9punkt - Die Debattenrundschau

Der geringe Grad an Protest

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2024. In Zeit online warnt Cory Doctorow vor einer "Verschlimmscheißerung" des Internets - aber es gibt Hoffnung. Ohje, jetzt gibt es nicht nur Künstliche Intelligenz, sondern auch "emotionale künstliche Intelligenz" - Kenza Ait Si Abbou erklärt in der FR, was das sein soll. Bernard-Henri Lévy prangert in seiner Kolumne die Kälte gegenüber Israel an. Der Figaro-Kolumnist Gilles William Goldnadel schildert den neuen Antisemitismus in Frankreich. In der FAZ erzählt Hubertus Knabe, mit welchem Aufwand Kolumbien sich mit sich selbst versöhnen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2024 finden Sie hier

Europa

Steffen Kailitz, Politikwissenschaftler am Institut für Totalitarismusforschung und Gutachter vor dem Bundesverfassungsgericht beim zweiten NPD-Verbotsverfahren, sieht die AfD zwar als gesichert rechtsextremistisch und glaubt auch, dass der Verfassungsschutz sie so einschätzen wird. Aber im Gespräch mit Gareth Joswig von der taz ist er skeptisch, was ein Verbot angeht. Er schlägt eine andere Maßnahme vor: "Die AfD lebt von staatlichen Geldern. Sie bekommt aufgrund ihres Wähleranteils viele Millionen Steuergeld. Wenn der Staat einerseits Programme gegen Rechtsextremismus, andererseits eine bald als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei finanziert, ist das paradox. Das wäre der Schritt, den man direkt nach der Einstufung als 'gesichert rechtsextrem' prüfen sollte: Sind die Voraussetzungen erfüllt, kann man der AfD die staatliche Parteienfinanzierung entziehen? Das würde sie massiv schwächen."

Judith Butler war nur eine Episode unter vielen in einer antisemitischen Stimmung, die in Frankreich um sich greift, schreibt Gilles William Goldnadel, Kolumnist beim Figaro. In Frankreich ist es inzwischen ganz normal, dass ein Aktivist in einer respektierten Sendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auftritt und den Gaza-Streifen (wie Masha Gessen!) mit dem Ghetto von Warschau vergleicht. "Da erstaunt es nicht, dass der Nationalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs, Fabien Roussel, diese Aussage aufgreift und vor einem 'Völkermord in Gaza' warnt. Eine Erklärung, die ein etwas melancholisch gestimmter Geist als beleidigend empfinden könnte, denn die polnischen Juden hatten sich zu Beginn der Feindseligkeiten, die in den Gaskammern endeten, nicht an deutschen Babys vergriffen. ... Noch schlimmer aber ist der geringe Grad an Protest und Widerstand gegen diesen neuen Antisemitismus, der von einer unerhörten und seit dem Holocaust unerreichten Gefährlichkeit ist."

Vom Butler-Gespräch, in dem sie die Hamas-Verbrechen als nicht antisemitisch und als Widerstand darstellt, waren im Netz bisher nur Ausschnitte zu sehen, weil die Veranstalter sich in vorauseilender Unterwerfung selbst zensiert hatten. Inzwischen steht das Video wieder zur Verfügung.
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Ideen

In der Welt kritisiert die Autorin Christine Brinck den erblichen Flüchtlingsstatus vieler Palästinenser. Ihre Zahl ist seit 1949 von 750.000 auf 5,7 Millionen heute angewachsen, obwohl die meisten von ihnen nie geflohen sind. Ihr Flüchtlingsstatus verhindert jede Entwicklung, meint Brinck und vergleicht die Situation mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: "Ich war mal Flüchtling, wie meine Vorfahren, aber für mich war, wie für die meisten, dieser Status eine Durchgangsstation. Millionen wollen vorwärts- und weiterkommen, dazugehören. Ohne die Erinnerung an die verlorene Heimat zu verweigern, wird ihnen mit jedem neuen Tag klarer, dass sie nicht zum Sehnsuchtsort taugt. Die Millionen wollten so schnell wie möglich die Selbstbestimmtheit erlangen. Lager schaffen Pathologien, es fehlen das Private, die Verantwortung und das Eigene. 75 Jahre Flüchtlings-Kultur wie bei den Palästinensern sind ungesund und unmenschlich. Das Leben stagniert, die Kinder fallen zurück. No future. Vergangenheit ist Selbstblockade."
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Digitalisierung

