9punkt - Die Debattenrundschau

Ein wirkliches Drama

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2023. In einem offenen Brief in der New York Review of Books moniert eine Gruppe von Antisemitismusforschern, darunter Michael Rothberg, Omer Bartov und Stefanie Schüler-Springorum, eine politische Instrumentalisierung des Holocaust. Fernab der Öffentlichkeit haben derweil deutsche Kulturschaffende kritische Briefe an die Fraktionen geschrieben, die unter anderem den BDS-Beschluss von 2019 verschärfen wollen, berichtet ZeitOnline. In der NZZ beleuchtet Pascal Bruckner die Gemengelage von linkem und rechtem Antisemitismus in Frankreich. Der Waffenstillstand spiele der Hamas in die Hände, befürchtet die SZ. "Wir alle stehen um Russlands Leichnam herum", sagt Viktor Jerofejew im Standard.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.11.2023 finden Sie hier

Politik

In der New York Review of Books hat eine Gruppe von Holocaust- und Antisemitismusforschern, darunter Michael Rothberg, Omer Bartov und Stefanie Schüler-Springorum, einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie vor einer politischen Instrumentalisierung des Holocaust warnen, berichtet Christoph Gunkel bei SpiegelOnline: "'Israels Führung und andere benutzen das Bild des Holocaust, um Israels kollektive Bestrafung des Gazastreifens als Kampf für die Zivilisation gegen die Barbarei darzustellen, und fördern damit rassistische Narrative über die Palästinenser.' (…) Die Wissenschaftler fordern zudem mehr 'Klarheit über den Antisemitismus', um ihn richtig erkennen und bekämpfen zu können: 'Die Behauptung, dass 'die Hamas die neuen Nazis sind', während die Palästinenser kollektiv für die Aktionen der Hamas verantwortlich gemacht werden, unterstellt denjenigen, die die Rechte der Palästinenser verteidigen, verhärtete, antisemitische Motive.' Wer sich auf den Holocaust berufe, um Demonstranten abzuwerten, die ein 'freies Palästina' fordern, fördere am Ende die 'Verquickung von Antisemitismus mit der Kritik an Israel'."

In der Welt attestiert Bari Weiss den USA nach den teils antisemitischen Reaktionen auf den Terror der Hamas einen "existenzbedrohenden, moralischen und spirituellen Verfall" und fordert in Folge, dem Rechtsstaat wieder "Geltung" zu verschaffen: "Die Welle 'progressiver Staatsanwälte', die gewählt wurden, hat sich in Amerikas Städten für Recht und Ordnung als äußerst schrecklich erwiesen. Es hat sich herausgestellt, dass die Entscheidung, dem Gesetz keine Geltung zu verschaffen, die Kriminalität nicht verringert, sondern sie gefördert hat. Es ist kein Zufall, dass viele der Aktivisten, die sich für die 'Abschaffung der Polizei' eingesetzt haben, jetzt auch öffentlich gegen Juden hetzen. Jeder braucht den gleichen Schutz, nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch vor den Kräften des Chaos und der Gewalt."

Natürlich kann man aus humanitärer Sicht nichts gegen den Waffenstillstand einwenden, schreibt Tomas Avenarius in der SZ. Was die militärische Strategie betrifft, spielt er allerdings der Hamas in die Hände: "Militärisch kann Israel derzeit kein Interesse an einem Ende der Kämpfe haben. Die Hamas-Kämpfer werden sich in den kommenden Tagen neu gruppieren. Ein Teil wird in den weniger umkämpften Süden ziehen. Sie werden Hinterhalte legen für die israelischen Soldaten, die demnächst vorrücken sollen. Die Führer der Hamas können sich den Menschen in Gaza als Strategen präsentieren: Sie lassen nur einen Teil der Geiseln frei, können weitere Freilassungen an neue Bedingungen koppeln und sorgen dafür, dass mehr Hilfsgüter über die ägyptische Grenze kommen. Israels Kriegsführung droht so seine Wucht zu verlieren: Hamas macht gerade Punkte." Der Terror der Hamas geht trotz des Abkommens über die Auslieferung der Geiseln weiter, konstatiert auch Stefan Kornelius. Aber "immerhin zeigt das Abkommen, dass jenseits der Waffen auch die Kriegsparteien sprechen, dass ein gewaltiger Vermittlungsapparat aktiv und ein Funke Rationalität erkennbar ist. Die Kommandohierarchie der Hamas scheint intakt, die israelische Regierung empfänglich für politischen Druck zu sein."

