ehlers eingezogen hatte. Mehr als 230.000 Euro Jahressalär seien für einen neuen Senderchef nicht drin, ließ er durchblicken. Damit war Katrin Vernau mit ihrem knapp unter 300.000 Euro liegenden Jahresverdienst raus, der Programmchef von Radio Bremen kommt auf seinem jetzigen Posten schon jetzt an die Summe heran, die ihm beim RBB winkte. So lief alles auf Bewerberinnen aus der zweiten Reihe hinaus, was insbesondere die Belegschaft des Senders monierte."
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Politik

"Westafrika muss sich auf ein weiteres Land ohne gewählte Regierung einstellen", kommentiert Katrin Gänsler in der taz die Absetzung von Präsident Mohamed Bazoum in Niger. Dabei sollte Niger der letzte Stabilitätsanker in der Region sein. Auch Niger ist vom Islamismus heimgesucht, so Gänsler. Hinzukommt: "Eine extrem junge Bevölkerung von durchschnittlich nicht einmal 15 Jahren verbunden mit großer Perspektivlosigkeit - Niger belegt im Entwicklungsranking der Vereinten Nationen Platz 189 von 191 - trägt nicht gerade zur Stabilisierung bei. Dazu wurden die Rechte von Zivilgesellschaft, Journalist:innen und Stimmen der Opposition in den letzten Jahren immer mehr eingeschränkt. Da hilft es nicht, unermüdlich zu betonen, dass Bazoums Wahl der erste demokratische Wechsel an der Staatsspitze überhaupt war." Hier Gänslers Bericht über die Ereignisse. Und Dominic Johnson wägt die Konsequenzen für den Westen ab: "Kein Land in der Sahelzone beherbergt so viele ausländische Eingreiftruppen und wird so gern von deutschen Ministern besucht. Und jetzt?"
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Gesellschaft

Die Judaistin und Historikerin Barbara Steiner hat sich in ihrer Dissertation mit dem Phänomen der "Fake Jews" befasst, das keineswegs neu ist, wie sie im Interview mit Ralf Balke von der Jüdischen Allgemeinen bekräftigt. "Immer wieder tauchten sie auf. Viele von ihnen zauberten dann auch Familienangehörige, die Auschwitz überlebt hätten, aus dem Hut, so wie Irena Wachendorff. Die Schoa nimmt in diesen erfundenen Lebensgeschichten oftmals eine zentrale Rolle ein." "Fake Jews" bedienen "oft eine Marktlücke", sagt sie mit Blick auf Fabian Wolff (unsere Resümees), und das habe eine Menge mit "antisemitischen Reflexen zu tun. Fabian Wolff ist eigentlich der Antisemit, der er nicht sein will. Je prekärer eine jüdische Identität ist, umso größer das Bedürfnis, die Erwartungshaltungen derjenigen zu erfüllen, die nur einen wie ihn als Juden akzeptieren."

Eva Menasse hatte neulich aus einer Perspektive als Außenseiterin der Jüdischen Gemeinde "Partikularismus" vorgeworfen, während sie sich linken jüdischen "Universalisten" nahe fühlt, die die Muslime heute als am meisten diskriminierte Minderheit in Deutschland betrachteten und nicht mit "Holocaust-fixierten Deutschen" im selben Takt schwängen (unser Resümee). Michael Wolffsohn antwortet in der Jüdischen Allgemeinen und verteidigt Josef Schuster, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde: "Eva Menasse verübelt Josef Schuster, dass er nicht nur über die AfD-Erfolge besorgt ist, sondern auch über die israelfeindliche BDS-Bewegung, den derzeitigen Liebling linker und linksliberaler Juden und Nichtjuden. Sie ignoriert, dass Juden nicht nur von Rechtsextremisten bedroht sind. Sie übersieht linksextremistische, islamistische sowie radikalpalästinensische Gefahren, die von Linken verniedlicht und dadurch legitimiert werden." Bereits gestern hatte Dmitrij Belkin von der Jüdischen Gemeinde in der Zeit auf Menasse geantwortet.

Im Alter von 48 Jahren hat sich die chinesische Sängerin Coco Lee das Leben genommen, früh wurde sie von ihrer Mutter zur Perfektion gedrillt, ihre unglückliche Ehe und die neun gescheiterten Versuche einer künstlichen Befruchtung sollten aus der Öffentlichkeit ferngehalten werden, berichtet Franka Lu, die in ihrer ZeitOnline-Kolumne grundsätzlich darüber nachdenkt, wie die Perfektionsansprüche in der chinesischen Gesellschaft Leben zerstören: "'Du musst nicht perfekt sein', so lautete der Tenor vieler Artikel zu Coco Lees Tod. Darin liegt auch ein Therapieversuch für eine hoch kompetitive Gesellschaft, die von Kindern Perfektion in jeder Hinsicht erwartet. Laut jüngsten Studien zeigen über 17 Prozent der chinesischen Kinder zwischen sechs und 15 Jahren depressive Symptome."