Buch in der Debatte

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Kenza Ait Si Abbou möchte mit ihrem Buch "Menschenversteher. Wie Emotionale Künstliche Intelligenz unseren Alltag erobert" gern die Ängste vor KI bekämpfen und die positiven Aspekte ihrer Nutzung hervorheben. Im Interview mit der FR klappt das allerdings nicht so gut. Da preist sie die neue "emotionale künstliche Intelligenz", die die Emotionen von Menschen ausliest und analysiert: "Wenn die Maschine in derselben Stimmungslage antwortet und so auf den Nutzer oder die Nutzerin eingehen kann, führt das dazu, dass sich die Menschen besser verstanden fühlen. Und das führt wiederum dazu, dass sie die KI mehr nutzen. ... Im Alltag begegnen wir bisher nur dieser Sentiment-Analyse, die anderen Möglichkeiten - Gesichtserkennung, Analyse von Mimik und Puls - gibt es bei uns im öffentlichen Leben bisher wenig. Wobei wir natürlich schon dabei sind, unseren Wearables viele Daten über uns zu übermitteln. ... Diese Art der Datenerhebung zu Marktforschungszwecken ist eine neue Entwicklung, und Emotionale KI wird sicher in der Zukunft eine noch wichtigere Rolle spielen."

Cory Doctorow, Blogger der ersten Stunde und Sonderberater der Electronic Frontier Foundation, warnt in einem sehr langen Text, den Zeit online von der Financial Times übernommen hat, vor einer "enshittification" (Verschlimmscheißerung) des Internets. Aber er sieht auch Licht am Horizont: Das Kartellrecht werde fast überall auf der Welt wieder ernster genommen und selbst in den USA könnte es bald ein Datenschutzgesetz (das letzte ist von 1988!) geben. Und Nutzer wie Werbekunden fangen an sich zu wehren. "Genau wie bei den Datenschutzgesetzen in den USA ist die potenzielle Koalition gegen die Verschlimmscheißerung riesig. Und unaufhaltsam. Die Zyniker unter Ihnen könnten skeptisch sein, ob sie viel erreichen wird. Ist Verschlimmscheißerung nicht letztlich einfach dasselbe wie 'Kapitalismus'? Also, nein. Ich werde jetzt kein Plädoyer für den Kapitalismus halten. Ich glaube nicht wirklich daran, dass Märkte die effizientesten Verteiler von Ressourcen und Schiedsrichter der Politik sind. Aber der Kapitalismus von vor 20 Jahren schuf Raum für ein wildes und verworrenes Internet, einen Raum, in dem Menschen mit missliebigen Ansichten zueinanderfinden, sich gegenseitig helfen und organisieren konnten. Der Kapitalismus von heute hat ein globales, digitales Geistereinkaufszentrum hervorgebracht, gefüllt mit Bot-Mist, minderwertigen Geräten von Unternehmen mit konsonantenlastigen Markennamen und Kryptowährungsbetrug. Das Internet ist nicht wichtiger als der Klimanotstand, Geschlechtergerechtigkeit, Gerechtigkeit für rassistisch diskriminierte Menschen, Völkermorde oder Ungleichheit. Doch ist das Internet das Feld, auf dem wir diese Kämpfe austragen können. Ohne ein freies, faires und offenes Internet sind sie verloren, bevor wir uns überhaupt ins Kampfgetümmel geworfen haben."
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Religion

Der Papst hat der Ukraine neulich vorgeschlagen, die weiße Fahne zu hissen und zu kapitulieren. Matthias Rüb beschreibt im Leitartikel der FAZ Franziskus' auch unter Diplomaten in der Kirche gefürchtetes Wüten im Porzellanladen: "Der Papst schlägt die Einladungen der politischen Führung und der Katholiken in der Ukraine hartnäckig aus, weil er nur dann nach Kiew reisen will, wenn er unmittelbar danach auch in Moskau empfangen wird. Dort wollen ihn aber weder Putin noch der orthodoxe Patriarch Kyrill treffen. Dem Papst sind die durch eine 'einseitige' Reise nach Kiew verletzten Gefühle der Täter offenbar mindestens so wichtig wie die Gefühle der Opfer, die ihn um ein Zeichen der sichtbaren Solidarität anflehen."