Ein militärischer Sieg für Israel gegen die Hamas ist nicht möglich, glaubt Matti Steinberg, langjähriger Berater des israelischen Geheimdienstes, im Tagesspiegel-Interview. Ein Kampf könne die Terrororganisation bestenfalls schwächen, aber nicht zerschlagen. Dass die Angriffe der Hamas gerade jetzt stattfanden, habe auch mit dem Vorgehen der rechtsnationalistischen Regierung im Westjordanland zu tun, meint er: "Israels heutiger Finanzminister Bezalel Smotrich hat 2017 ... den sogenannten 'Decisive Plan' für den israelisch-palästinensischen Konflikt veröffentlicht. Smotrich formulierte ein Ziel: den Konflikt zu beenden, indem man alle Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen vertreibt, indem man bis zu einer Million Siedler ins Land holt, um den Konflikt auf diese Weise zu gewinnen. Heute ist Smotrichs Ministerium für die Siedlungen im Westjordanland zuständig und treibt diese Politik tatsächlich voran." Die einzige Möglichkeit, die Hamas loszuwerden, sei eine Lösung auf politischer Ebene, die unter anderem die Stärkung der palästinensischen Autonomiebehörde mit einschließen müsse. Denn nur ein kleiner Teil der Palästinenser unterstütze tatsächlich die fundamentalistischen Ziele der Hamas.

Für die Zeit hat sich Moritz von Uslar mit Natalie Amiri, ehemalige ARD-Korrespondentin in Teheran, zum Spaziergang getroffen. "Gäbe es morgen ein Referendum, 81 Prozent der Iranerinnen und Iraner entschieden sich gegen das Regime", sagt Amiri, sich auf Zahlen des niederländischen Gamaan-Instituts berufend. Sie erinnert sich auch an den Alltag in Teheran, "die ständigen Schikanen von Polizei und Geheimdienst, … sie wurde verhaftet, verhört, eingeschüchtert, bedroht. Aber Amiri erzählt auch von einer Kultur des abendlichen Beisammenseins, des Trinkens und Debattierens, die Partys in Teheran müssen sensationell gewesen sein: ... Nie habe sie eine besser ausgestattete Hausbar geführt als in den Teheraner Jahren ('Das wurde vom Besuch auch eingefordert'), für den Schnaps, in der Islamischen Republik Iran natürlich illegal, rief man eine Art Pizzaservice an, den Alkoholschmuggel über Landesgrenzen hinweg organisierten die Revolutionsgarden. Das Mimikry-Spiel mit dem Repressionsstaat - 'Während die Milizen die Satellitenschüssel vom Dach warfen, rief man schon bei seinem Dealer an und bestellte eine neue' - war, andersherum, als perfide Methode der Diktatur, vom Staat natürlich auch gewollt: Die Bevölkerung sollte mit den Banalitäten des Alltags beschäftigt werden, damit für die großen Fragen - Freiheit, Demokratie, Menschenrechte - vom Tag nichts übrig blieb."

Die iranische Bevölkerung will sich nicht mit der antiisraelischen Politik ihrer Regierung solidarisieren, hält Hamid Hosravi in der NZZ fest. Dass die Mullahs nur noch auf Machterhalt setzen ist kein Geheimnis, den breiten Rückhalt unter den Iranern und Iranerinnen haben sie schon lange verloren: "Das iranische Regime organisierte Kundgebungen, die Bevölkerung jedoch folgte dem Aufruf nicht. Die breiten Massen blieben fern. In Teheran versammelten sich lediglich ein paar tausend Regimetreue. Den anderen schien der gegenwärtige Konflikt ziemlich egal, man hat angesichts der desolaten Lage in Iran in der Regel Wichtigeres zu tun, als Solidarität mit den 'muslimischen Brüdern' zu üben. Die bitteren Erfahrungen mit dem eigenen 'Gottesstaat' hinterlassen ihre Spuren. Als kurz nach dem 7. Oktober bei einem Fussballspiel palästinensische Flaggen geschwungen wurden, skandierten die Zuschauer, das Regime solle sich die Flaggen doch sonst wohin stecken."
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Europa

