9punkt - Die Debattenrundschau

Verdächtig zugespitzt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2024. Correctiv zeigt auf, dass die AfD noch extremer rechts ist als sie selber zugibt. taz und Zeit werfen unterschiedliche Blicke auf die Antidiskriminierungsklausel des Berliner Kultursenators Joe Chialo, die eine kontra, die andere pro. Inzwischen kursiert gar ein "Strike Germany"-Aufruf, der wegen mangelnden israelbezogenen Antisemitismus' Deutschland boykottieren will. SZ und FAZ fragen, ob die postkoloniale Linke tatsächlich so dumm ist oder hier nur persifliert wird. Die SZ zeigt, welche Auswirkungen KI schon jetzt auf die Filmbranche hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.01.2024 finden Sie hier

Europa

Einen "Geheimplan gegen Deutschland" hat die Correctiv-Redaktion aufgedeckt. Die Redaktion berichtet von einem Treffen einiger maßgeblicher AfD-Politiker und -Finanziers mit offen rechtsextremen Figuren, namentlich dem Identitären Martin Sellner, in Potsdam. Thema war "Remigration", also die Rückführung missliebiger Ausländer, aber auch Deutscher in Ursprungsländer. Diese Idee, lernt man in dem Artikel der Autoren, ist in der oftmals zerstrittenen extremen Rechten konsensuell. Die AfD mag aus Angst vor Verboten betonen, dass sie auf dem Boden der Verfassung steht, so die Correctiv-Autoren: "Zumindest die dort vertretenen Politikerinnen und Politiker der AfD bekennen sich hier, unbeobachtet von außen, frei zu völkischen Idealen; es lassen sich keine wesentlichen Unterschiede zu den Positionen extremistischer rechter Ideologen feststellen." Und Sellners Position ist tatsächlich drastisch: "Eine Idee ist dabei auch ein 'Musterstaat' in Nordafrika. Sellner erklärt, in solch einem Gebiet könnten bis zu zwei Millionen Menschen leben. Dann habe man einen Ort, wo man Leute 'hinbewegen' könne. Dort gebe es die Möglichkeit für Ausbildungen und Sport. Und alle, die sich für Geflüchtete einsetzten, könnten auch dorthin." Nach einem Kafka-Leseabend will Correctiv die Recherche am Berliner Ensemble  enthüllen, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "In Form einer vom amtierenden Stadttheater-Innovator Kay Voges eingerichteten szenischen Lesung. Eintritt fünf Euro, dafür gibt es schon ein halbes Zeitungsabo."
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Geschichte

Israel, das gerade Opfer eines pogromartigen Verbrechens wurde, wird von Südafrika wegen seiner Kriegsführung in Gaza gegen die Urheber dieses Pogroms des Völkermords bezichtigt. Die Klage ist vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anhängig. Thomas Jansen erzählt in der FAZ die Geschichte der Völkermord-Konvention, die zur Entstehung des Gerichts führte. Geistiger Urheber der Konvention war Raphael Lemkin, der natürlich vor dem Hintergrund des Holocaust agierte. Jansen erzäht, wie er deutsche Politiker von seiner Idee überzeugen wollte: "Die Bundesregierung könne nach einem Beitritt die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa und die noch immer ausstehende Rückführung deutscher Kriegsgefangener aus der Sowjetunion als Völkermorde deklarieren, erklärte er 1953 in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Die rechtskonservative Deutsche Partei wollte daraufhin in einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen, wie es um den Beitritt stehe. In der Bundestagsdebatte über die Ratifizierung führten 1954 auch SPD, CDU und FDP die Vertreibung und den Schutz der deutschen Minderheiten in Osteuropa als Argument an - neben der moralischen Verantwortung Deutschlands."

Geschichtsklitterungen, die den Holocaust und seine viel beneidete Singularität in Anspruch nehmen, gibt es zuhauf, konstatiert Richard Herzinger in einem Aufsatz für die Zeitschrift Internationale Politik. Masha Gessen tut es. Putin tut es: "Im Zuge seiner faktischen Parteinahme für die massenmörderische Hamas und ihre iranischen Instrukteure hat Putin seine fiktionale Umschreibung der Geschichte nun auf die Spitze getrieben, indem er das abgeriegelte Gaza mit dem belagerten Leningrad im Zweiten Weltkrieg und damit Israels Verteidigungskrieg gegen die terroristische Hamas mit Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gleichsetzte. Bei anderer Gelegenheit prangerte er die 'Ausrottung der Zivilbevölkerung in Palästina, im Gazastreifen' durch Israel an - eine Praxis, die er selbst in der Ukraine betreibt und davor in Syrien betrieben hat."


