9punkt - Die Debattenrundschau

Angst. Angst. Und Druck. Druck

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2023. Jürgen Roth erzählt in der FAZ, wie ihn kriminell eingesetzte KI zu einer Marionette machte. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Indien demnächst in Bharat umbenennt, meint die Welt: Aber wie weit soll die Dekolonisierung noch gehen, erstreckt sie sich demnächst auch auf das metrische System? In der NZZ schreibt Pascal Bruckner einen Nachruf auf die  Russlandhistorikerin Hélène Carrère d'Encausse, deren Geschichte nebenbei das französische Trauma der Kollaboration illustriert. hpd.de zeigt, wie die neuen amerikanischen Abtreibungsgesetze die Sterblichkeitsrate von Müttern steigen lässt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.09.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

In der FAZ erzählt der Schriftsteller Jürgen Roth in einem bestürzenden Text, wie er von Trickbetrügern, die unter anderem ein "Deep Fake" der Stimme seiner Freundin einsetzten, zur Marionette in einem kriminellen Plan gemacht wurde. Eine freundliche Frau hatte ihn angerufen, sich als Staatsanwältin ausgegeben und behauptet, seine Freundin hätte einen Unfall verursacht, sie hätte eine Frau und ein Kind fast getötet und Fahrerflucht begangen, sie sei völlig verzweifelt, wie ihm die Stimme der Freundin am Telefon demonstrierte. Er solle eine Kaution auftreiben: "Angst. Angst. Und Druck. Druck. Ein terroristischer Druck", war seine Reaktion, so Roth. "Jürgen Roth, der Dackel. Der Gehorsame. Der Furchtgetriebene. Der Automat. Das Kommando übernahm 'Staatsanwältin Krämer', die mich nun durch die halbe Stadt hetzte, von Bankfiliale zu Bankfiliale. Am Ende beliefen sich meine Taxikosten auf hundert Euro, und zwischendurch informierte mich die 'Staatsanwältin Krämer' en passant darüber, die Oberstaatsanwaltschaft habe ihr mitgeteilt, dass die Frau in der Klinik verstorben sei."

Wenig spricht dafür, wieder einen Blasphemieparagrafen einzuführen, wie es Dänemark plant, meint Leon Holly in der taz: "Auch wenn Kunst- und Meinungsfreiheit weiter im Gesetz bestehen bleiben, müssten die Rechtsgüter dann immer mit dem Blasphemieparagrafen abgewogen werden. Die Rechte migrantischer Künstlerinnen stehen hier also ebenso auf dem Spiel - und gar die von Muslimen selbst. Denn es sind Minderheiten, die in der Mehrheitsgesellschaft am meisten von einer breiten Religions- und Meinungsfreiheit profitieren. Der Staat verteidigt diese Freiheiten also entweder für alle - oder schafft sie für alle ab."
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Europa

Für den Historiker Volker Weiss ist das Aiwanger-Flugblatt in der SZ alles andere als eine dumme Jugendsünde, hier brach sich vielmehr "politisches Ressentiment" Bahn, meint er. Vor allem aber erkennt er in Aiwangers Reaktion das Muster der deutschen Nachkriegsgesellschaft: "In der Konfrontation mit der Vergangenheit entschied er sich wie die heute vergessenen Teile der Nachkriegsgesellschaft für Leugnung und Gegenangriff. Indem er die Medienberichte als 'schmutziges Machwerk' bezeichnete, 'von dem sich manche noch distanzieren werden müssen', kehrte Aiwanger die Affäre in Richtung derer um, die sie aufgeworfen hatten. Auch hier wurde ein bewährtes Muster wiederholt: Büßen soll der Überbringer der schlechten Nachricht, nicht der Verursacher. (…) Aiwangers Geschichte ist diese Geschichte Deutschlands, nur verschoben auf die nächsten Generationen."

Außerdem: In der NZZ (unser Resümee) und offenbar auch in der Welt warnte der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert vor einigen Wochen davor, dass Serbien einen Krieg auf dem Balkan vorbereite, um ein Großserbien zu schaffen. Snezana Jankovic, serbische Botschafterin in Deutschland, spricht heute in der Welt von einer "maliziösen Unterstellung". "Trotz, zeitweilige Verstocktheit und ein gefährlicher Hang zu Gewalt sind unvermeidliche Merkmale" der Serben, schreibt indes der serbische Schriftsteller Bora Cosic, der in seinem NZZ-Text allerdings nicht auf die aktuellen Entwicklungen, sondern auf die Geschichte der Zuwanderung in Serbien eingeht: "Serbien ist der wahre Boden dieser Mischungen, verschiedenen Traditionen, entsprungen ähnlichen Kombinationen jeder anderen europäischen Nation. Und Europa ist unvermeidlich in dieses bescheidene Milieu eingedrungen..."
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Ideen