Unter den Titeln "Historische Verantwortung wahrnehmen" und "Jüdisches Leben schützen" haben SPD, FDP und Grüne auf der einen Seite und die Unionsfraktionen auf der anderen Seite Entschließungsanträge mit jeweils rund 50 Forderungen an die Bundesregierung eingebracht, berichtet Tobias Timm auf ZeitOnline. Abseits der Öffentlichkeit haben Kulturschaffende und Wissenschaftler kritische Briefe an die Fraktionen geschrieben, darunter Eva Menasse, Omri Boehm, Aleida Assmann - und Meron Mendel, so Timm weiter: "'Mir scheint dieser Entschließungsantrag reiner Aktionismus zu sein', sagt etwa Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, im Gespräch mit ZeitOnline. ... 'Der Entwurf wirke viel zu schnell gestrickt, einzelne Interessengruppen hätten die extrem schlimme Situation durch den Terroranschlag der Hamas genutzt, um irgendwelche Einzelforderungen in dem Papier unterzubringen. Besonders problematisch findet Mendel die Forderung nach einer Verstärkung des BDS-Beschlusses vom Mai 2019. (…) 'Die Politik will zeigen, dass sie etwas macht. Dabei wäre ein verschärfter BDS-Beschluss ein großes Geschenk für die BDS-Anhänger' (...) 'Sie bekommen eine Bühne, sie bekommen Aufmerksamkeit und können sich als Märtyrer darstellen. Ein solcher Beschluss wird die Situation nur verschärfen, er spielt der Boykottbewegung in die Hände.'"

Was ihr wirklich Sorge mache, sagt Annalena Baerbock im Zeit-Gespräch, sei, "dass es uns international und auch bei uns in Deutschland zunehmend nicht mehr um die Menschen geht, sondern um Bekenntnisse. Entweder das Selbstverteidigungsrecht Israels oder das humanitäre Leid in Gaza. Beides ist aber Realität. Israel wird niemals in Sicherheit leben können, wenn der Terror nicht bekämpft wird. Und zugleich kann es nur Sicherheit für Israel geben, wenn auch die Palästinenser eine Zukunftsperspektive haben. Daher spreche ich in Ramallah über die bestialischen Verbrechen der Hamas, über die verschleppten israelischen Frauen und Kinder. Und in Israel darüber, wie sehr mich die palästinensischen Kinder umtreiben, die apathisch neben ihren toten Eltern sitzen und die keine Hilfe erreicht."

Er habe kein Verständnis dafür, dass Deutsche deren Großeltern nicht zur Tätergeneration gehören, ein anderes Verhältnis zur deutschen Schuld und Verantwortung gegenüber Israel haben, sagt Bundesjustizminister Marco Buschmann ebenfalls in der Zeit: "Es geht hier ja nicht um eine Erbsünde, die wir von unseren Vorfahren über die Blutlinie geerbt haben. Es geht darum, uns der Verantwortung für den Holocaust zu stellen, die mit diesem Land verbunden ist und aus der wir lernen müssen. Deutschland ist ein historisches Beispiel dafür, dass bestimmte Einstellungen in der staatlich organisierten, systematischen Vernichtung von Menschen im industriellen Maßstab enden können. Aus dieser Lernerfahrung ergibt sich für die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung: dafür zu sorgen, dass so etwas bei uns nie wieder geschehen kann und dass es möglichst nirgendwo wieder geschehen kann. Das ist ein normativer Anspruch: Deutscher sein soll bedeuten, aus der Geschichte gelernt zu haben. Wer der Meinung ist, dass ihn diese Lernerfahrung nichts angeht, der muss ja auch kein Deutscher werden."

Insgesamt ist die Kritik an Israels Politik seit dem Libanon-Konflikt in der deutschen Bevölkerung zurückgegangen, gegenläufig hat sich die Überzeugung verstärkt, dass Israel unsere besondere Unterstützung verdient, berichtet Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach in der FAZ: "2006 vertraten nur 22 Prozent diese Position, heute 32 Prozent. Das ist ein signifikanter Anstieg, aber gleichzeitig noch immer ein bemerkenswert geringer Anteil. Die große Mehrheit war zwar stets überzeugt, dass Deutschlands Beziehung zu Israel eine besondere sei und sein müsse. Nur eine Minderheit von 34 Prozent leitet daraus jedoch eine besondere Verantwortung für das Schicksal Israels ab. Das sind zwar mehr als 2006, aber dieser Wert befindet sich in der engen Bandbreite zwischen 28 und 35 Prozent, innerhalb derer er schon seit mehr als 30 Jahren schwankt."