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Eine Linke, die Israel von der Landkarte wischen will, ist nicht neu. Der Postkolonialismus steht in einer Linie mit dem sowjetischen Antizionismus und dem Antiimperialismus westlicher Linker. Welt-Autor Thomas Schmid liest den neu aufgelegten Band "Der neue Antisemitismus" mit fünfzig Jahre alten Texten von Jean Améry: "Mal bittend, mal in heiligem Zorn, hält er denen, die Israel ermahnen, entgegen, dass ihre Forderung einem Todesurteil für Israel gleichkäme. Was damals galt, gilt heute noch genauso: Die zahlenmäßig drückend überlegene arabische Welt will keinen fruchtbaren Modus Vivendi mit dem Judenstaat, sondern dessen Verschwinden, seine Vernichtung."
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Ideen

Die Politik hat die moralischen Lektionen des Postkolonialismus nicht genug verinnerlicht, findet der Historiker Jürgen Zimmerer, einer der Wortführer dieser Denkrichtung in Deutschland, in der Zeit. Fördergelder würden gestrichen, Bismarckdenkmäler wieder aufgebaut. "Das muss niemanden wirklich wundern, denn die national-affirmative Wende ist in vollem Gange. Es wächst der Widerstand gegen postkoloniale Theorie und Geschichtsforschung, im Bund und ebenso in den Ländern. Diese waren lange Zeit die Speerspitze der Aufarbeitung, jetzt aber wird auch dort gebremst und abgewickelt. In Erfurt läuft die Koordinierungsstelle 'Koloniales Erbe' aus, in Bremen vergaß die derzeitige Regierung ihr Wahlversprechen, ein koloniales Dokumentationszentrum einzurichten. Ein paar Bronzen zurückzugeben oder human remains, mag niemanden stören; nach grundsätzlichen - kolonialen - Strukturen zu fragen, dagegen schon."
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Urheberrecht

In der FAZ beschreibt Andrian Kreye, welche Auswirkungen KI schon jetzt auf die Filmbranche hat. Bildern und Szenarien werden immer häufiger automatisch generiert, beruhen aber oft auf älteren Filmen und verletzen damit eigentlich Urheberrechte, erklärt ihm der Konzeptkünstler und Illustrator Reid Southen, der u.a. die Matrix-Welt geschaffen hat. "'Für mich als Künstler ist das äußerst besorgniserregend. Seit etwa 18 Monaten gibt es immer weniger Arbeit, und viele Kollegen und Freunde haben mir das bestätigt. Viele Künstler, mit denen ich gesprochen habe, wurden entweder ermutigt, KI zu verwenden, haben KI-Bilder zur Verfügung gestellt bekommen, oder werden gebeten, ihre Preise zu senken.' Southen kennt aber auch Fälle, bei denen Leute während eines Projekts entlassen wurden, weil die Firma auf KI umstellte, und einigen wurde von ihren Stammkunden gesagt, dass sie jetzt KI verwenden und ihre Dienste nicht mehr benötigen. 'Unsere Arbeit ist in diesen Datensätzen enthalten, und es ist äußerst frustrierend, dass unsere Arbeit für diese Modelle geplündert und dann als billigere Dienstleistung weiterverkauft wird. Für weniger etablierte Künstler, Kunststudenten oder Menschen, die versuchen, in der Branche Fuß zu fassen und das zu tun, was sie lieben, ist das noch schwieriger.'"
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Gesellschaft

Die Affäre um die Harvard-Präsidentin Claudine Gay hat vor allem eins gezeigt: die amerikanischen Elite-Universitäten befinden sich im Niedergang, schreibt der Politologe Yascha Mounk, der selbst in Harvard lehrte oder lehrt, in der Zeit. Gay hatte sich nicht nur nicht gegen Antisemitismus an Harvard ausgesprochen, sondern auch noch in ihren wenigen akademischen Arbeiten plagiiert. Die Amerikaner zweifeln zusehends an diesen Universitäten, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld: "Und dann ist da noch die wachsende Wut breiter Kreise der Bevölkerung darüber, dass nicht ausschließlich Leistung den Weg in die Spitzenuniversitäten öffnet, sondern andere Kriterien. Latinos und Afroamerikaner etwa genießen bei den Zulassungsverfahren seit Jahren Vorteile. Die Kinder von Großspendern, Alumni und Uni-Angestellten ebenso. Für begabte Kinder aus anderen Familien bleibt weniger Platz. Gleichzeitig wird das Studium, selbst an weniger exklusiven Unis, stetig teurer. Lange haben es amerikanische Mittelschichtsfamilien hingenommen, dass sie schon mit der Geburt ihres Kindes beginnen müssen, fürs College zu sparen. Nun fragen sie sich, was sie für ihr Geld bekommen."
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Kulturpolitik

