9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Straßenmacht-Erinnerung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2023. In der FAZ erklärt die - wenn man so sagen kann - russische Autorin Irina Rastorgujewa am Beispiel ihrer Heimat Sachalin, was russische Identität ist. Antirassismus kann zu Rassismus führen, warnt Yascha Mounk in seinem Blog. Die Popularität der AfD in den Neuen Ländern hat auch mit schlecht verarbeiteten Erfahrungen des demokratischen Aufbruchs 1989 zu tun, meint die Historikerin Christina Morina im Tagesspiegel. Journalisten sind nicht besonders links und sollten darauf achten, dieses Narrativ nicht selbst in den Medien zu verbreiten, meint der Medienwissenschaflter Thomas Hanitzsch in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.10.2023 finden Sie hier

Europa

Wenn der Westen mit der üblichen Verzögerung eines durch Putins Ukraine-Krieg lernte, dann, dass Russland nicht einfach ein Land ist, sondern ein Sammelsurium von Identitäten und Völkerschaften, das nur durch Zwang als ein Zustand interner Kolonialisierung aufrechterhalten werden kann. Die Autorin Irina Rastorgujewa, die aus Sachalin stammt, macht staunenden deutschen Lesern in der FAZ klar, wie unentwirrbar russische Identität ist. Sie greift dafür zunächst auf eine Äußerung des Hobbyhistorikers Putin zurück: "Bereits 2012 schrieb Wladimir Putin in seinem Programmartikel 'Russland: die nationale Frage': 'Das russische Volk ist das staatsbildende Volk - durch die Tatsache der Existenz Russlands'. Das heißt, nicht die Russen haben den Staat gebildet, sondern der Staat hat die Russen geschaffen." Wie es mit den Identitäten steht, kann Rastorgujewa dann am Beispiel des fernen Osten Russlands erklären, aus dem sie kommt: "Wie soll man damit umgehen, dass die heutigen russischen Bewohner Sibiriens und des Fernen Ostens fast alle Nachkommen von Einwanderern und Sträflingen sind? Im 19.  Jahrhundert wurden in Sibirien eine Million Menschen als Sträflinge ausgesetzt. Die ersten Bauern, die sich in Primorje am Pazifik ansiedelten, stammten aus den ukrainischen Gebieten Tschernigow und Poltawa. Während der Umsiedlungskampagne in den Zwanzigerjahren wurden Zehntausende Juden, Ukrainer, Polen, Deutsche, Belorussen und andere Völker nach Sibirien und in den Fernen Osten geschickt. Fast jeder Zweite hatte eine Großmutter, die Wiegenlieder auf Ukrainisch sang."

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Der britische Journalist John Kampfner lebt in Berlin und London und hat ein Buch über Berlin geschrieben, das zugleich eine Liebeserklärung und eine Kritik ist - "In Search of Berlin - The Story of a Reinvented City". Was er im Gespräch mit Guido Mingels im Spiegel sagt, klingt nicht immer ganz neu. Vor allem mangele es Berlin nach wie vor an der Wirtschaftskraft: "Das Arm-aber-sexy-Berlin produziert zu wenig Menschen, die es sich leisten können, Weltpreise für Miete und Wohnungskauf auszugeben. Die Preise hier mögen zwar stark gestiegen sein, aber sie sind immer noch wesentlich niedriger als in London oder Paris. Dennoch verdient man in Berlin nicht genug, um das zu bezahlen."
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Geschichte

Buch in der Debatte

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Mehrfach wurde in den letzten Tagen die Historikerin Christina Morina interviewt, die behauptet, es hätte auch in der DDR Demokratie-Traditionen gegeben (unsere Resümees). Im Tagesspiegel-Interview mit Hans Monath spricht sie aus aktuellem Anlass über die Einheit. Und entwickelt eine These, die den Aufstieg der AfD in den neuen Bundesländern erklären soll: Viele hätten in der DDR "die Erfahrung gemacht, dass individuelles demokratisches Engagement sehr wirksam sein und sogar eine Diktatur stürzen kann. Andere halten die Demokratie der Straße für eine veritable Alternative zu den mühsamen und in ihren Augen nicht zufriedenstellenden Verfahren der demokratischen Konfliktaushandlung auf parlamentarischem Wege. Die AfD setzt diese Straßenmacht-Erinnerung sehr bewusst ein, indem sie regionale Protestbewegungen einbindet, Stichwort Pegida und deren Ableger. Allerdings kann diese Protestform politisch sehr destruktiv wirken, denn sie erzeugt zwar mediale Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Mobilisation, ist aber letztlich nicht auf Kompromiss, also repräsentativdemokratische Konfliktlösung, ausgerichtet."
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Stichwörter: Morina, Christina, DDR, AfD

