9punkt - Die Debattenrundschau

Lerne, dich zu schminken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2023. In der SZ ruft Norbert Frei auf, die AfD zu verbieten, bevor es zu spät ist. Tja, Putin, die europäischen Gaslager sind zu 90 Prozent voll, aber nicht mit russischem Gas, berichtet politico.eu. HPD berichtet, dass Porsche Jesus aus ästhetischen Gründen entfernte, bevor biblischer Zorn über den Konzern hereinbrach. Der Tagesspiegel fragt: Ist das Wilkomirski-Syndrom endemisch? Die FAZ beleuchtet das Wirken der Bundeszentrale für politische Bildung, deren Budget in zehn Jahren von 39 auf 96 Millionen Euro stieg. Und selbst der NZZ graust vor der Hetero-Hölle Florida.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.08.2023 finden Sie hier

Europa

Die Rechtsradikalen holen sich ihre Anregungen aus der Weimarer Republik, auch die Demokraten sollten sich erinnern, wie die Weimarer Republik ruiniert wurde, schreibt der Historiker Norbert Frei, der in der SZ daran erinnert, wie sich immer mehr bürgerliche Rechte mit dem Gedanken einer Regierungsbeteiligung der NSDAP anfreundeten. Spätestens jetzt offenbare sich auch "der Fehler, den die Karlsruher Richter Anfang 2017 begingen, als sie ein Verbot der NPD mit der Begründung ablehnten, diese sei zwar verfassungsfeindlich, aber zu unbedeutend, um das scharfe Schwert des Parteiverbots auszupacken. Wie könnten die Hüter der Verfassung nun noch argumentieren, käme nach den Wahlen im Herbst im Bundestag ein Verbotsantrag gegen die AfD oder einzelne ihrer Landesverbände zustande? Würde es dann heißen: Die AfD ist zwar ganz oder in Teilen verfassungsfeindlich, aber leider zu bedeutend, um den in demokratischen Wahlen geäußerten politischen Willen von, sagen wir, einem knappen Drittel der Wählerinnen und Wähler zu missachten?"

Ebenfalls in der SZ beobachtet Nils Minkmar fassunglos, dass sich die Linkspartei "seit Jahren den Luxus leistet, im Streit zu verharren": "Abgesehen von inhaltlichen Problemen, die sich aus der fehlenden Distanzierung zur russischen Führung ergeben - denn an Wladimir Putin und seiner schwerreichen Mördertruppe ist nun wirklich gar nichts links - fällt bei der heutigen Linken die kleinliche Negativität ihrer Botschaften und das Schrille ihres Tons auf." Dabei gibt es genug Themen, derer sich die Linke annehmen könnte, so Minkmar: "Die Regulierung des digitalen Kapitalismus, die Arbeitsbedingungen in der Dienstleistungsgesellschaft und die Bekämpfung der Vermögensungleichheit sind weitere Themen, wegen derer weit mehr Menschen als bisher bei einer vernünftigen und funktionierenden linken Partei ihr Kreuz machen würden. Im Moment nehmen sich die europäische Sozialdemokratie, die Grünen und die amerikanischen Demokraten dieser riesigen Themen an, sie können dabei Hilfe gebrauchen. Vor allem bei einer effektiven Bekämpfung der erstarkenden radikalen Rechten könnte eine kluge Linke eine historische Rolle finden."

Zumindest, was Gas angeht, haben die europäischen Sanktionen gewirkt und Putins Lieferstopps rächen sich, berichtet Gabriel Gavin in einer nüchternen Bilanz bei politico.eu. Die europäischen Gaslager sind bereits jetzt zu 90 Prozent gefüllt. "Russisches Gas wurde weitgehend durch Importe aus den USA, Norwegen, Aserbaidschan und anderen Ländern ersetzt, wodurch die Preise seit ihrem Höchststand im Jahr 2022 drastisch gesunken sind. Der niederländische TTF-Gaspreisindex erreichte im August letzten Jahres 320 Euro pro Megawattstunde; in dieser Woche bewegte er sich um 38 Euro. Dennoch sind die Gaskosten immer noch höher als vor dem Krieg, als sie um die 20 Euro pro Megawattstunde schwankten, was für die Haushalte höhere Rechnungen und für die europäische Industrie eine geringere Produktivität bedeutet."
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Politik