Der Berliner Kultursenator Joe Chialo will, dass Kulturprojekte eine Antidiskriminierungsklausel unterschreiben, bevor er sie fördert. Dagegen haben Hunderte Berliner Kulturschaffende in einem offenen Brief aufbegehrt, weil sie nicht gegen israelbezogenen Antisemitismus einstehen wollen, wie es Chialo unter Bezug auf die IHRA-Antisemitismusdefinition vorsieht (unser Resümees). Für Zeit-Autor Thomas E. Schmidt zeigt Chialos Beschluss vor allem, dass ein deutscher Konsens beim Thema Antisemitismus endgültig gebrochen ist: "Joe Chialo reagiert also auf eine verschärfte Lage, auf einen verfestigten, gleichsam institutionalisierten Judenhass, der sich in Teilen des Kulturbetriebs offen zeigt, aber auch im Universitätsbetrieb. Er reagiert auf das Desaster der Documenta 15, auf die Pro-Hamas-Proteste vor seiner Haustür und auf Einrichtungen wie das Neuköllner Oyoun-Zentrum. Revolutionär ist der Berliner Senatsbeschluss, weil es nun ein Bundesland ist, das der Kultur Regeln gibt, also jene staatliche Ebene, die für die Kultur wirklich verantwortlich ist."

Viele Kulturveranstalter sind gegen die Klausel, schreibt Uta Schleiermacher in der taz, und zitiert etwa die Konzertagentin Sonja Simmenauer, die von Chialo zu einer Diskussion über seine Klausel eingeladen worden war: "Für Simmenauer ist die Klausel selbst das Problem. Denn eine Selbstverpflichtung oder unterschriebene Erklärung beendet nicht antisemitisches Handeln und Denken. Man schreibe der Klausel aber 'offensichtlich magische Fähigkeiten' zu, als ob Diskriminierung allein davon verschwinden könnte, wenn jemand so eine Klausel unterschreibt. Ganz im Gegenteil: Indem der Senator eine Klausel präsentiert, an der sich nun viele abarbeiten, geraten wirklich wirksame Maßnahmen gegen Antisemitismus aus dem Blick. Dazu gehöre es auch, Dissens auszuhalten. Die Klausel sei 'ein Schlag gegen die Demokratie, ein beliebtes Instrument von Diktaturen und die Legitimierung von Denunziation', sagt Simmenauer."

"Strike Germany" heißt ein anonym verfasster Aufruf, der im Internet internationale Künstler auffordert, Deutschland zu boykottieren, weil es angeblich zu israelfreundlich sei. Der Jargon legt nahe, dass sich hier Deutsche austoben. Claudius Seidl fragt sich in der FAZ anlässlich einiger Details gar, ob das Ganze nicht in Wahrheit "eine anti-antisemitische Provokation" ist, "eine Aktion, welche die Israelfeinde dazu bringen möchte, sich selbst und ihre bizarren Meinungen zu offenbaren." Auch Peter Richter findet in der SZ die Argumentation so platt, dass er Satire vermutet: "Zwar ähneln Argumentation und Sprache ähnlichen Verlautbarungen aus dem Spektrum derer, für die 'Solidarität mit Palästina' oft nicht nur auf die Ablehnung israelischer Politik, sondern auf die Ablehnung Israels als Staat hinausläuft. Aber hier wirken sie mitunter fast verdächtig zugespitzt und simplifiziert. Dass 'Strike Germany' sich dem 'Befreiungskampf' verpflichtet fühlt, ist ein alter rhetorischer Standard. Dass die Versuche von Kulturinstitutionen, sich gegen Israelfeindlichkeit zu verwahren, als 'McCarthyismus' bezeichnet werden, ist inzwischen auch einer. ... Besonders bizarr in diesem Zusammenhang ist der Schriftzug 'STRIKE' über dem Porträt von Richard Wagner. Spätestens an dieser Stelle liegt der Verdacht von Comedy nahe, denn das einzige Land, das wirklich einen offiziellen Bann über Wagner verhängt hat, war nun einmal ausgerechnet der Staat Israel".

Die Erfinder von "Strike Germany" sind empört: Nein, sie scherzen nicht, versichern sie auf Twitter. Dumm ist wirklich dumm:

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