Der französische Philosoph Pascal Bruckner zeichnet in der NZZ die Geschichte des Antisemitismus von links in Frankreich nach. Dieser habe eine lange Tradition, so Bruckner und bisher sei kein Ende in Sicht: "In Frankreich kann man derweil einen seltsamen Rollentausch beobachten: Einerseits scheint das Rassemblement national seinen klassischen Judenhass, das Erbe von Jean-Marie Le Pen, abgeschüttelt zu haben (obwohl Vorsicht geboten ist). Andererseits übernehmen die Ultralinke, La France insoumise, die Grünen und verschiedene Trotzkisten alle Klischees der alten Judenfeindlichkeit unter dem Vorwand, nicht in die Islamophobie verfallen zu wollen. Es ist ein Kampf mit umgekehrten Fronten. Der Grund dafür ist einfach und besteht aus zwei Argumenten: In Frankreich gibt es 500.000 Juden und 7 Millionen Muslime. Die Arithmetik gebietet es, sich auf die Seite der Mehrheit zu stellen, auch wenn man dabei einen Teil der islamistischen Argumentation übernimmt."

In der FAZ erläutert Gertrud Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, wie schwierig der Rückbau der Justizreform für die neue Parlamentsmehrheit in Polen wird: "Der Staatspräsident ist … nicht der einzige Vetospieler, welcher der von Donald Tusk angeführten Parteienkoalition Steine in den Weg legen kann. Da ist auch der Verfassungsgerichtshof. Das Gericht ist inzwischen ausschließlich mit Richtern besetzt, die seit der Machtübernahme der PiS im Jahr 2015 von der PiS-eigenen oder PiS-dominierten Parlamentsmehrheit gewählt wurden. Von einem Gericht in dieser Zusammensetzung ist unparteiische Rechtsprechung kaum zu erwarten; schon gar nicht, wenn es um die notwendige Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse in der polnischen Justiz und bei eben diesem Gericht selbst geht. Ein Blockademittel liegt darin, dass der Staatspräsident Gesetze an den Sejm zurückverweisen kann; dieser kann das darin liegende Veto des Präsidenten nur mit einer Dreifünftelmehrheit überwinden. So groß ist aber die neue Parlamentsmehrheit nicht."

"Wir alle stehen um Russlands Leichnam herum", sagt Viktor Jerofejew im Standard-Gespräch: "Für Russland ist der Ukrainekrieg das reinste Desaster: Er wird eine langanhaltende Isolation erzeugen. Wie lässt sich der Schlamassel auflösen? Russland und Ukraine sollten ihre Gesichtspunkte mit denjenigen von China und den USA abstimmen - schwierig, aber ich glaube, dass das nach wie vor möglich ist. Dieser Krieg ist auch für die Supermächte von Übel; aber sie allein besitzen aus eigener Machtvollkommenheit nicht die Möglichkeit, ihn zu beenden. Der Ukrainekrieg ist der noch gefährlichere. Die Ukraine ähnelt einer untreuen Frau, die vor ihrem Ehemann namens Russland davonläuft. Ein wirkliches Drama! Dagegen nimmt sich der Krieg zwischen Israelis und Arabern wie ein Konflikt um Territorialrechte aus. Die Ukraine und Russland müssen in irgendeiner Weise zu einer Übereinkunft finden. Natürlich nur in gewisser Weise, denn Russland ist der Aggressor. Die Ukraine muss danach ihren Weg nach Europa gehen."

Der Vater des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko wurde unter brutalen Umständen verhaftet, die belarussische Polizei sagte zu ihm: "Bedanken Sie sich bei Ihrem Sohn". Auf die Frage, ob er Schuldgefühle habe, erwidert Filipenko im Gespräch mit dem Tagesanzeiger: "Allein die Frage spielt der Diktatur in die Hände. Ich habe in meinem ganzen Leben nie ein Gesetz übertreten. Ich glaube, ich bin nicht mal bei Rot über die Straße gegangen. Ich habe nur Bücher und Theaterstücke geschrieben und als Journalist gearbeitet - das ist alles. Ich habe keinen Grund, mich schuldig zu fühlen, genau deswegen nehmen sie ja meinen Vater als Geisel. Die wollen, dass ich aufhöre zu schreiben und den Mund halte. Aber es wäre doch erst recht seltsam, gerade jetzt zu verstummen, wo mein Vater im Gefängnis sitzt. (...) Eine halbe Million Weissrussen können genau wie ich nicht nach Hause fahren. Über 50.000 Menschen haben Haft und Folter hinter sich. Zigtausende leben genau wie ich mit dem Wissen, dass ihre nahen Angehörigen in Geiselhaft sind."
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Medien