Einem "qualifizierten" Gerücht zufolge will Indiens Regierung unter Narendra Modi den kolonialen Namen Indien ablegen und stattdessen die alte Sanskrit-Bezeichnung Bharat als einzigen offiziellen Landesnamen durchzusetzen, weiß Matthias Heine in der Welt, der im Grunde nichts einzuwenden hat, denn: "Man darf nicht vergessen, dass Hindi keineswegs die Muttersprache aller indischen Staatsbürger ist." Dennoch stellt er die grundsätzliche Frage: "Wie weit will der globale Süden bei solchen onomastischen Dekolonialisierungsprozessen gehen? Denn die gesamte Einteilung der Welt beruht auf westlicher Wissenschaft. Das fängt bei den Himmelsrichtungen an (Süden ist ein kolonialer Begriff) und geht mit den Namen der Kontinente weiter. Afrikaner, Asiaten, Australier und amerikanische Ureinwohner hatten keine Idee davon, dass die Landmassen auf denen sie wohnten 'Kontinente' sein könnten. (...) Jenseits der Ländernamen und Sprachen gibt es aber auch etliche andere westliche Systeme, die bisher noch überall stillschweigend akzeptiert werden. Dazu gehört das metrische System ebenso wie der gregorianische Kalender, die Einteilung des Tages in 24 Stunden mit 60 Minuten, die Längen- und Breitengrade oder die lateinische Schrift, die auch dem Internet und den Programmiersprachen zugrunde liegt."
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Geschichte

Die taz bringt ein mehrseitiges Special zum fünfzigsten Jahrestag des Putsches in Chile (finanziert offenbar von der Rosa-Luxemburg-Stiftung), hier das Editorial von Michael Sontheimer. Beeindruckend ein Gespräch, das Sophia Zessnik mit der forensischen Anthropologin Daniela Leiva führt, die die die von der Diktatur hinterlassenen Massengräber untersucht und ihre Motivation so erklärt: "Im Zuge meines Studiums habe ich zudem an Ausgrabungen von Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie wichtig diese Arbeit ist. Die Kinder der Verschwundenen waren teilweise schon tot oder sehr alt, also haben die Enkel*innen weiter nach ihren Verwandten gesucht. Das Verschwindenlassen von Menschen ist eine gezielte Foltertechnik, die eine Familie derart entwaffnet, dass das hinterlassene Trauma über Generationen hinweg vererbt wird. Gibt es eine verschwundene Person in der Familie, zerbricht die Familienstruktur für immer."

Pascal Bruckner schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die (extrem putinophile) Russland-Historikerin Hélène Carrère d'Encausse, eine schillernde Person, lange Zeit "ewiger Sekretär" (sie wollte nicht gendern!) der Académie française und nebenbei Mutter des Autors Emmanuel Carrère. Der dunkle Fleck in ihrer Familie war ihr Vater Georges Surabischwili, der nach dem Krieg als Kollaborateur hingerichtet wurde. Carrère hat ein Buch darüber geschrieben und über die Zerknirschung seiner Mutter, als die Geschichte wieder hochkam: "Das nationale Trauma in Frankreich ist heute mehr denn je nicht der Kolonialismus, der die Angelegenheit einer Minderheit war, sondern die Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs, die zur Demütigung nach der Niederlage im Juni 1940 noch hinzukam. Es gibt keine Familie, in der diese Zeit nicht zu Zerwürfnissen geführt hat, und die Résistance, obwohl sie nur eine Minderheit darstellt, bleibt der Gründungsmythos der Republik."
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Politik

Die Sterblichkeitsrate von Müttern bei der Geburt steigt in den USA in alarmierendem Ausmaß. Und natürlich gibt es Unterschiede nach Bevölkerungsgruppen, berichtet Adrian Beck bei hpd.de: "Betrachtet man die ethnisch aufgeschlüsselten Sterblichkeitsraten in den Südstaaten und den Appalachen in Zehnjahresintervallen, zeigt sich in den Daten des CDC ein exorbitanter Anstieg der Mortalitätsrate schwarzer Mütter relativ zu deren Alter. Für 15- bis 24-Jährige liegt die Sterblichkeitsrate bei 43,8, für 25- bis 34-Jährige errechnet das Milken Institute bereits eine Rate von 80,3. Schließlich steigt die Mortalitätsrate unter 35- bis 44-Jährigen rapide auf 219 Tode auf 100.000 Lebendgeburten." Bei weißen Frauen sind die Werte nicht mal halb so hoch. "Eine schwarze Frau mittleren Alters hat damit, durchschnittlich gesehen, in bestimmten Regionen des reichsten Landes der Welt eine höhere Chance, durch schwangerschaftsbedingte Komplikationen zu sterben, als jemand in Kambodscha, Namibia oder Myanmar."
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