9punkt - Die Debattenrundschau

Wo ist hier der Sinn für Dringlichkeit?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2023. In der NZZ warnt der Charlie-Hebdo-Anwalt Richard Malka vor einem Blasphemiegesetz, wie es in Dänemark diskutiert wird: Religiöser Respekt hat keine Grenzen. In Spon versucht uns Biograf Walter Isaacson Genie und Marotten Elon Musks zu erklären. Die taz schlägt der Linken vor, es doch mal mit humaner Realpolitik zu probieren. Die Berliner Zeitung erzählt, wie die Rückgabe von Benin-Bronzen zu einem Machtkampf in Nigeria führt. FAZ und FR erinnern an den Militärputsch in Chile vor fünfzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.09.2023 finden Sie hier

Europa

Der Anwalt von Charlie Hebdo, Richard Malka, spricht im NZZ-Interview mit Lucien Scherrer unter anderem über die Koran-Verbrennungen in Dänemark. Grundsätzlich hält er diese Art des Protests nicht für sinnvoll. "Aber es reicht doch, wenn sich Regierungen von solchen Aktionen distanzieren, wir leben ja nicht in einer Diktatur. Ein Gesetz zu schaffen, das die Verbrennung von 'religiösen Objekten' unter Strafe stellt, ist de facto ein Blasphemieverbot. Das ist ein Rückschritt um hundert Jahre. Und vor allem: Was ist das für eine Logik, wenn ich Mohammed beschimpfen, aber den Koran nicht verbrennen darf? Davon abgesehen, was ist ein religiöses Objekt? Die Liste wird lang, und wer wird das entscheiden? Es ist klar, dahinter steht der Druck von Ländern wie Iran, Pakistan und Syrien, die uns Lektionen erteilen über religiösen Respekt. Regierungen, die ihre eigenen Völker massakrieren, die Leute wegen Blasphemie auspeitschen und hinrichten lassen! Aber das Spiel mit der Schuld und der Angst funktioniert: Man weicht zurück, gewinnt ein bisschen Frieden für einige Monate, um dann noch mehr Probleme zu haben. Denn es wird nie aufhören."
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Ideen

Nach seiner  Steve-Jobs-Biografie und Leonardo-Biografie hat sich Walter Isaacson für eine weitere Biografie einen anderen großen Mann gesucht: Elon Musk. Im Interview mit Spon spricht er über sein Buch, das morgen erscheint, die Zeit mit Musk und über die Übernahme von Twitter, die genau in diesen Zeitraum fiel: "Anfang 2022 hatten wir ein Gespräch. Es lief da gerade ziemlich gut für ihn: Tesla hatte im Vorjahr fast eine Million Autos produziert, SpaceX hatte 30 Raketen in Folge erfolgreich gestartet und gelandet. Er sagte: Ich bin genervt, ich halte diese Ruhe nicht aus. Heimlich kaufte er da schon Twitter-Aktien. ... Unseren ersten Besuch in der Twitter-Zentrale in San Francisco, lange vor der Übernahme, fand er furchtbar. Es gab dort Yoga-Studios, Espressobars, die Mitarbeiter konnten Krankheitstage nehmen, wenn es ihnen psychisch nicht gut ging. Er fragte immer wieder: Wo ist hier der Sinn für Dringlichkeit? Er mag es nicht, wenn sich Mitarbeiter psychologisch zu sicher fühlen. Sie sollen Getriebene sein, so wie er." Das Arbeitsklima in Musks Firmen erinnere an das Zeltlager Veldskool, in das Vater Errol Musk seine Söhne schickte, um sie durch Prügel abhärten zu lassen. "Kein Mensch in der Veldskool kümmerte sich um dein psychisches Wohlbefinden", erklärt Isaacson. "Die stärkeren Kinder wurden ermutigt, die schwächeren zu verhauen und ihnen ihr Essen wegzunehmen. Elon hasste dieses Lager, aber es formte seinen Charakter."
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Kulturpolitik

Die Debatte um die Rückgabe von Benin-Bronzen scheint nun zu einem Machtkampf in Nigeria zu führen, schreibt die Journalistin Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. So erklärte Godwin Obaseki, der Gouverneurs des Edo-Bundesstaates, in dem die ehemalige Oba-Königsfamilie lebt, jüngst in Berlin, dass man nicht alle Bronzen zurückfordern würde, während das Dekret des ehemaligen nigerianischen Präsidenten Mohammedu Buhari die Bronzen "ausdrücklich dem Oba überlassen" hatte. Und von dieser rückt auch dessen Nachfolger Bola Tinubu nicht ab. Das wird durch die Obaseki nun in Frage gestellt: "Durch seine in Berlin getätigten Äußerungen wird klar, dass Obaseki es noch nicht für beschlossene Sache hält, dass der Oba von Benin Eigentümer der Bronzen ist, ob sie sich bereits in Nigeria befinden oder noch in europäischen Museen. 'Wir brauchen eine Beziehung des Vertrauens, mit welchem Eigentümer der Objekte auch immer', sagte er. 'Die Diskussion darüber, ob die Regierung oder der Palast zuständig ist, braucht Zeit. Das wird nicht über Nacht gelöst.'"
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Stichwörter: Benin-Bronzen, Nigeria, Benin

Gesellschaft

Das Schulsystem in Deutschland befindet sich in einem desolaten Zustand, konstatiert der Soziologe Aladin El-Mafaalani in der SZ. Ein Aspekt: Dass bis zu 10 Prozent der Schüler am System Schule jährlich scheitern, sei aufgrund der aufklaffenden demografischen Lücke fatal. "Ab genau jetzt wird für jedes Kind, jeden Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein respektabler beruflicher und gesellschaftlicher Platz frei. Ausgerechnet jetzt zeigen aber alle Studien einen allgemeinen und sehr deutlichen Abwärtstrend im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung. Das beunruhigt aber kaum. Was viele offenbar nicht begriffen haben: Jedes einzelne dieser Kinder soll in den kommenden 15 Jahren zwei sogenannte Babyboomer ersetzen - und dann dauerhaft Wirtschaft und Sozialstaat aufrechterhalten."