Sasha Filipenkos Vater wurde für das Teilen eines Links des Exilmediums Zerkalo verhaftet, schreibt in der FAZ der Historiker Felix Ackermann: "Infolge solcher physischer Verfolgung wegen der Verlinkung digitaler Inhalte löschen Millionen Menschen im östlichen Europa nachträglich ihre Fotos, Texte, Links und andere Informationen aus Instagram, Telegram und anderen Plattformen. (…) Wie nach der Niederschlagung der Proteste in Belarus im Herbst 2020 wird in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine die Fähigkeit, Elemente des eigenen digitalen Erzählens nachträglich zu löschen, existenziell bedeutsam. Die auf dem Mobiltelefon gespeicherten Daten sind nicht nur bei Rasterfahndungen in Minsk und Kontrollen an der EU-Außengrenze, sondern auch in russischen Filtrationslagern im Osten der Ukraine Grund für Festnahmen und Freilassung, Deportation oder Mord seitens staatlicher Akteure. Mitten in Europa dient Folter als Mittel, um an die Zugangsdaten zu Mobiltelefonen und Plattformen zu gelangen. Die Methoden digitaler Forensik ermöglichen es, auch mit großem zeitlichen Abstand die Spuren gelöschter Daten sichtbar zu machen."

Außerdem: Mehrere Journalistinnen und Journalisten des unabhängigen Mediums AbzasMedia wurden diese Woche vom Regime in Aserbaidschan festgenommen, berichtet Barbara Oertel in der taz: "Kritik an dem autoritären Regime Alijews, der in der Südkaukasusrepublik seit 2003 an der Macht ist, bleibt nicht folgenlos. Das bekommen vor allem Journalist*innen zu spüren. Zu den gängigen Repressionen gehören Mord, Festnahmen, Folter, Haftstrafen oder der erzwungene Gang ins Exil."
Archiv: Medien

Wissenschaft

Weder die Islamwissenschaften, noch die Jüdischen Studien beschäftigen sich mit antiisraelischem Hass in der arabischen und muslimischen Welt, konstatieren in der gestrigen FAZ die Nahostwissenschaftler Johannes Becke und Tom Würdemann. Und auch die Antisemitismusstudien fassen das Thema nicht an: "Auf verstörende Art und Weise werden hier weiter Grabenkämpfe der deutschen Linken ausgetragen, die auf die 1980er-Jahre zurückgeführt werden können: Im israelsolidarischen Flügel der Antisemitismus-Studien arbeitet man an der wissenschaftlichen Unterfütterung der international kaum beachteten Sonderthese, dass der nationalsozialistische Judenhass in große Teile der arabischen und islamischen Welt übertragen worden sei. In Anlehnung an die Faschisierungstheorie des Kommunistischen Bundes, der in der Bundesrepublik der Achtzigerjahre überall nur Faschismus sah, schaut dieser 'antideutsche' Flügel der Antisemitismus-Studien auf die islamische Welt und sieht auch hier überall nur eine islamisierte Version des Nationalsozialismus - allerdings fast immer ohne Quellen auf Persisch, Türkisch oder Arabisch zu rezipieren."
Archiv: Wissenschaft

Gesellschaft

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Missy-Magazin-Mitbegründerin Stefanie Lohaus hat mit "Stärker als Wut" ein Buch über die verschiedenen Positionen im Feminismus geschrieben. Es sei ein strukturelles Problem, dass intersektionale Feministinnen Jüdinnen und Juden wenig Rückhalt geben, sagt sie im taz-Gespräch: "Es ist ein kollektives Versagen. Dabei finde ich Intersektionalität ein gutes Konzept - es muss aber antisemitismuskritisch erweitert werden. Verstehen, wie Antisemitismus funktioniert und dass er sich eben spezifisch unterscheidet von Rassismus. (…) Es funktioniert gut als Anleitung, um Mehrfachdiskriminierungen zu erkennen und daraus Antidiskriminierungsmaßnahmen zu schaffen. Aber man sollte das Konzept nicht überhöhen. Es verhält sich ähnlich wie mit postkolonialen Theorien. Die haben uns enorm weitergebracht und einen Teil der Welt erklärt, aber wenn man überall nur noch Kolonien und Kolonisatoren sieht, macht das keinen Sinn."
Archiv: Gesellschaft