9punkt - Die Debattenrundschau

Die Angst, das Falsche zu sagen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2023. In der SZ beschreibt Lena Gorelik die russische "Schule der Angst". Le Monde erzählt, wie das Rassemblement national das ökologische Thema für sich entdeckt. In Niger ist die Sache wohl gelaufen, niemand wird gegen den Putsch intervenieren, vermutet die taz, das Ende der "Françafrique" ist damit eingeläutet, meint auch die FAZ. Mit Künstlicher Intelligenz werden nicht Arbeiter, sondern recht qualifizierte Büroangestellte wegrationalisiert, annonciert der Ökonom Daniel Susskind in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.08.2023 finden Sie hier

Europa

Die Aktivistin Christiana Bukalo setzt sich für Staatenlose ein, eine Bevölkerungsgruppe, die überhaupt keine Lobby hat und deren Status sich sogar vererbt, wie sie im Interview mit Frederik Eikmanns von der taz erklärt: "Von den rund 126.000 Staatenlosen, die in Deutschland leben, sind etwa 36.000 hier geboren und haben die Staatenlosigkeit gewissermaßen geerbt. Das hat auch damit zu tun, dass in Deutschland Kinder von staatenlosen Eltern meist automatisch als staatenlos oder mit einer 'ungeklärten Staatsangehörigkeit' registriert werden. Viele von ihnen leben bereits ihr ganzes Leben hier und erfüllen eigentlich alle Anforderungen für die Einbürgerung. Trotzdem wird ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit verwehrt. Das ist besonders ungerecht. Wer ist denn deutsch, wenn nicht diese Kinder, die hier geboren sind und ihr ganzes Leben hier gelebt haben, ohne jemals eine Bindung zu einem anderen Staat zu haben?"

Während der Gespräche mit ihrem Vater lernte die Schriftstellerin Lena Gorelik die russische "Schule der Angst" kennen, schreibt sie in der SZ. Widerworte oder Proteste gegen Höhergestellte sind da nicht vorgesehen: "Wer durch die Schule der Angst geht, hat nicht gelernt, Fragen zu stellen, hat stattdessen gelernt, politische Ordnung als natürliche Gegebenheit hinzunehmen, offensichtlich sogar einen Krieg". Dabei greife Putin auf bewährte Methoden aus der Sowjet-Zeit zurück. "Praktiken und Mechanismen, die dem Erhalt totalitärer Systeme dienen, machen sich im russischen Alltag breit: Wer jemanden als Kriegsgegner entlarvt, wird belohnt. Damit ein solches System funktioniert, braucht es immer die Mitwirkung und die Bereitschaft der Bürger. In den russischen Schulen wird plötzlich nicht nur militärisches Wissen eingepaukt, Schüler werden zum Denunzieren erzogen - und beides zeigt Wirkung: (…) Eine Angst macht sich breit, die viele wenn nicht aus dem eigenen Leben, dann aus der Familiengeschichte kennen: die Angst, das Falsche zu sagen - oder sogar an der falschen Stelle zu schweigen."

Immer mehr Experten sehen den Ukraine-Krieg an einem toten Punkt, an dem keiner der beiden Kriegsparteien gewinnen kann, konstatiert der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew in der NZZ. Dies liegt vor allem an der stabilen Wirtschaftslage Russlands, die Putin durch einen hohen Blutzoll erhalte. Und doch ist das System Putin längst nicht so stabil, wie es scheint, meint Inosemzew: "Der Grad des Misstrauens, der im Kreml bereits hoch war, hat inzwischen ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht. Wenn die westlichen Mächte daran interessiert sind, den Krieg zu stoppen, sollten sie sich darauf konzentrieren, diese internen Spannungen in den russischen Eliten zu verstärken. Um das zu erreichen, müssen sie verschiedene Gruppen unterschiedlich behandeln, was derzeit nicht der Fall ist." Inosemzew schlägt vor, mehr russische Akteure als internationale Kriegsverbrecher auszuschreiben, um sie gewissermaßen in Russland einzusperren. "Die meisten der bereits wegen Unterstützung der russischen Aggression mit Sanktionen belegten Personen sollten im selben Status belassen werden, während einige Dutzend gemäßigte Politiker, Generäle, die nicht im Fronteinsatz waren, sowie namhafte Unternehmer, deren Geschäfte nicht den militärischen Bereich betreffen, von den Sanktionslisten gestrichen werden können. (…) Zur Beendigung des russischen Invasionskriegs gegen die Ukraine ist es notwendig, einen Krieg Russlands gegen sich selbst zu entfachen."

