9punkt - Die Debattenrundschau

Postmoderne ohne Moderne

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2024. In der FAZ beschreibt Irina Rastorgujewa die Post-Realität in Russland, an der auch die kommenden "Wahlen" nichts ändern werden. Außerdem meldet die FAZ die annoncierte Schließung des Hamburger Institut für Sozialforschung 2028. In der SZ fordert der Historiker Norbert Frei auch von der AfD eine Ethik des Erinnerns ein. In Südafrika droht der ANC wegen seiner Korruption erstmals die Wahlen zu verlieren, dafür konnte in Guatemala die Zivilgesellschaft ihren Präsidenten gegen eine korrupte Oberschicht erfolgreich verteidigen, berichtet die taz. Auf Spon fragt die Präsidentin des Goethe-Instituts, Carola Lentz, ob Kultur wirklich demokratiefördernd sein muss, um gefördert zu werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2024 finden Sie hier

Kulturpolitik

Auf Spon kritisiert Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, die Antidiskriminierungsklausel, deren Unterzeichnung nach einem Beschluss des Berliner Kultursenators Joe Chialo Voraussetzung für Projektförderungen in Berlin werden soll - jedenfalls soweit sie die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Grundlage macht. Die ist ihr "viel zu vage" und von einem "moralischen Rigorismus" der die internationale Kulturarbeit in Deutschland und deutscher Instituge im Ausland gefährde. "Dass die Findungskommission für die kommende Documenta kollektiv zurückgetreten ist und offen gefragt wird, ob man in Deutschland überhaupt noch eine solche weltoffene Ausstellung organisieren kann, ist beunruhigend. In dieser polarisierten Situation scheint es mir wichtig, grundsätzlich über die Rolle von Kulturarbeit und Kulturaustausch im politischen Raum nachzudenken. ... Für Kulturarbeit im Inland jedenfalls kann die gesellschaftliche und politische Relevanz von Kunst, etwa im Sinne von 'Demokratieförderung', nicht erzwungen werden, denn es gelten die Grundrechte der Freiheit von Kunst und Wissenschaft." Würde Lentz das auch bei einer reinen Antirassismusklausel sagen?
Archiv: Kulturpolitik

Europa

In Russland bereitet Wladimir Putin gerade seine Wahlkampagne vor, oder eher seine "Wahlkampagne", denn "die Gegenkandidaten schaffen nur einen Hintergrund für Putin, einen Kontext, in dem er 80 Prozent der Wählerstimmen erhalten wird", meint die russische Journalistin und Dramaturgin Irina Rastorgujewa, die in der FAZ einen unbarmherzigen Blick auf ein Russland wirft, das nie in der Moderne angekommen sei, sondern in einer "Post-Realität" lebe, "in der das Symbol wichtiger ist als das Bezeichnete und die Form wichtiger als der Inhalt. Das ist die Postmoderne ohne Moderne - ein ewiges 'post'. Russland lebt darin seit der Zeit Peters des Großen, der versuchte, einen rückständigen Staat in die glorreiche europäische Familie zu pressen. Die Gesellschaft kopierte Rituale und Symbole des europäischen Lebens, erkannte aber nie, wozu. Von außen sah alles ungeheuer modern aus, im Innern herrschte Archaik und Widerstand gegen das unverständliche Neue. So war es auch bei der Modernisierung durch Industrialisierung der Sowjetunion unter Stalin, so war es mit der Modernisierung des postsowjetischen Russlands. Die Modernisierung scheiterte - alles kehrte zu Symbol und Ritual zurück. Selbst der russische Faschismus erweist sich als formal und rituell, er findet ohne Mobilisierung der Massen statt, es handelt sich um einen Zusammenhalt nur im Impuls des Hasses."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Das kommt überraschend: Das vor vierzig Jahren von Jan Philipp Reemtsma gegründete Hamburger Institut für Sozialforschung soll 2028 geschlossen werden und mit ihm der Verlag Hamburger Edition und die Zeitschrift Mittelweg 36, meldet Thomas Thiel in der FAZ. "Jan Philipp Reemtsma begründet die Entscheidung mit Altersgründen. Das bisherige Modell, bei dem sich die Rolle des Vorstands darauf beschränkte, den Etat zu besprechen und zu genehmigen, lasse sich für ihn nicht mehr fortsetzen." Warum keine Stiftung einsetzen, fragt Thiel, der die Schließung sehr bedauern würde: "Bis heute nimmt das Institut prägenden Einfluss auf fachliche und öffentliche Debatten und schafft es immer wieder, gesellschaftliche Entwicklungen vorzufühlen. Erwähnt sei nur die neu eingerichtete Forschungsgruppe zur 'Monetären Souveränität', welche die vernachlässigte politische Ökonomie wieder auf die sozialwissenschaftliche Agenda hebt und die anhaltenden Folgen der geldpolitisch unbewältigten Finanzkrise untersucht." Oder die Wehrmachtsausstellung, der in ihrer überarbeiteten Version "eine bleibende Revision des Wehrmachtbildes" gelang.