In der FAZ verteidgt Saba-Nur Cheema die Ramadan-Beleuchtung in deutschen Städten. Dabei attackiert sie auch Hamed Abdel-Samad, der die Lichterketten kritisierte (unser Resümee): "Wie in jeder Islam-Debatte fehlt auch jetzt der muslimische Kronzeuge nicht. In der NZZ stellt Hamed Abdel-Samad die These auf, das Sichtbarmachen des Islams im öffentlichen Raum würde zu einer Stärkung der Islamisten führen. Warum sollen Islamisten davon profitieren? Das ist genauso wahr wie der Gedanke, dass die Weihnachtsbeleuchtung christlich-fundamentalistische Evangelikale stärke." Cheema berät als Politologin das Innenministerium zu Muslimfeindlichkeit, ihren Bericht zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland musste das Bundesinnenministerium neulich zurückziehen (unser Resümee).
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Medien

Die EU-will gegen sogenannte Slapp-Klagen oder  SLAPPs (Strategic lawsuit against public participation) vorgehen. Dabei handelt es sich um teure Gerichtsverfahren, mit denen mächtige Akteure wie Oligarchen oder Hohenzollern gegen missliebige Journalisten vorgehen. Der Medienwissenschaftler Uwe Krüger, mit dem Livio Koppe für seinen taz-Artikel spricht, hätte aber lieber eine Solidarisierung: "Was diese Solidarisierung angeht, ist die Medienbranche jedoch noch nicht so weit. Krüger spricht von einem vorherrschenden 'Einsamer-Wolf-Denken'. 'Viele sehen es als normal an, verklagt zu werden. Nach dem Motto: Gehört zum Business, das macht mir nichts aus, ich bin ein harter Hund.' Dabei sei es wichtig, sich zu vernetzen. Kleinere Medienhäuser und freie JournalistInnen können durch Einschüchterungsklagen viel leichter an den Rand des Ruins gedrängt werden."
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Stichwörter: Slapp-Klagen

Politik

Israel ist nicht nur von den Palästinensern, den Arabern, dem "globalen Süden", sondern auch der westlichen Linken einem Hass ausgesetzt, der sich in solcher Giftigkeit, trotz aller bitteren Erfahrungen, noch nie über dieses Land ergossen hat, konstatiert Bernard-Henri Lévy in seiner Kolumne. Und das nach der "sadischsten Terrorattacke aller Zeiten". Selbst von den Kanzleien der gemäßigten Länder werde das Land fallen gelassen. Es sei eine Verkettung von Diskursen und Reflexen, die fast schon zu einem Konsens führe, dass Israel "nicht mehr zu halten" und seine Existenz somit fragwürdig sei: "Angesichts dieser unendlich traurigen Anklagen, dieses unerhörten Ausbruchs von politischem und digitalem Hass, dieser Massen ohne Gedächtnis, bei denen alles darauf hindeutet, dass das Pogrom vom 7. Oktober 2023 in ihren Augen zu einem Detail der Geschichte geworden ist, was kann man da noch hoffen?" Lévy gibt drei Antworten auf seine Frage: Er hofft, dass Tsahal weiterhin so gut wie möglich die Zivilisten schützt, dass Netanjahu gekippt wird und dass die Appelle endlich auch mal an die Hamas ergehen, die Geiseln freizulassen und zu kapitulieren.

Haiti dürfte inzwischen vollends als Failed State bezeichnet werden. Die Gangs stellen die Machtfrage. Präsident Ariel Henry traut sich nicht, von einer Auslandsreis zurückzukehren. Die internationale Gemeinschaft hat eine Mitverantwortung, sagt der Menschenrechtler Pierre Esperance aus Port-au-Prince im (Telefon-)Gespräch mit Katja Maurer von der taz. Die Lage ist verzweifelt: "Haiti ist vollständig kollabiert. Seit zehn Tagen sind alle staatlichen Institutionen geschlossen. Es gibt keine Polizei auf den Straßen. Die Polizisten weigern sich Dienst zu tun, weil sie die Polizeiführung kritisieren, die nichts zum Schutz der diensthabenden Polizisten unternimmt. Die haitianische Bevölkerung ist völlig ihrem Schicksal überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles kontrollieren. Der Staat existiert nicht mehr. Wir befinden uns alle in Gefahr."

Im jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Kolumbien zwischen allen möglichen linken und rechten Milizen, Guerillakämpfern und der Armee unter aufmerksamer Beteiligung der Amerikaner, Russen und Kubaner kamen mehr als eine Million Menschen ums Leben. Inzwischen kümmert sich eine gigantische, aber nicht unumstrittene Bürokratie um die Versöhnung, etwa die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP), berichtet Hubertus Knabe in der FAZ: "Mit 1.500 Mitarbeitern und 25 Außenstellen sollen 38 gewählte Richter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, die gemäß Völkerstrafrecht nicht amnestierbar sind. Massenmörder, die sich dem Gericht stellen und ihre Verantwortung einräumen, dürften jedoch in der Regel mit Wiedergutmachungsarbeiten davonkommen. Nur wer seine Schuld bestreitet, kann mit bis zu zwanzig Jahren Haft bestraft werden."
Archiv: Politik