9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht die erwünschten Effekte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2023. Die taz fragt: Warum sind wir über Giorgia Meloni erschrocken, die Italiener aber nicht? In der FAZ erinnert Thomas von Steinaecker  an die goldene Zeit des Radios und stellt uns Zwerge dann auf die Schultern der Riesen: Bald gibt's nur noch eine Kritik pro Buch. In der Welt erklärt Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen, warum er nicht mit der AfD redet. Die Hagia Sophia ist wieder ein Ort für die Gläubigen, hält diesen aber kaum stand, berichtet der Tagesspiegel. Qantara beschreibt die üble Menschenrechtslage in Ägypten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2023 finden Sie hier

Europa

Dass Giorgia Meloni im Grunde in Italien recht konfliktlos an die Macht gekommen ist und nun seit einem Jahr auch ohne große Konflikte regiert, liegt daran, dass in Italien die "Brandmauer" zu den Rechten schon durch Silvio Berlusconi eingerissen worden war, kommentiert Michael Braun in der taz. Berlusconi hatte bereits die Alleanza Nazionale salonfähig gemacht: "Schon die Tatsache, dass Berlusconi jene postfaschistische Truppe in seine Koalition aufnahm, stellte den ersten großen Tabubruch dar. Bis 1994 war der Antifaschismus so etwas wie Italiens Staatsräson gewesen. Berlusconi selbst übte sich fleißig darin, den Antifaschismus zu schleifen. Am 25. April zum Beispiel, dem Tag der Befreiung von Nazibesetzern und Faschisten, fehlte er regelmäßig auf den staatlichen Gedenkfeiern, war er leider 'unabkömmlich' wegen 'privater Termine'. Dass der Duce viele seiner politischen Gegner auf einsame Inseln in die Verbannung schickte, nötigte ihm bloß ein Schulterzucken ab. Seinen Feinden habe Mussolini da doch bloß eine Sommerfrische spendiert, erklärte er und fügte faktenwidrig hinzu, Mussolini habe 'niemals jemanden umgebracht'."

Gestern warnte der Soziologe Oliver Nachtwey vor einer "Liste Wagenknecht", die er als eine Art Kalb mit zwei Köpfen beschrieb, denn eine solche Partei wäre "gleichzeitig links und rechts" (unser Resümee). Aber Populismus ist immer sowohl links als auch rechts, schreibt Josef Joffe heute in der Welt: "Sind Linke und AfD rinks oder lechts? Beide propagieren einen verquasten Nationalismus, der Putin-freundlich und Amerika-avers ist. Die AfD will raus aus der EU, die Linke aus der Nato. In der Innenpolitik verwischen ebenfalls die Grenzen. Das Duo hängt am umverteilenden Regulierungsstaat. Beide goutieren den freien Markt nicht - ein liberales Urprinzip. Die AfD schießt gegen Einwanderung; unterschwellig grollt auch die Linke, weil ihre Klientel Job- und Fürsorgeverlust fürchtet."
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Geschichte

In Zusammenarbeit mit lokalen Ahnenforschern, die offenbar genetische Proben von Familien in Tansania organisierten, hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Herkunft bestimmter Gebeine nachweisen können, die im Fundus ihrer Museen lagerten, erzählt Simone Schlindwein in der taz, die mit dem Ahnenforscher und Historiker Valence Silayo auch gesprochen hat: "Bei einem Schädel handelt es sich offenbar um den Nachfahren von Chief Mangi Sina, der ein mächtiges Königreich in Kibosho regierte, heute ein Bezirk im ländlichen Distrikt Moshi in der Kilimanjaro-Region. 'Es war das tapferste Königreich im ganzen von den deutschen Truppen besetzten Gebiet', so Silayo. Nach lang anhaltenden Auseinandersetzungen besiegten die Krieger von Mangi Sina die deutschen Schutztruppen 1891. Dafür rächten sich die Deutschen in einem weiteren Feldzug 1893. Mangi Sina musste sich ergeben, seine aus Stein gebaute Festung wurde zerstört, die Deutschen verhafteten seine Krieger und zerstörten damit seine Armee. Er starb 1897. Ihm folgte als Thronerbe sein Sohn Molelia, 'ein mächtiger General und Krieger', berichtet Silayo. Molelia griff die deutschen Truppen erneut an, wurde allerdings gestellt. "Dafür wurde er von den Deutschen am 2. März 1900 gehängt", weiß der Historiker. Seinen abgetrennten Kopf verschickten die Deutschen nach Berlin. Dort liegt er bis heute." Hier die Presseerklärung der SPK zumThema. Weitere 500 Schädel sollen untersucht werden.
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Medien

Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erinnert im Aufmacher des FAZ-Feuilletons an die Zeiten, als das Radio noch Leitmedium war und unter Redakteuren wie Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger die "Zumutung höchster Ansprüche" betrieb. Heute sieht's anders aus: Die Kulturprogramme sollen gleichgeschaltet werden, um den notleidenden Acht-Milliarden-Euro-Apparat zu verschlanken: "Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Nicht nur bei den Kulturprogrammen selbst. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten 'Regal' bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Ein Buch, eine Meinung. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Wir wollen überwältigt werden. Ich habe da ganz viel gespürt!"