Im Tagesspiegel schreibt Aleksandr Brezar über die Enthüllung eines Denkmals für den Kriegsverbrecher und letzten Herrscher über Jugoslawien Milosevic. Sein Sohn Marko, Teil einer nationalistischen Biker-Gang, trat zu diesem Anlass das erste Mal seit 2000 wieder öffentlich auf, davor war er im russischen Exil. Währenddessen findet in Serbien eine Rehabilitierung von Milosevic in Literatur und Fernsehen, zuletzt durch eine fünfteilige Dokumentation, statt, die auch dem "großen Bruder" Russland nützt, so Brezar: "Die Geschichte von den orthodoxen Brüdern Serbien und Russland ist ein Erbe von Milosevic senior. Obwohl Serbien und Jugoslawien nie Teil des zaristischen Russlands oder während des Kalten Krieges im Warschauer Pakt waren, war es Milosevics Ethnonationalismus, der die Idee der Russen als 'orthodoxe große Brüder' der Serben einführte. Moskau seinerseits war nach 1989 an europäischen Verbündeten interessiert, die mit seiner antiwestlichen Haltung sympathisierten. So unterstützte es Belgrad während der Nato-Intervention, wenn auch nur politisch." Das will Milosevic jun. wiederaufleben lassen.

Der Rassemblement national unter Marine Le Pen hat den Klimawandel für sich entdeckt, berichtete Le Monde gestern. Maßnahmen will man der Bevölkerung zwar ersparen, aber das heißt nicht, dass man das ökologische Thema nicht blendend in eigene Diskurse einbauen kann, wie das heutige Editorial von Le Monde zeigt: "Schon längst haben Rechtsextreme Theoretiker den Boden für die Verknüpfung von Identitäts- und Umweltthemen bereitet. Sie ziehen Parallelen zwischen dem Schutz der biologischen Vielfalt und dem Schutz essentialisierter menschlicher 'Rassen' und versuchen so, den von ihnen gewollten Rückzug der Völker auf sich selbst und ihre Phobie gegen Mischungen zu rechtfertigen. Die fundamentalistisch katholisch inspirierte 'integrale Ökologie' verbindet den Schutz des Planeten mit dem Schutz des menschlichen Körpers und lehnt Abtreibung und medizinisch unterstützte Fortpflanzung vehement ab."
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Medien

Es gibt eine neue Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen, die in der FAZ angestoßen wurde: Der Ex-Anchor Man und Ex-Intendant Peter Voss hatte tendenziöse Berichterstattung kritisiert, der Dramaturg und Wagenknecht-Verbündete Bernd Stegemann griff das auf und kritisierte einen angeblich manipulativen "heute-"Beitrag, wogegen sich der "heute-journal"-Chef Wulf Schmiese am Samstag vehement wehrte. In der NZZ platzt jetzt auch Claudia Schwartz der Kragen angesichts eines Instagram-Accounts der Sendung "Monitor": "Die Belehrung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist mittlerweile Programm. Das 'Monitor'-Magazin des WDR präsentiert derzeit auf Instagram 'verharmlosende Klimasprache' und liefert 'Alternativbegriffe'. 'Klimawandel' etwa klingt nach Meinung der dortigen Redaktion zu sehr wie ein 'sanfter, natürlicher Prozess' und nicht so 'heftig, gefährlich und menschengemacht' wie 'Klimakrise'. 'Erderwärmung' hört sich zu 'angenehm und positiv' an, wie wäre es also mit 'Erderhitzung'? Und der 'Klimaleugner' ist dem 'Klimaskeptiker' vorzuziehen, weil dieser - man muss das jetzt nicht verstehen - 'Nachdenken' suggeriere. Bitte nicht nachdenken, sondern nachplappern?"
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Geschichte

In der NZZ erinnert der Ökonom Amos Michael Friedländer an das Ende des Korea-Krieges 1953. Beiden Supermächten, der UdSSR und der USA, war klar, dass sie den Krieg nicht würden gewinnen können. Präsident Eisenhower entließ sogar seinen Außenminister, weil dieser Pjöngjangs Unterstützer Peking drohte, den Krieg auf Chinas Staatsgebiet auszudehnen - Nuklearwaffen nicht ausgeschlossen. Das Ergebnis ist der 38. Breitengrad, der die Grenze der beiden Koreas heute, trotz aller Spannungen, immer noch markiert. Friedländer sieht hier viele Parallelen zur heutigen Situation im Ukraine-Krieg. "Bekanntlich ist es im Ukraine-Krieg Russland, das immer wieder mit dem Einsatz von Nuklearwaffen droht. China hingegen ist heute der Mächtigere im Bündnis der beiden Länder und strikt gegen einen solchen Einsatz. In den USA hat man die Lehren aus dem Korea-Krieg nicht vergessen. So gibt es Stimmen, die darauf hinweisen, dass der Waffenstillstand noch immer halte und dass die Beendigung des Ukraine-Krieges durch einen ebensolchen realistischer sei als ein wie auch immer gearteter Friede. Auch könnten heute die USA theoretisch die Nachschublieferungen an Kiew einstellen, um die Zustimmung der Ukraine zu einem künftigen Waffenstillstand zu erzwingen, so wie Stalins Nachfolger es gegenüber China taten. Doch wahrscheinlich ist dies nicht."
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Ideen