Auch China ist von Putins Aufkündigung des Getreideabkommens mit der Ukraine betroffen, denn neben Reis gehört Weizen zu den Grundnahrungsmitteln in China, schreibt der China-Experte Alexander Görlach in der Welt. Hitze im Süden und Fluten im Norden haben der Ernte in China aber heftig zugesetzt, so dass China nun besonders auf Importe angewiesen ist: "Die Getreide-Krise, die der Kreml Xi Jinping eingebrockt hat, kommt zur Unzeit, um es gelinde zu sagen: Xi Jinping hat im Juni 2022 den Kampf gegen die Armut in China für beendet erklärt und den Sieg der Kommunistischen Partei über den Hunger verkündet. In Wahrheit allerdings leben immer noch viele Millionen Menschen von sehr, sehr wenig, was den Chinesen auch auffällt und die Online-Foren füllt. Xi fürchtet um seine Macht und lässt jeden Bericht im Internet, der von der Armut der Chinesen handelt, rigoros zensieren. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Sollte ein Getreideengpass allerdings dazu führen, dass ganze Teile des Landes unterversorgt bleiben oder der Kaufpreis zu stark steigt, dann hätte das eine Situation zur Folge, die den Umständen, die den Anti-Covid-Protesten im November 2022 vorangegangen waren, nicht unähnlich sind."
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Gesellschaft

Experten vermuten, dass in Deutschland tausende Menschen vorgeben, jüdisch zu sein, obwohl sie es nicht sind, schreibt Dennis Pohl im Tagesspiegel. Dieses sogenannte Wilkomorski-Syndrom hat oft mit einer narzisstischen Suche nach Aufmerksamkeit zu tun, erklärt Pohl der Psychiater Claas Hinrich-Lammers. Aber: "Es wird schwierig, wenn sie aus der Position als angebliche Juden heraus Dinge über das jüdische Leben oder Israel behaupten", ergänzt der Rabbiner Walter Rothschild. Die Historikerin Barbara Steiner sieht das ähnlich: "'Dadurch entstehen Zerrbilder, Ideen vom Judentum, die nicht echt sind, sondern Klischees', sagt die Historikerin. 'Und wenn sie einmal in der Welt sind, lassen sie sich nicht mehr so leicht ausräumen.' Vielleicht ist das auch nur Teil eines größeren Problems, wie Steiner sagt. Denn die Bilder, die Menschen mit falscher Identität produzieren, hätten sich seit der Nachkriegszeit mit dem jeweils grassierenden Antisemitismus gewandelt. 'Zu Beginn waren es Überlebensgeschichten, die zu Vergebung führten', sagt sie. 'In letzter Zeit, also mit zunehmenden antisemitischen Tendenzen in unserer Gesellschaft, waren es Leute, die Israel und das Judentum offensiv kritisierten.'"

Tobias Schröers beleuchtet für die FAZ die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung, die ins Gespräch kam, nachdem Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der die bpb untersteht, eine Mittelkürzung von immerhin 20 Millionen Euro vorsieht. Dafür muss man wissen, dass es für die Behörde zuletzt gut lief, so Schröers: "In den vergangenen zehn Jahren ist das Budget kontinuierlich gewachsen, von 39,3 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 96 Millionen in diesem Jahr. Im Jahr 2024 soll das Budget auf 76 Millionen Euro gekürzt werden. Auch die Zahl der Mitarbeiter nahm zu. (...) Im Jahr 2013 zählte die Zentrale 210 Beschäftigte, derzeit gibt es 408 in Bonn, Berlin, Gera und für ein Projekt im baden-württembergischen Friedrichshafen. Dort soll in drei Jahren das in den Siebzigerjahren von Terroristen entführte Lufthansa-Flugzeug Landshut als Lernort dienen." Dafür fördere die bpb zivilgesellschaftliche Arbeit, und sie tritt "ebenso selbst als Veranstalterin von Seminaren und Bildungsreisen auf, macht etliche multimediale Angebote wie den Wahl-O-Mat oder Videoformate und gibt zahlreiche Printprodukte für verschiedenste Zielgruppen heraus. Für Kinder gibt es eine Comicwelt, in der Hasen, Nilpferde und Säue gemeinsam eine Demokratie aufbauen."

Porsche musste aus religiöser Rücksicht ein Werbevideo korrigieren, berichtet Oranus Mahmoodi bei hpd.de. Das Video zeigt eine im Vorüberfahren aufgenommene Silhouette von Lissabon, aber die grauenhaft faschististoide "Christo Rei"-Statue, die nur einen Moment zu sehen war, wurde herausretuschiert. Daraufhin brach ein Shitstorm los: "Der Automobilhersteller aus Stuttgart hat den Clip ohne Jesus zurückgezogen und eine Version mit Christo Rei hochgeladen. Porsche hat sich unter dem YouTube-Video entschuldigt: 'In einer zuvor hochgeladenen Version des 911 S/T Einführungsfilms wurde ein Wahrzeichen entfernt. Dies war ein Fehler, und wir entschuldigen uns für jede Beleidigung.' Porsche habe keine religiösen Gefühle verletzen wollen, teilte der Autobauer in Stuttgart mit. Die Macher des Werbeclips hätten Jesus aus ästhetischen Gründen entfernt." Als wäre das nicht ein Argument!