In der SZ blickt der Historiker Norbert Frei auf die Entstehung der "deutschen Erinnerungskultur" zurück. Diese sei heutzutage von der AfD wie den Postkolonialisten angegriffen, die die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit am liebsten beenden wollen. In solchen Forderungen schwingt für Frei "ein kaum verhohlener Antisemitismus mit, der sich in ähnlicher Weise auch bei manchen post-kolonialen Kritikern des deutschen Holocaust-Gedenkens zeigt: So etwa, wenn behauptet wird, die Deutschen entsprächen damit nur den Forderungen von 'amerikanischen, britischen und israelischen Eliten' und missachteten darüber die Erinnerung an andere Gruppen, die ihrem Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus zum Opfer gefallen seien. Niemand, der in Deutschland die Ethik des Erinnerns und die Verpflichtung auf die Menschenrechte ernst nimmt, wird behaupten, dass mit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit schon alle Aufgaben erfüllt sind, die sich den Deutschen im Blick auf ihre Geschichte stellen. Aber genauso klar muss sein, dass die Vergegenwärtigung dieses Teils unserer Geschichte nicht abgebrochen werden kann und muss, weil - völlig zu Recht - neue Perspektiven hinzukommen."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Der ehemalige Mossad-Mitarbeiter und Experte für Geldströme der Hamas Udi Levi fordert im SZ-Interview mit Meike Schreiber und Markus Zydra, alle Geldkanäle zur Hamas zu kappen - auch wenn das Sanktionen gegen das NATO-Mitglied Türkei bedeuten würde. "Wir müssen verstehen, dass das gleiche Geld, das heute an die Hamas geht, auch dafür genutzt werden kann, Terroranschläge in Europa zu verüben. Jetzt schaut die Welt auf Israel und die Hamas. Aber seid nicht überrascht, wenn es auch Anschläge in Deutschland geben wird, was ich natürlich nicht hoffe. Wir müssen den Fluss des Geldes dringend stoppen. Es ist eine Katastrophe, dass die Türkei und Katar weiter die Hamas unterstützen dürfen. Daher sollten alle westlichen Länder jetzt gemeinsam Druck auf die Türkei und Katar ausüben."

In Südafrika muss der ANC, der seit Ende der Apartheid das Land regiert, erstmals ernsthaft fürchten, die nächsten Wahlen zu verlieren, berichtet Tintswalo Baloyi in der taz. Neben wirtschaftlichen Problemen und Korruptionsvorwürfen ist der Streit zwischen der ANC-Führung um Präsident Cyril Ramaphosa und Expräsident Jacob Zuma, die sich gegenseitig Korruption vorwerfen, dafür verantwortlich. Letzterer hat sich jetzt "dem ehemaligen bewaffneten Flügel des ANC aus der Zeit des Befreiungskampfes 'uMkhonto we Sizwe' (MK - Speer der Nation)" angeschlossen und erinnerte bei einer Versammlung "an Ramaphosas eigene Korruptionsskandale. Bei einer Rede vor einer weiteren neuen Oppositionsgruppierung, der 2022 von Kirchenführern gegründeten 'All African Alliance Movement', stellte er die Integrität der kommenden Wahlen infrage. Der ANC schlug zurück, Generalsekretär Fikile Mbalula warf Zuma Verrat vor und erinnerte ihn an seine Farm, die er während seiner Zeit als Staatschef auf Staatskosten ausgebaut hatte. Damals habe der ANC Zuma gegen Vorwürfe verteidigt und sogar für ihn vor dem Parlament gelogen." Keine sehr kluge Argumentation in eigener Sache, findet Baloyi.

Auch in Guatemala ist Korruption ein Riesenproblem, berichtet Knut Henkel in der taz. Sie "frisst je nach Quelle bis zu 40 Prozent des Staatshaushaltes und de facto melkt eine Elite aus Politik, Militär und Wirtschaft den guatemaltekischen Staat seit Dekaden". Mit Bernardo Arévalo wurde letztes Jahr ein neuer Präsident gewählt, der der Korruption den Kampf angesagt hat. Der Versuch, ihn doch noch auszubooten, gelang nicht, freut sich Henkel, vor allem dank des Widerstands der indigenen Bevölkerung: "Nicht nur die Dauer, auch die Teilnahme so vieler mehrheitlich indigener Menschen an diesem Protestmarathon sind ein Novum in der guatemaltekischen Geschichte. Das ist neu in Guatemala und hat mit einem langsam, aber stetig steigenden Bildungsniveau in den indigenen Strukturen zu tun." Aber auch die massive internationale Unterstützung durch die OAS, USA und EU hat geholfen, die Übergabe der Macht an Arévalo zu sichern, meint Henkel, der hofft, dass diese Unterstützung anhält.
Archiv: Politik