In Frankreich wird eher noch erbitterter über "Wokeness" gestritten als in Deutschland, ganz einfach weil es in Frankreich auch noch eine säkulare Linke gibt, die sich durch die woken Diskurse, die zudem den Säkularismus verabscheuen, abgehängt sieht. Jürg Altwegg resümiert in der FAZ mehrere aktuelle Debatten und empfiehlt besonders das bei Odile Jacob erschienene Buch "Après la déconstruction" als "Analyse der Ausprägungen von Wokeness in verschiedenen Disziplinen... Die Schriftstellerin Véronique Taquin beschreibt die 'aktuelle Phase' der Dekonstruktion als 'revolutionäre Ideologie'. Der Ideenhistoriker Pierre-André Taguieff rekapituliert ihre Genealogie aus der französischen Rezeption von Heidegger und Nietzsche und ihre Instrumentalisierung als 'Kriegsmaschine gegen die westliche Zivilisation'. Luc Ferry macht die Wurzeln der Wokeness im 'antihumanistischen Denken' der Achtundsechziger aus."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Wokeness, Dekonstruktion, Woke

Politik

In Niger ist die Sache wohl gelaufen. Einen Eingriff der Ecowas (Economic Community of West African States) gegen die Putschisten wird es nicht geben, vermutet Dominic Johnson in der taz. Es bleibt nur noch die Forderung, den gefangen gehaltenen gewählten Ex-Präsidenten Mohamed Bazoum human zu behandeln Auch der Westen kann nicht eingreifen: "Einmarsch in Niger? Tausende französische und US-amerikanische Truppenangehörige sind schon da, auch Spezialkräfte. Welche denkbare Eingreiftruppe könnte leisten, wovon jene aus guten Gründen die Finger lassen? Und sollten die ausländischen Kontingente vor Ort Geiseln des nigrischen Militärs werden und im Falle einer westlichen Befreiungsaktion Russlands Wagner-Kämpfer zur Unterstützung der Junta einrücken, beginnt dann ein dritter Weltkrieg? In Niger? Die Vorstellung ist in der afrikanischen Diskussion nicht so abartig, wie es in Europa scheint."

Nach den Putschen in Niger und zuvor Mali und Burkina Faso steht die viel kritisierte "Françafrique", der französische Einflussraum in Westafrika, nun zur Disposition, vermutet Claudia Bröll in der FAZ. "Die neuen Machthaber im Sahel verfolgen nun ihren eigenen, schwer zu durchschauenden Kurs. Zweifellos stehen Russland, China und andere als neue Verbündete ohne den Ballast einer kolonialen Vergangenheit bereit. Ihnen wird jetzt Tür und Tor zu Frankreichs früherem Hinterhof geöffnet. Zugleich befinden sich Terroristen und radikale Islamisten weiterhin auf dem Vormarsch und versuchen, in die wichtigen, bisher stabilen Küstenländer vorzudringen."
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Gesellschaft

Von wegen Work-Life-Balance. Trotz der notorischen Personalnot überall entscheiden sich immer mehr Arbeitnehmer, doch lieber nicht voll zu arbeiten, ein leicht asoziales Verhalten. Nicht nur weil dem Staat durch die Steuerprogression ein größerer Anteil Steuern entgeht, errechnet Patrick Bernau in der FAS. Auch "für die Sozialabgaben ist das ganz deutlich: Mit dem Lohn sinken auch die Beiträge zu Renten- und Krankenversicherung. In der Rentenversicherung tragen die Betroffenen die Konsequenzen selbst, sie bekommen weniger Rente. In den Kranken- und Pflegeversicherungen aber bekommen Teilzeit-Arbeiter die gleiche Versorgung wie alle anderen, sie zahlen nur weniger dafür."

In der Welt spricht der Oxford-Ökonom Daniel Susskind im Interview mit Martin Bernier über die Auswirkungen von KI auf den Arbeitsmarkt. Besonders die Mittelschichten werden davon betroffen sein, meint er: "Die neuesten Technologien, wie ChatGPT, sind für Büroangestellte sehr viel bedrohlicher als für Arbeiter. Und das widerlegt die schon so lange bestehende Hypothese, nachdem die [kognitiv] schwierigsten Arbeiten auch am schwersten von Maschinen ersetzt werden können." Es könnte aber einen Teil der Welt härter treffen als den anderen. "Routine-Arbeiten, die besonders dazu geeignet sind, automatisiert zu werden, sind tendenziell vor allem in den ärmeren Regionen der Welt zu finden, also in den Entwicklungsländern, während man Nicht-Routine-Jobs hauptsächlich in den besser entwickelten Ländern antrifft. Diese Beobachtung, was die Verteilung der wirtschaftlichen Aktivität in der Welt betrifft, scheint darauf hinzuweisen, dass die Automatisierung wahrscheinlich die Entwicklungsländer härter treffen wird als die Industrieländer." Also, alles wie immer.
Archiv: Gesellschaft