Floridas "Don't say gay"- Gesetz geht weit über das Entfernen von Kinderbüchern, die Homo- oder Transsexualität oder Rassismus thematisieren, hinaus, schreibt Nadine A. Brügger in der NZZ: Lehrpersonen ist verboten , "Kinder mit anderen Pronomen anzusprechen als denen, die dem Geschlecht auf ihrer Geburtsurkunde entsprechen. Selbst wenn die Kinder und Jugendlichen das ausdrücklich wünschen." Neu zugelassen wurden hingegen Lehrvideos der Prager University, eine Non-Profit-Organisation, die Videos zu politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Themen produziert, so Brügger weiter. Hier wird nicht nur gelehrt, dass Sklaverei "keine große Sache" gewesen sei, auch Geschlechterrollen werden den Kindern vorgegeben: "In einem Beitrag ... für Elf- und Zwölfjährige sagt eine hübsche Frau in die Kamera: 'Ziehe dich schön an, lerne, dich zu schminken, und gewöhne dich an den Gedanken, eine Ehefrau und eine Mutter zu sein. Erlaube es dir, zu Hause zu bleiben und deine Kinder großzuziehen.' (...) 'Aber zeige nicht die Körperteile, mit denen du eine falsche Botschaft über dich aussenden würdest.' (...) Auch für die Buben gibt es ein Lehrstück. Maskulinität sei nötig gewesen, um Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu bezwingen. Heute sei Männlichkeit wichtig, um ein starkes Land zu haben."
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Kulturpolitik

Italiens Regierung hat durch einen Passus in einem Dekret dafür gesorgt, dass die aktuelle Leitung der Filmakademie "Centro sperimentale di Cinematografia" abtreten muss. Es ist nicht der erste Versuch des amtierenden Kulturministers Gennaro Sangiuliano, "die Hegemonie Linker und Liberaler im Kulturleben zu brechen", schreibt Andrea Dernbach, die im Tagesspiegel ein Muster erkennt: "Die Regierung wartet nicht aufs Vertragsende, sondern wirft auch die Führung des CSC zwei Jahre früher raus. Die Eile erschreckt bis ins konservative Lager hinein. Die neuen Mächtigen seien 'besessen von der Idee, die Geschichte umzuschreiben und alle angeblichen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit jetzt auszugleichen', notierte Antonio Polito in einem Kommentar des Corriere della sera. 'Als wäre eine neue 'Erzählung' sogar wichtiger als die Wirtschaft. Und als könne man sich dabei allein auf die verlassen, die in vergangenen Jahren die gleiche Geschichte geteilt haben.'"
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Stichwörter: Meloni, Giorgia, Italien, CSC

Medien

In der SZ resümiert Claudia Tieschky einen Bericht von Business Insider über die Vertuschung der Kosten beim geplanten Digitalen Medienhaus des RBB: Chefredakteur David Biesinger soll tiefer verstrickt sein als angenommen: "Konkret geht es um eine Beschlussvorlage für den Verwaltungsrat vom März 2022, in der Informationen über die wahren Kosten, die der Geschäftsleitung vorgelegen haben soll, verschleiert worden seien. Statt 185 Millionen Euro soll dem Gremium nur eine Teilsumme von 125 Millionen genannt worden sein. (…) Biesinger weist im BI den Vorwurf, er habe Kosten verschleiert, als 'falsch' und 'rufschädigend' zurück, auf SZ-Anfrage äußerte er sich nicht weiter. Der RBB weist die Vorwürfe gegen Biesinger ebenfalls zurück. (…) Trotzdem - da wird es in Sachen Verantwortlichkeit endgültig entwirrungsbedürftig - war Biesinger am Bauprojekt 'an verantwortlicher Stelle' beteiligt, wie der RBB mitteilt - er führte gemeinsam mit der Leiterin der Intendanz den Vorsitz im erwähnten Lenkungsausschuss zum Bau. Er habe sich um redaktionelle Fragen bei der Planung gekümmert, sie um Bau- und Finanzfragen, so der RBB."

Die öffentlich-rechtlichen Sender der ARD produzieren mittlerweise eine Flut von Podcasts, die man über Dienste wie Spotify der Youtube abonnieren kann. Darüber beschweren sich jetzt die selbst eher nicht durch journalistische Relevanz brillierenden Privatradios, berichtet Helmut Hartung in der FAZ. Aber offenbar haben die Podcasts für die ARD-Sender noch ein ganz anderes Potenzial: "Seit einiger Zeit geht die Tochtergesellschaft des durch Krisen gebeutelten RBB, die RBB Media, sowie der Werbevermarkter der ARD, die ARD Media, noch einen Schritt weiter und bestücken Podcasts, die auf nicht öffentlich-rechtlichen Plattformen zu finden sind, mit selbst akquirierten Reklamespots. Der Gewinn fließt in die Kassen der Anstaltstöchter. Die RBB-Podcasts werden zudem von der eigenen Vermarktungstochter produziert. Auf ihrer Onlineseite preist die ARD Media ihre Leistungsfähigkeit: 'Werbung in Podcasts schafft eine ganz neue Möglichkeit von Kommunikation.'"
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