9punkt - Die Debattenrundschau

Vor allem aber hatte jedes Werk einen Schöpfer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2023. Das Herannahen der AfD erinnert die Lyrikerin Daniela Danz in der FAZ an den Meteor aus Lars von Triers "Melancholia": Ist die Katastrophe unausweichlich? Wie unabhängig ist Kulturjournalismus überhaupt noch? Der Musikjournalist Axel Brüggemann lotet die Krise am Beispiel der klassischen Musik aus - der Perlentaucher blättert ein Kapitel vor. Es gibt Cancel Culture nicht nur, sie ist sogar überall, sagt Julian Nida-Rümelin im Tagesspiegel. Erst wollen alle den Tod des Autors, dann tritt er durch KI wirklich ein, und es ist auch wieder nicht recht, konstatiert die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.09.2023 finden Sie hier

Europa

Mit gelindem Entsetzen wird allenthalben die Ankündigung Polens wahrgenommen, Waffenlieferungen an die Ukraine auszusetzen. Der Publizist Pierre Haski kommentiert in seiner France-Inter-Kolumne: "Die Folgen dieser Krise werden nicht unmittelbar sein, da Polen klargestellt hat, dass es seine bereits eingegangenen Verpflichtungen einhalten wird und weiterhin das Transitland für Waffenlieferungen an die Ukraine sein wird. Politisch gesehen ist der Schaden jedoch groß. Die Haltung Polens könnte Nachahmer finden. Man wird das Ergebnis der Wahlen am Sonntag in der Slowakei beobachten müssen, wo eine populistische, pro-russische Partei in der Lage ist, den Sieg davonzutragen." Immerhin hat die polnische Regierung ihre katastrophalen Äußerungen inzwischen abgeschwächt, berichtet etwa Gabriele Lesser in der taz.

Die Lyrikerin Daniela Danz setzt in der FAZ die Serie mit Schriftstellertexten zur Frage "Demokratie in Gefahr?" fort. Der Aufstieg der AfD erinnert sie an Lars von Triers Film "Melancholia", der das unausweichliche Herannahen eines Meteors schildert. Die AfD ist zwar keine Naturkastrophe, dennoch: "Je stärker diese Schwerkraft wirkt, desto weiter sind wir von guten demokratischen Verhältnissen entfernt. Parteien unterstützen Kandidaten, die sie eigentlich nicht wollen. Politiker übernehmen Narrative, die falsch und menschenverachtend sind, statt der gesellschaftlichen Drift entgegenzutreten. Und die Menschen wenden sich ab von einem schrillen Politikbetrieb, der sich nicht mit den drängenden Aufgaben der Zeit befasst und sie oft nicht einmal mehr formuliert."

Die Region Bergkarabach mit ihrer armenischen Bevölkerung ist von Aserbaidschan endgültig geschluckt, und das von Putin fallengelassene Armenien kann nur zuschauen, konstatiert Silke Bigalke im Leitartikel der SZ: "Armenien hält sich militärisch bisher zurück, um einen größeren Krieg zu vermeiden. Premierminister Nikol Paschinjan konnte über Monate nur zusehen, wie die Menschen in der abgeschnittenen Region hungerten und bombardiert wurden. Für Paschinjan ist der Verlust der Region nach drei Jahrzehnten eine Niederlage, die seine Machtlosigkeit zeigt. Doch Aserbaidschan ist auch Armenien militärisch weit überlegen. Er wollte keinen Angriff auf armenisches Staatsgebiet riskieren."

Der Essay von Navid Kermani zum Ukrainekrieg aus der Zeit (unser Resümee) steht jetzt online.
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Ideen