Bürokratie abbauen, wer würde sich das nicht wünschen? Äh, eigentlich alle, glaubt Ralph Bollmann in der FAS. Es mögen ja alle über Bürokratie jammern, aber wehe, die Vorschriften umfassen mal nicht jeden erdenklichen Einzelfall: "Die Hindernisse, auf die die Politik regelmäßig stößt, haben ihre Wurzeln in zwei sehr deutschen Vorlieben: dem Streben nach Gerechtigkeit für jeden noch so komplizierten Sonderfall und dem Wunsch, möglichst jedes Risiko entweder von vornherein auszuschließen oder zumindest im Nachhinein irgendjemanden verantwortlich zu machen, der eine Vorschrift übertreten hat. ... Deshalb ist es am Ende weniger entscheidend, was Politiker wie die 16 deutschen Ministerpräsidenten zur Effizienzinitiative des Bundeskanzlers sagen. Viel wichtiger ist, ob die Bevölkerung als Ganzes auch mal eine kleine Ungerechtigkeit hinnimmt oder ein winziges Risiko toleriert."

Statt pausenlos zu moralisieren und damit den Rechten in die Hände zu arbeiten, könnte sich die Linke doch auch mal in etwas Bescheidenheit üben und einer "humanen Realpolitik" zuwenden, schlägt Wolfgang Müller in der taz vor. "Wird dieser Weg nicht fast immer in einer lauen 'Mitte' münden, kaum eine Handbreit vom Mainstream entfernt? Mag sein. Genau damit aber kommt die eigentliche Aufgabe in den Blick. Denn diese Mitte ist, historisch gesehen, ein bewegliches Ding. Wer vor zweihundert Jahren das forderte, was heute demokratischer Standard ist, galt als gefährlicher Extremist. Der Inhalt dessen, was konsensfähig und durchsetzungsfähig ist, die 'Mitte', lässt sich also verschieben." Voraussetzung dafür ist jedoch mühsame Überzeugungsarbeit. "Alles andere, so progressiv es sich gebärden mag, ist auf verdeckte Weise autoritär."
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Geschichte

In der FAZ erinnert Benjamin Loy an den Militärputsch in Chile vor fünfzig Jahren. Augusto Pinochet wollte damals nicht nur die Politik, sondern die ganze Gesellschaft mitsamt der Kultur nach rechts rücken, erzählt er mit Verweis auf die Veröffentlichung bislang unbekannter Dokumente durch den Investigativjournalisten Juan Cristóbal Peña. Schon ein halbes Jahr nach der Machtübernahme "lief die Umsetzung dessen, was der Ideenhistoriker Luis Errázuriz einmal als den 'ästhetisch-politischen Putsch' in Chile bezeichnet hat, bereits auf Hochtouren. Neben öffentlichen Bücherverbrennungen gleich zu Beginn des Terrors zerschlugen die Militärs als Erstes den unter Allende zum wichtigsten Kultur- und Propagandainstrument ausgebauten Staatsverlag Quimantú - und setzten ihrerseits im Kampf um die Köpfe des Volkes auf eine neue, stramm nationalistische Kulturpolitik... Die Militärs und der mit Gramsci vertraute Pinochet im Besonderen hatten früh die elementare Bedeutung jener Form von Metapolitik verstanden, die Allende von links über Jahre so erfolgreich betrieben hatte."

Arno Widmann erinnert in der FR daran, welche ungeheure symbolische Bedeutung der Wahlsieg Allendes und dann der Putsch gegen ihn für die westliche Linke hatte: "Erstmals hatte es ein sozialistischer Kandidat mit einem sozialistischen Programm in einem lateinamerikanischen Land geschafft, Wahlen zu gewinnen. Gegen massiven inneren und äußeren Widerstand. Das war etwas ganz anderes als Fidel Castros Putsch von 1959 auf Kuba. Chile zeigte: Es gab einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus. Die Macht musste nicht aus den Gewehrläufen kommen."

In Chile hat auch fünfzig Jahre danach keine Aufarbeitung dieser Ereignisse stattgefunden, meint Soziologe Jorge Saavedra im FR-Interview mit Klaus Ehringfeld. "Was wir heute sehen, ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen unheilvollen Politik des Verdrängens des Gedenkens. Die Mitte-links-Regierungen nach der Diktatur haben die Erinnerungen an den Putsch ausgelöscht. Die Menschen, die heute ultrarechts wählen, tun dies nicht unter Bezugnahme auf die Diktatur; das ist für die meisten von ihnen keine Referenz mehr. Der Aufschwung der Ultrarechten erklärt sich als lokales und globales Phänomen. Das Lokale ist der Anstieg der Kriminalität, die Präsenz der Drogenkartelle in einem Land, wo beides weitgehend unbekannt war. Und für das Globale genügt der Blick nach Argentinien, Brasilien oder auch in die USA, wo ultrarechte Politiker und Kandidaten Erfolg haben."

Außerdem: In der FAZ erinnert Birgit Aschmann an den Militärputsch Miguel Primo de Riveras in Spanien vor 100 Jahren.
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