Die ukrainische Fechterin Olha Kharlan ist vom Internationalen Olympische Komitee disqualifiziert worden, weil sie ihrer russischen Gegnerin nach gewonnenem Wettkampf den Handschlag verweigerte. Das IOC hatte den Russen die Teilnahme an den Fecht-Weltmeisterschaften erlaubt. Christoph Becker kommentiert in FAZ.Net scharf: "Der Internationale Fechtverband, jahrelang von Abermillionen russischen Geldes durchgefüttert, disqualifizierte Olha Kharlan am Mittwoch. Sie hat die Disqualifikation mit ihrem großen, ehrenhaften Auftritt in Kauf genommen und ihre Olympiaqualifikation aufs Spiel gesetzt. Mehr kann sie nicht geben. Wie oft sich dieses Geschehen auf dem Weg nach Paris und bei Olympia dort wiederholen wird? Das IOC und Verbände wie die FIE nehmen Opfer wie das von Olha Kharlan in Kauf, damit sie der Welt eine Fiktion vom Frieden im Sport verkaufen können. Eiskalt, zynisch und abstoßend."

Hier die Szene, in der Kharlan ihrer Gegnerin den Handschlag verweigert:

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Geschichte

Bismarck war weder der "Superstar der Reichsgründung", wie ihn einige Konservative sehen, noch der "Superschurke, der Deutschland auf die schiefe Ebene setzte", wie einige Linke meinen, schreibt in der NZZ der Historiker Christoph Nonn. Vielmehr war er im "langwierigen Prozess der Bildung dieses Nationalstaats nur ein Akteur unter vielen", so Nonn: "Anders als er es selbst in seinen Memoiren darstellte, steuerte Bismarck nach 1866 keineswegs zielstrebig auf die Gründung eines deutschen Nationalstaats unter Einbeziehung Süddeutschlands hin. Noch 1869 erklärte er, die deutsche Einheit sei 'keine reife Frucht'. Reif wurde die Frucht bekanntlich erst infolge des Krieges mit Frankreich 1870/71. Nach einer immer noch populären Deutung hat Bismarck diesen Krieg durch die berühmte 'Emser Depesche' provoziert. Die zeitgenössischen Quellen sagen freilich, wie Eberhard Kolb schon vor fast fünfzig Jahren herausgearbeitet hat, etwas ganz anderes. Im Vorfeld der 'Julikrise' von 1870 nahm Bismarck an, dass Frankreich aus innerem Prestigebedürfnis der Regierung Napoleons III. wahrscheinlich einen Krieg provozieren würde. Er selbst wollte diesen aber wenn möglich vermeiden. Als Frankreichs Anspruch auf Luxemburg 1867 eine Welle nationalistischer Empörung in den deutschen Staaten hervorrief, hat er als preußischer Ministerpräsident diese sogar noch zu dämpfen versucht."
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Ideen

Der russische, in Italien lebende Schriftsteller Nicolaj Lilin galt mal als von Roberto Saviano und Irvine Welsh gefeierter "transnistrischer Hemingway", inzwischen verfasst er als "Hobbyhistoriker" Sachbücher, die Putins Propaganda verbreiten, schreibt in der NZZ Ulrich M. Schmid, der Lilins krude Thesen im einzelnen zerlegt: "Für Lilin ist der gegenwärtige Ukraine-Krieg eine Spätfolge des 'österreichischen Genozids an den Russen in Galizien zwischen 1914 und 1917'. Um diese abenteuerliche These überhaupt nachvollziehen zu können, muss man Lilins Grundannahmen kennen. Er geht davon aus, dass es historisch in der Ukraine nur 'Russen' gab, weil die Russen und die Ukrainer ja ein Volk seien. Er habe diese Einheit in seiner sowjetischen Kindheit noch in Transnistrien beobachten können. Lilin wiederholt hier Putins Lieblingsthese, die allerdings bereits durch die Unterdrückung des ukrainischen Nationalprojekts im zaristischen Russland ad absurdum geführt wird: Wenn es angeblich keine ukrainische Nation gibt, dann kann man sie auch nicht verbieten."
Archiv: Ideen