Frederik Schindler und  Christian Meier unterhalten sich für die Welt mit Philipp Peyman Engel, der seit kurzem Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen ist und mehr Eingriffe in aktuelle Debatten verspricht. Mit der AfD aber will er nicht reden: "Wir haben dazu vor einiger Zeit einen Kommentar veröffentlicht. Eigentlich sollten wir als Journalisten mit jedem sprechen, denn Sprechen bedeutet ja nicht, sich gemein zu machen. In dem Fall haben wir aber beschlossen, ein bewusstes Zeichen zu setzen: Wir sprechen nicht mit der AfD, wir sprechen nicht mit Politikern, die sich lustig über die Schoa machen und sagen, der Holocaust sei bloß ein Vogelschiss in der Geschichte Deutschlands gewesen. Was wollen wir da noch demaskieren, kenntlich machen?"
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Kulturpolitik

Die Hagia Sophia hält seit ihrer Umwidmung zur Moschee durch Tayyip Erdogan vor drei Jahren den Besuchermassen kaum stand, das Gebäude ist in Gefahr, berichtet Susanne Güsten im Tagesspiegel und verweist auf Warnungen des Historikers Ilber Ortayli. Drei Millionen Menschen gehen nun jährlich zum Beten in das Gebäude, hinzukommen die Touristen, die freien Zugang haben. Durch die Umwidmung "ging das byzantinische Bauwerk aus der Obhut des Kulturministeriums in die Verantwortung des staatlichen Religionsamtes der Türkei über; der Wissenschaftliche Beirat wurde aufgelöst. Die UN-Kulturorganisation Unesco, auf deren Liste des Weltkulturerbes die Hagia Sophia geführt wird, meldete seither Bedenken über den Denkmalschutz an." In Gefahr ist auch die Hagia Irene: "Die im Jahr 337 errichtete Vorläuferin der Hagia Sophia, in der im Jahr 381 das erste Ökumenische Konzil von Konstantinopel tagte, wird von den türkischen Behörden seit einigen Jahren für Konzerte und Veranstaltungen vermietet." Soviel zum Respekt zwischen Religionen.
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Gesellschaft

Am Budget der Bundeszentrale für politische Bildung kann es nicht liegen, dass die AfD in letzter Zeit so angewachsen ist: Dessen Entwicklung lief eher parallel und stieg von 37,8 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 96 Millionen Euro aktuell. Nun soll es um 20 Millionen Euro gekürzt werden, ein Plan, der auf viel Kritik stößt, berichtet Johan Schloemann in der SZ, der allerdings auch den etwas skeptischen Zeithistoriker Tim Schanetzky zitiert. "Klar ist nur: 'Da ist viel Geld im System.' So wertvoll viele Initiativen zur Demokratieförderung im Einzelnen sein mögen - leider zeigt sich, dass insgesamt trotz stark gewachsener Aufwendungen 'nicht die erwünschten Effekte zu beobachten sind', stellt Schanetzky nüchtern fest. Das heißt: Parallel zu immer mehr Ausgaben für die Politikerziehung in den vergangenen zehn Jahren gibt es auch immer mehr Politikskepsis, gibt es immer mehr Populismus."
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Politik

Kein Land ist tiefer vom Regen in die Traufe gefallen als Ägypten. Nach dem kurzen Aufbruch des Arabischen Frühlings kamen die Muslimbrüder und die Salafisten an die Macht und wurden dann vom Regime Abdel Fattah al-Sisis abgelöst, der sich als noch schlimmer erwies und nicht nur seine Vorgänger, sondern die ganze Demokratiebewegung gleich mit einsperrte. Nun werden verstärkt Angehörige von Aktivisten unter Druck gesetzt, berichtet Jennifer Holleis bei qantara.de, die unter anderem mit Stephan Roll von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) gesprochen hat: "Das Timing sei entscheidend, so Roll. Das Regime versuche, insbesondere im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Anfang 2024 eine günstige Ausgangslage für eine 'Wiederwahl' von Präsident al-Sisi zu schaffen. 'Protest oder gar Gegenkampagnen sollen im Keim erstickt werden,' so Roll."
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Stichwörter: Ägypten, Muslimbrüder