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Es häufen sich die Interventionen sich als links lesender Autoren gegen "woke" Ideologie, nach Bernd Stegemann ("Identitätspolitik") und Susan Neiman ("Links ist nicht woke") nun also Julian Nida-Rümelin ("'Cancel Culture' - Ende der Aufklärung?"). Ja, es gibt Cancel Culture, sagt er im Gespräch mit Inga Barthels und Moritz Honert vom Tagesspiegel, und zwar seit den alten Ägyptern und auch heute, und das überall: "Cancel Culture gibt es von links wie von rechts, auch in der Mitte, wobei die erfolgreichste Form im Augenblick in den USA von rechts kommt. An Universitäten passiert es vielleicht, dass eine konservative Erziehungsautorin wie die 'Tigermom' aufgrund von Protesten nicht sprechen kann, aber in Florida haben wir mit DeSantis einen Gouverneur, der Präsident werden will, und dessen Ziel es ist, Florida zur 'wokefreien Zone' zu machen. Dafür werden Schulbibliotheken und Lehrpläne von allem befreit, was er als unsittlich empfindet."
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Urheberrecht

Der von Künstlern und Intellektuellen lange herbeigesehnte "Tod des Autors" könnte durch die Entwicklung Künstlicher Intelligenz nun tatsächlich eintreten, und dann ist es auch wieder nicht recht, wie die Anwältin Anja Brauneck in der SZ schreibt: "Bisher gab es gewisse Kriterien, die anzuwenden waren, um Urheberrechte und deren Inhaber festzustellen. Ausgangspunkt war zum Beispiel, dass künstlerische Werke Ausdruck eines 'künstlerischen/kreativen Gestaltungsprozesses' sind und eine erkennbare 'künstlerische Höhe' haben. Vor allem aber hatte jedes Werk einen Schöpfer. Nun könnte es sein, dass solche Kriterien in der zeitgenössischen Kunst obsolet werden."
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Medien

In der BBC gab es den berühmten und besonders abstoßenden Fall des Moderators Jimmy Savile, dessen sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen jahrelang von dem Sender gedeckt wurde. Nun steht auch Russell Brand, der eine Zeitlang als ein linker Comedian galt, unter Verdacht, Minderjährige belästigt zu haben, und auch hier war die Hierarchie der BBC, wo er ein Starmoderator war, eingeweiht, berichtet Daniel Zylbersztajn in der taz: Das schadete weder seiner Karriere in der BBC, noch später in Hollywood. Auch bei Politikern war er beliebt, bevor er politisch abdriftete. "2005 ließ sich der Labour-Führer Ed Milliband von Brand interviewen, um so seine Chancen bei den bevorstehenden Nationalwahlen zu boostern. Auch Jeremy Corbyn profitierte vom Zuspruch des Comedians. Brand bestreitet, je eine Frau genötigt oder vergewaltigt zu haben. Beim Sex hätte es stets gegenseitige Einwilligung gegeben, verkündete er in einer Videobotschaft an seine Fans. Auf Youtube, Rumble, Tiktok und Instagram hat er in seiner neusten Inkarnation als Gesundheitsguru Millionen von Followern. Immer wieder erwähnt er dort auch Verschwörungstheorien etwa zu den Attacken in New York am 9. 11. 2001, zum Ukrainekrieg oder zu Covidimpfstoffen."

Buch in der Debatte

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Wie unabhängig ist Kulturjournalismus überhaupt noch? Der Musikjournalist Axel Brüggemann durchstreift in seinem kommenden Buch "Die Zwei-Klassik-Gesellschaft" die verschiedenen Sektoren der Musik- und Medienbranche, die allesamt in einem historischen Umbruch sind - wenn nicht schlimmeres. Der Perlentaucher bringt ein "Vorgeblättert". Kulturjournalismus wird zunehmend geschleift. Besonders das vornehmste Genre, die Kritik, hat an Terrain verloren. Und Journalisten können sich nicht immer mehr frei äußern: "Es ist ein journalistisches Tabuthema, dass kaum ein freier Musik- oder Theaterkritiker allein von seinen Kritiken leben kann... Kompensiert werden die finanziellen Ausfälle bei den klammen Zeitungen oft von jenen Institutionen, über die Journalistinnen und Journalisten eigentlich möglichst unabhängig berichten sollen: Theater oder Orchester geben Programmhefttexte bei 'Freien' in Auftrag, Plattenfirmen bestellen Booklet-Texte. Mal wird ein Journalist für eine 'Einführung' gebucht, dann werden die Reisekosten vom Veranstalter übernommen, damit überhaupt jemand kommt und berichtet."
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