Medien

Sind Journalisten heutzutage zu links? "Es gibt ein paar kleinere Hinweise darauf, dass die politische Einstellung auf der persönlichen Ebene Inhalte beeinflussen kann, aber insgesamt, im Aggregat, finden sich keine starken Einflüsse", meint der LMU-Professor Thomas Hanitzsch im Interview mit Aurelie von Blazekovic in der SZ. Zu ihm kamen in den letzten Jahren Journalisten und fragten, wie sie das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen könnten. "Dem musste man entgegenhalten: Das Vertrauen ist euch nie verloren gegangen! Ihr sitzt einem Narrativ auf, das objektiv falsch ist. Das sich auch deswegen hält, weil es der journalistischen Logik entspricht. Es hat wenig Nachrichtenwert zu sagen, im Journalismus ist alles so wie früher. Zu sagen, der Journalismus geht den Bach runter, hat größeren Nachrichtenwert. Insofern haben sich Journalistinnen und Journalisten zum Teil ihr eigenes Grab geschaufelt."
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Politik

Die Republikaner haben im Gezerre um den amerikanischen Haushalt die Hilfe der USA für die Ukraine in Frage gestellt. Für Dominic Johnson in der taz ist das ein Menetekel: Wenn Trump wiedergewählt würde, würden sich die USA aus ihrer Führungsrolle zurückziehen. "Ob dann noch viel Hilfe für die Ukraine übrig bliebe, lässt sich bezweifeln. Führungsstärke zugunsten der Menschlichkeit ist in Europa Mangelware. Rechtsextremisten, die Putin als Gesinnungsgenossen feiern, sind europaweit im Aufschwung. Ihre Rhetorik macht es in vielen europäischen Ländern salonfähig, Bombenopfer in der Ukraine oder Fluchtopfer im Mittelmeer vom eigenen Wahrnehmungshorizont fernzuhalten. Mitgefühl mit diesen Mitmenschen ist für sie Landesverrat, und dieser Vorwurf breitet sich allmählich in die Mitte der Gesellschaft aus."
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Stichwörter: Ukraine

Ideen

Screenshot von der Homepage der Organisation "Embrace Race"



In Amerika zeigt sich, wie die extreme Rechte mit einer Art faschistischen Cancel Culture auf das reagiert, was sie als "woke" definiert und damit Erfolge bei der Wählerschaft erzielt. Aber es gibt auch das, was Yascha Mounk, Autor des Buchs "The Identity Trap" in seinem Blog Persuasion im Gespräch mit Coleman Hughes als Praxis amerikanischer Privatschulen beschreibt: "In vielen privaten Eliteschulen in den Vereinigten Staaten werden die Kinder in der ersten oder zweiten Klasse von Lehrern nach Hautfarbe eingeteilt: Wer schwarz ist, geht dorthin, wer Latino ist, geht dorthin und so weiter. Und sie versuchen diesen Menschen beizubringen, wie es der Name der einflussreichen Organisation 'Embrace Race' ausdrückt, 'ihre Rasse für sich anzunehmen': sich selbst als durch Rasse definiertes Wesen zu betrachten, sich (beispielsweise die weißen Kinder) auf ihre weiße Identität zu besinnen und sich ihr Weißsein zu eigen zu machen. Das Ziel ist es, eine tolerantere Gesellschaft zu schaffen. Meiner Meinung nach führt das eher zu einem Nullsummenkonflikt im Herzen unserer Gesellschaft - und dazu, dass diese weißen Jugendlichen eher rassistisch oder zu Anhängern der 'White Supremacy' als antirassistisch werden."

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Gesellschaftlicher Narzissmus, also die in der Gesellschaft vom Individuum erwartete Optimierung seiner selbst, ist die derzeit vorherrschende Ideologie, meint die Philosophin Isolde Charim im Welt-Interview mit Anna Schneider. "Heute gilt keine allgemein verbindliche Moral. Moral in einer Gesellschaft heißt, dass wir ein moralisches Gesetz haben, das für alle richtig ist. Was wir heute haben, ist etwas, das ich als Moral in Anführungszeichen bezeichnen würde. Den narzisstischen Ersatz für eine allgemein verbindliche Moral. Wir haben eine Vielzahl an individualisierten narzisstischen Vorgaben, was das Gute sein soll und was das Gute ist."
Archiv: Ideen